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Geschlechtertheoretische Perspektiven auf Arbeit und Organisation

Ingrid Artus / Nadja Bennewitz / Annette Henninger / Judith Holland / Stefan Kerber-Clasen (Hrsg.), Arbeitskämpfe sind Geschlechterkämpfe. Sozialwissenschaftliche und historische Perspektiven. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2020. 365 S., kt. 35,00 € Heike Ehrig / DorisKrumpholz, Ressourcen von beruflich erfolgreichen Frauen: Eine qualitative Studie zu Frauen mit und ohne Behinderung Münster: Waxmann, 2022. 356 S., kt., 34,90 € Melanie Nussbaumer, Selbstverständlich – und doch umstritten: Wie sich Organisationen bezüglich Gleichstellung legitimieren. Zürich/Genf: Seismo, 2023. 300 S., eBook, 38,00 € Amanda Ruf, Geschlechter(un)gerechtigkeit in technischen Organisationen. Baden-Baden: Nomos, 2022. 347 S., kt., 74,00 €
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Veröffentlicht/Copyright: 29. Mai 2024
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Rezensierte Publikationen:

Ingrid Artus / Nadja Bennewitz / Annette Henninger / Judith Holland / Stefan Kerber-Clasen (Hrsg.), Arbeitskämpfe sind Geschlechterkämpfe. Sozialwissenschaftliche und historische Perspektiven. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2020. 365 S., kt. 35,00 €

Heike Ehrig / Doris Krumpholz, Ressourcen von beruflich erfolgreichen Frauen: Eine qualitative Studie zu Frauen mit und ohne Behinderung Münster: Waxmann, 2022. 356 S., kt., 34,90 €

Melanie Nussbaumer, Selbstverständlich – und doch umstritten: Wie sich Organisationen bezüglich Gleichstellung legitimieren. Zürich/Genf: Seismo, 2023. 300 S., eBook, 38,00 €

Amanda Ruf, Geschlechter(un)gerechtigkeit in technischen Organisationen. Baden-Baden: Nomos, 2022. 347 S., kt., 74,00 €


Schlüsselwörter: Arbeit; Organisation; Geschlecht

Geschlecht, Arbeit und Organisation als ein eigenwilliges Forschungsfeld

Anfang der 1980er Jahre begann die Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung in der Wissenschaft. Mehr als 40 Jahre Frauen- und Geschlechterforschung haben viel an den Hochschulen bewegt, aber mitunter doch weniger erreicht als erhofft und weniger als nötig wäre (Wissenschaftsrat, 2023) – auch in der Soziologie. Die erste Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung wurde 1987 eingerichtet (Brand & Sabisch, 2017). Inzwischen bildet Geschlecht zwar eine zentrale Kategorie der Soziologie, ja, ist sogar in Form der Geschlechtersoziologie institutionalisiert und fristet trotzdem – oder vielleicht sollte man sagen, gerade deswegen – ein merkwürdiges Schattendasein innerhalb der diversen soziologischen Teilgebiete. Hin und wieder scheint es fast, als würden die soziologischen Subdisziplinen sich für Geschlecht nicht zuständig sehen (gemäß dem Motto: mehr als eine Kategorie geht nicht) und können dabei vermeintlich ganz legitim auf die eigens dafür designierte Geschlechterforschung verweisen. Im Zuge dieser „Abschottungspolitik“ (Funder, 2019, S. 7) wird die Geschlechtersoziologie für Geschlecht zuständig erklärt, widmet sich die Arbeitssoziologie der Arbeit (und meint damit gewöhnlich die industrielle Erwerbsarbeit) oder die Organisationssoziologie den besagten Organisationen (und meint damit meist Unternehmen).

Nun macht die gesellschaftliche Realität dieser innerdisziplinären Arbeitsteilung allerdings einen Strich durch die Rechnung. Denn: Geschlecht ist – als Strukturkategorie (Aulenbacher, 2008) – alltagsweltlich und allgegenwärtig eng mit anderen sozialen Kategorien verwoben. Deutlich wird dies unter anderem an der gesellschaftlichen Organisation von (Erwerbs-)Arbeit, die sich, so das zentrale Argument feministischer Gesellschaftstheorie, ohne Berücksichtigung der meist von Frauen übernommenen unbezahlten Arbeit in Familie und Haushalt, der Bedeutungszunahme weiblich konnotierter Dienstleistungsarbeit sowie der Vergeschlechtlichung von Berufen und Tätigkeiten kaum angemessen verstehen und erklären lässt (vgl. dazu auch Becker et al., 2020).

Nicht einsichtig scheint es daher, wenn ‚Geschlecht‘ quasi reflexhaft und ausschließlich an die Frauen- und Geschlechterforschung delegiert wird. Damit möchte ich keineswegs unterschlagen, dass es durchaus eine ganze Reihe an Forscher:innen gibt, die sich sowohl mit Geschlecht wie auch mit Arbeit und Organisation befassen und sich damit an den Schnittstellen der unterschiedlichen soziologischen Teilbereiche bewegen. Aktuelle Beispiele dafür finden sich in den im Folgenden besprochenen vier Publikationen, die ich mir unter dem Aspekt der benannten Rezeptionssperren genauer angeschaut habe:

Der Sammelband stellt nicht weniger als den Versuch einer Vermittlung zwischen Geschlechtersoziologie auf der einen und der Arbeits- und Industriesoziologie auf der anderen Seite dar. Die drei Monographien lassen sich an der Schnittstelle von Geschlechter- und Organisationssoziologie verorten. Nun bilden die Arbeits- und Industriesoziologie sowie die Organisationssoziologie nicht nur voneinander getrennte Spezialgebiete der Soziologie, sie weisen auch jeweils unterschiedliche Theorietraditionen und Forschungsperspektiven auf. Da aber auch die Trennung zwischen Arbeit und Organisation eher der Binnendifferenzierung und der Notwendigkeit einer konkreten und möglichst eindeutigen Zuordnung, nicht aber einer realen Unverbundenheit geschuldet ist, werde ich die unterschiedlich zu verortenden Publikationen hier gemeinsam besprechen.

Sammelbände als Orte kritischer Selbstverständigung

Da sich die Institutionalisierung der subdisziplinären soziologischen Teilbereiche auch in entsprechend thematisch voneinander abgegrenzten Zeitschriften niederschlägt, kommt Sammelbänden eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu: Sie dienen der Vernetzung und dem Austausch der Wissenschaftler:innen in dem eher schwach institutionalisierten Forschungsfeld „Geschlecht, Arbeit, Organisation“ und verhelfen diesem damit zugleich zu mehr Sichtbarkeit. Nicht umsonst gibt es seit mehreren Jahren diverse Buchreihen im Themenfeld: Beim Beltz Juventa Verlag erscheint die von Brigitte Aulenbacher und Birgit Riegraf herausgegebene Buchreihe „Arbeitsgesellschaft im Wandel“. Im Verlag Westfälisches Dampfboot erscheint die Buchreihe „Arbeit – Demokratie – Geschlecht“, die von Diana Auth, Lena Correll, Stefanie Janczyk, Tina Jung, Ingrid Kurz-Scherf, Julia Lepperhoff, Clarissa Rudolph und Alexandra Scheele herausgegeben wird. Im Nomos Verlag erscheint außerdem die Buchreihe „Arbeit, Organisation und Diversität in Wirtschaft und Gesellschaft. Schriftenreihe zur Geschlechter- und Diversitätsforschung“, herausgegeben von Maria Funder, Daniela Rastetter und Sylvia M. Wilz. Das Attraktive an Sammelbänden ist darüber hinaus, dass sie besondere Freiheiten versprechen: Sie bieten Raum für ungewöhnliche Formate wie essayistische und theoretische Überlegungen, für ein weites inhaltliches Ausholen sowie für innovative empirische Themen und neue methodische Ansätze. Das spiegelt sich auch in dem hier besprochenen Band:

Der Sammelband „Arbeitskämpfe sind Geschlechterkämpfe“ ist in der Buchreihe „Arbeit – Demokratie – Geschlecht“ erschienen und das Ergebnis zweier Konferenzen, die 2015 zum Thema „Geschlechterperspektiven auf Gewerkschaften“ und 2016 um Thema „Arbeitskonflikte und Gender“ stattfanden. Ziel der Herausgeber:-innen Ingrid Artus, Nadja Bennewitz, Annette Henninger, Judith Holland und Stefan Kerber-Clasen ist es, der ‚Geschlechtsblindheit‘ weiter Teile der Industrielle-Beziehungen-Forschung etwas entgegensetzen und den Blick auf den Zusammenhang von Arbeitskonflikten und Gender zu richten. Denn, so lautet die programmatische Ansage, „Arbeitskonflikte sind und waren Geschlechterkämpfe“ (Artus et al., S. 13). Es geht den Herausgeber:innen dabei nicht nur um „Frauen*Kämpfe“ und „Frauen*Strukturen“, sondern auch um Gleichstellungspolitik in Gewerkschaften, geschlechtsspezifische Arbeitsbedingungen, gewerkschaftliche Androzentrismen sowie ganz grundsätzlich die Frage nach den Möglichkeiten der Emanzipation (Artus et al., S. 12). Die insgesamt 19 Artikel des Sammelbands sind in vier Kategorien gegliedert, die zugleich die thematischen Schwerpunkte der Auseinandersetzungen markieren:

Der erste Abschnitt widmet sich theoretischen Perspektiven. Notz, Dribbusch, Artus und Kurz-Scherf dekonstruieren in ihren Beiträgen die Androzentrik gängiger Streik-Definitionen, die zur Unsichtbarmachung und ‚Vergessen‘ von Frauenstreiks oder auch Streiks beigetragen haben. So sei beispielsweise bereits die Zeile aus dem bekanntesten deutschen Arbeiterkampflied „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will“ androzentrisch, weil das männliche Ideal eines muskulösen Industriearbeiters adressiert (es lohnt sich die ausführliche Interpretation an dieser Stelle zu lesen, die ich hier stark verkürze, vgl. Artus et al., S. 76) und Streik würde nach wie vor mit männlichen Attributen assoziiert („Macht, Militanz, Stärke, Solidarität, Gewerkschaften, Öffentlichkeit“, vgl. Artus et al., S. 90). Notz unterscheidet verschiedene Streikformen, darunter Streiks, die hauptsächlich von Frauen ausgelöst und getragen wurden, ‚reinen‘ Frauenstreiks, Streiks, bei denen streikende Männer durch Frauen unterstützt wurden und Frauenstreiks, denen ein „erweiterter Streikbegriff“ (Artus et al, S. 29) zugrunde liegt und illustriert diese auf anregende und in flüssig zu lesender Weise anhand verschiedener historischer Ereignisse.

Im zweiten Abschnitt stehen „(zeit)historische Arbeitskonflikte aus Geschlechtersicht“ im Fokus, es handelt sich um eine historische Aufarbeitung der beruflichen Gestaltungsspielräume, die berufstätige Frauen zu unterschiedlichen Zeiten (frühe Neuzeit, Anfang des 20. Jh., Nationalsozialismus, linkssozialistische Frauengruppen der 1970er Jahre, DDR) und in verschiedenen, sowohl typisch weiblich konnotierten, wie auch männlich konnotierten Berufen offenstanden. Die Leser:innen erwartet hier eine reichhaltige Fülle an Beispielen für die unterschiedlichen Formen, in denen Frauen in Streiks eingebunden waren.

Um die „Arbeitskonflikte und Organisierung in Dienstleistungs- und Sorgeberufen“ geht es im dritten Abschnitt. Die Artikel wenden sich gegenwartsaktuellen Arbeitskämpfen und Streiks in den weiblichen konnotierten und von Frauen dominieren Arbeitsbereichen zu (Alten- und Krankenpflege, Kindererziehung, bezahlte Hausarbeit, Dienstleistungsarbeit, Sekretariatsarbeit). Der letzte und mit nur drei Beiträgen deutlich kürzeste Abschnitt widmet sich schließlich der „feminisierten Interessenvertretung in androzentrischen Organisationen“, gemeint ist die „Gender-Kluft“ in Gewerkschaften (Ideler in Artus et al, S. 324) wie ver.di, der IG Metall oder auch Gewerkschaften in Indien.

Ziel des Sammelbands ist es – ganz im Sinne der historischen Frauenforschung –, Frauen überhaupt sichtbar zu machen, was vor allem die Arbeit mit archivalischen Quellen umfasst. Relevant sind diese Einblicke, weil sie die eklatante Forschungslücke in den Arbeits- und Industriesoziologie empirisch füllen. Zudem regen sie dazu an, die Begriffe Streik und Arbeitskampf im Hinblick auf einen Geschlechterbias kritisch zu reflektieren: Zwar zeigen sich Frauen auch kämpferisch, sie verfügen aber meist über weniger Ressourcen (z. B. Zeit, soziale Netzwerke) und wenn sie streiken, beeinflusst dies in der Regel auch das Privatleben, in dem nach wie vor allem Frauen für die Reproduktionsarbeit zuständig sind (Artus in Artus et al, S. 88). Nicht zuletzt ist die öffentliche Inszenierung ihrer Arbeitskämpfe eng mit gesellschaftlichen Weiblichkeitsnormen verknüpft, die Frauen einerseits strategisch für sich nutzen (z. B. auf Töpfe schlagen, Blumen verteilen), die andererseits aber auch zu ihrer Stigmatisierung und zu einer geringeren Ernstnahme beitragen (demnach sind kämpferische Frauen entweder „verrückt, irrational, hysterisch, pervers, verführt“ oder freundlich, schwach und harmlos, vgl. Artus in Artus et al., S. 91). Die Artikel sind nachvollziehbar aufgebaut und sprachlich klar formuliert. Schön sind auch die Querweise zwischen den Texten; so greift beispielsweise Kurz-Scherf die Thesen von Artus kritisch auf und lässt die Leser:innen auf diese Weise teilhaben an den intensiven Debatten, die dem Buch vorausgegangen sind. Dieses über 370 Seiten starke Buch ist nicht weniger als ein Kompendium sozialwissenschaftlicher und historischer Perspektiven auf ein bislang zu wenig beachtetes Thema, das gut in der Lehre zu nutzen sein wird.

Monographien im Spannungsverhältnis unterschiedlicher Theorie- und Forschungstraditionen

Ebenfalls an der Schnittstelle unterschiedlicher Forschungstraditionen bewegen sich die drei Monographien, wobei der Fokus hier auf der Vermittlung zwischen der Organisations- und der Geschlechterforschung liegt. In der Organisationssoziologie, insbesondere der deutschsprachigen, bildet Geschlecht bislang meist eine Leerstelle (die üblichen Einführungen in die Organisationssoziologie erwähnen geschlechtertheoretische Perspektiven erst gar nicht, vgl. Funder et al., 2023). Die Besonderheit der Vermittlung zwischen diesen zwei Forschungsfeldern steht zudem vor der zusätzlichen Herausforderung, dass die Organisationsforschung an sich stark interdisziplinär ist und neben der Soziologie auch durch die Wirtschaftswissenschaften, die Organisationspsychologie und die Management Studies geprägt ist, was unterschiedliche Vorstellungen vom Theorie-Praxisverhältnis, dem Theorieeinsatz und den Methodendesigns bedeuten kann.

Gemeinsamer Ausgangspunkt aller drei Bücher ist die anhaltende Geschlechterungleichheit in Organisationen, die sich unter anderem an der Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern, der Unterrepräsentanz von Frauen in Führungspositionen, der Geschlechtersegregation auf dem Arbeitsmarkt und in Organisationen sowie daran zeigt, dass Geschlechtergleichstellung selten ein intrinsisch verfolgtes Ziel von Organisationen ist. Es handelt sich um empirisch angelegte Studien und jedes der drei Bücher fokussiert jeweils einen der genannten Aspekte.

Melanie Nussbaumers Buch ist ihre Dissertation und bei Seismo, einem Schweizerischen Verlag für sozialwissenschaftliche Sach- und Fachbücher, erschienen. Sie wirft die Frage auf, inwiefern Organisationen – aufgrund gesellschaftlichen Wandels – einen Gleichstellungsdruck wahrnehmen und wie sie ihr diesbezügliches Handeln oder Nicht-Handeln legitimieren. Theoretisch fundiert ist die Fragestellung durch den soziologischen Neo-Institutionalismus, der, weil selbst geschlechtsblind, bereits seit einigen Jahren geschlechtertheoretisch erweitert wurde. An diese feministischen Erweiterungen knüpft Nussbaumer an, wenn sie annimmt, dass Organisationen in Geschlechterverhältnisse eingebettet und auf vergeschlechtlichte Umwelterwartungen reagieren müssen, um im Feld zu überleben. Im Fokus steht die Frage, auf welche organisationsinternen und -externen Legitimationsquellen sich Organisationen beziehen, um sich bezüglich ihrer Haltung zu Gleichstellung zu legitimieren.

Die qualitativ angelegte Arbeit geht dieser Frage am Beispiel von vier Schweizer Organisationen nach: ein Industrieunternehmen (Profit), ein Dienstleistungsunternehmen (Profit), eine Umweltschutzorganisation (Nonprofit) sowie ein Hilfswerk (Nonprofit). Die Fallstudien umfassen ein breites und innerhalb von Organisationsfallstudien bewährtes methodisches Arsenal: Zum Einsatz kommen Expert:-inneninterviews, Gruppendiskussionen, strukturierte Onlineumfrage und Dokumentenanalysen. Detailliert beschreibt Nussbaumer ihr methodologisches Vorgehen und die im Laufe der Arbeit entstehenden selbstkritischen Überlegungen und bietet damit Einblick in die unplanbaren Unabwägbarkeiten eines jeden qualitativen Forschungsprozesses. So präzisiert und verfeinert sie beispielsweise im Laufe der Arbeit ihre Ausgangsfragestellung und fragt nicht nur nach den Legitimationen, sondern auch danach, was Organisationen überhaupt unter Gleichstellung verstehen (Nussbaumer, S. 231).

Die Ergebnisse zeigen, dass Geschlechtergleichstellung generell in den erforschten Organisationen als legitimes Thema betrachtet wird. Nussbaumer erklärt dies damit, dass Gleichstellung den Status einer „sozialen Norm“ erlangt habe (Nussbaumer, S. 158), zu der Organisationen sich auf irgendeine Weise bekennen müssen, um nicht moralisch sanktioniert zu werden. Die Organisationen assoziieren mit Gleichstellung die auch öffentlich bekannten Themen wie Lohngleichheit, Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, Vielfalt der Belegschaft, Frauen in Führungspositionen, gleichstellungssensible Organisationskultur und sexuelle Belästigung (Nussbaumer, S. 233). Unterschiede zwischen den Organisationsformen zeigen sich insbesondere bei dem profitorientierten und dem nichtprofitorientieren Organisationen: Während letztere Gleichstellung „sehr eng mit dem Kerngeschäft“ verknüpfen und ihre gesamte Existenz durch ihr Streben nach Gleichstellung legitimieren, gehöre Gleichstellung in den anderen Organisationen „zwar zu einem erstrebenswerten Ziel, aber die Legitimität der Organisation als Ganzes hängt nicht vom organisationalen Umgang mit Gleichstellung ab“ (Nussbaumer, S. 237).

Die Setzung von Gleichstellung als „Selbstverständlichkeit“ finde sich bei allen Organisationen, berge jedoch das Risiko, dass „Raum für Kritik und die Möglichkeit zum Hinterfragen der Organisation klein gehalten“ würde (Nussbaumer, S. 240) und konkrete Probleme bei der Zielerreichung gar nicht konkret angegangen würden, was wiederum verhindere tatsächlich passende Lösungen zu generieren. Insgesamt fehle es in den Organisationen an einer Operationalisierung und Präzisierung von Gleichstellungszielen, was „wiederum zu einer gewissen Beliebigkeit der Massnahmen“ führe und die Institutionalisierung von Geschlechtergleichstellungsmaßnahmen verhindere (Nussbaumer, S. 245). Für die Organisation selbst sei diese Unbestimmtheit jedoch in gewisser Weise funktional, da sie es erlaube, ohne kostenintensive und aufwendige strukturelle Veränderungen gesellschaftliche Legitimität zu erlangen.

Die Ergebnisse bestätigen, was auch andere Studien zu Geschlecht in Organisationen herausgefunden haben und sich kurz wie folgt zusammenfassen lässt: Rhetorisch durchaus modern, aber diskursiv vage, kaum systematisch operationalisiert, bleibt in Sachen Geschlechtergleichstellung in Organisationen im Grunde vieles beim Alten und Gleichstellung, sofern sie tatsächlich in Form von Maßnahmen erfolgt, gilt nach wie vor als Anliegen auf Aufgabe von Frauen (Nussbaumer, S. 250). Angesichts dieser, wie Nussbaumer selbst meint, ernüchternden Ergebnisse, stellt sich die Frage, wo zukünftig innovative Ergebnisse zu erwarten wären und es wäre schön gewesen, entsprechende Anregungen oder auch einen Forschungsausblick zu erhalten.

Das zweite Buch ist ebenfalls eine Dissertation, die in der Nomos-Buchreihe „Arbeit, Organisation und Diversität in Wirtschaft und Gesellschaft“ erschienen ist. Amanda Ruf widmet sich auf mehr als 320 Seiten „Geschlechter(un)gerechtigkeit in technischen Organisationen“. Sie verfolgt dabei mehrere Fragen: Zum einen geht es ihr darum, die unterschiedlichen Bedeutungen von Geschlecht und Gerechtigkeit in Organisationen zu rekonstruieren und zu analysieren, wie das gleichzeitige Nebeneinander von Geschlechtergerechtigkeiten und -ungerechtigkeiten „in der Praxis hergestellt“ wird und zum anderen will sie, den Einfluss von Geschlechter- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf die Zusammenarbeit im Unternehmensalltag erfassen (Ruf, S. 25).

Mit dem Begriff der Gerechtigkeit nimmt Ruf explizit Bezug auf Gerechtigkeitstheorien von Thomas von Aquin, Kant, Aristoteles, Platon, Rawls, Hobbes, Nussbaum und Mill und verknüpft diese im Theorieteil ausführlich mit Geschlecht. Darüber hinaus zählt sie eine Reihe von Gerechtigkeitsvorstellungen auf, die im Kontext von Organisationen bedeutsam werden können, darunter Tauschgerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit, Interaktionsgerechtigkeit oder auch Generationengerechtigkeit. Für die Analyse als besonders relevant erklärt sie die Prinzipien der Gleichheit, Leitung, Bedarf und Anrecht, da diese jeweils „die interaktive Praxis der Organisationen“ prägen (Ruf, S. 98). Bei der Definition möglicher Vorstellungen von Geschlechtergerechtigkeit unterscheidet sie in Anlehnung an Liebig den „männlichen Traditionalismus“, bei dem Geschlechtergleichstellung mit der Privilegierung von Frauen assoziiert wird, den „betrieblichen Kollektivismus“, bei dem Gleichstellung zum außerbetrieblichen Problem erklärt würde, den „normativen Individualismus“, bei dem Gleichstellung zur individuellen Angelegenheit wird und den „pragmatischen Utilitarismus“, welcher dem Betrieb eine Verantwortung für Gleichstellung einräumt (Ruf, S. 122).

Es handelt sich um einen sehr umfangreichen Theorieteil, der in weiten Teilen weitschweifig und eher deskriptiv gehalten ist, was es auch einem interessierten und mit ausreichend Vorwissen ausgestattetem Fachpublikum nicht immer leicht macht, den Überblick zu behalten, welche Konzepte jetzt tatsächlich leitend und entscheidend für die Analyse sind. Im organisationstheoretischen Sinne wesentlich erscheint die Feststellung, dass die „Kontextbedingungen entscheidend dafür“ seien, „welche Gerechtigkeitsauffassungen sich im Einzelnen bei organisationalen Akteur:innen herausbilden“ (Ruf, S. 89) und wie diese wiederum das organisationale Handeln beeinflussen (Ruf, S. 90).

Methodisch wählt Ruf einen sinnverstehenden, interpretativen Ansatz, bei dem es ihr darum geht, die subjektiven Wissensbestände der Organisationsmitglieder zu rekonstruieren (Ruf, S. 133). Zwischen 2015 und 2016 hat sie problemzentrierte Interviews mit 16 Führungskräften (zwölf Männer, vier Frauen) in zwei „technischen Unternehmen“ in Österreich geführt (Ruf, S. 182). Es handelt sich also um eine für die Umsetzung von gleichstellungspolitischen Maßnahmen maßgebliche soziale Gruppe in Organisationen. Leider findet sich jedoch keine genauere Beschreibung des Samples oder der Organisationen selbst, somit bleibt offen, was genau „technische Organisationen“ kennzeichnet oder auch, um welche Ebene der Führungskräfte, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Alter, Abteilung und ähnliches es sich handelt. Dies erscheint insofern als problematisch, da im Theorieteil die Bedeutung des organisationalen Kontextes betont wurde.

Besonders wichtig ist Ruf selbst, wie sie mehrfach hervorhebt, der zirkuläre Prozess der Erkenntnisschaffung, bei dem sie im Sinne der gewählten Methode der Grounded Theory zwischen „Erhebung und Reflexion“ wechselt (Ruf, S. 135) und den sie in längeren persönlich gehaltenen Passagen reflektiert (Ruf, S. 142–151, S. 176–181) und kritisch hinterfragt („habe ich da etwas falsch gemacht?“, vgl. Ruf, S. 177). Das Potential dieses durchaus innovativen und mutigen Forschungsansatzes im Kontext der Organisationssoziologie geht leider aufgrund der nicht stringenten Darstellung der Selbstreflexion etwas unter. Der Mehrwehrt dieses Forschungsansatzes wäre mit mehr Prägnanz, Kürzungen und einer Glättung des Forschungsprozesses im Sinne einer leseführenden Darstellung besser sichtbar geworden.

Der empirische Teil des Buches widmet sich der Darstellung des umfangreichen empirischen Forschungsmaterials und bildet damit den spannendsten Teil. Untergliedert in mehrere Unterkapitel, erfolgt die Darstellung der Ergebnisse entlang der im Theorieteil vorgestellten Kategorien. Die Ergebnisse zeigen, dass es ein Nebeneinander und eine Gleichzeitigkeit geschlechterdifferenter, geschlechtergleicher sowie dekonstruktivistischer Geschlechtervorstellungen in den Organisationen gibt. Diese Vorstellungen wirken sich jeweils unterschiedlich auf die weiteren Annahmen aus, die die Führungskräfte in Bezug auf vermeintlich männliches und weibliches Handeln, geschlechtsspezifische Kompetenzen und Qualifikationen sowie Tätigkeiten und Zuständigkeiten machen. Eines der interessantesten Ergebnisse ist, dass „dieselben organisationalen Voraussetzungen nach Auffassung der Interviewpartner_innen ... gleichermaßen für Geschlechtergerechtigkeit und Geschlechterungerechtigkeit im Betrieb“ sorgen können (Ruf, S. 238). Als Beispiel nennt Ruf unter anderem die Elternkarenz, die von den Befragten sowohl als gerecht wie als ungerecht empfunden wird – abhängig davon, welches Gerechtigkeitsverständnis sie anlegen, auf die Ruf in jeweils eigenen Kapiteln zu „Tauschgerechtigkeit“, „Verteilungsgerechtigkeit“, „Verfahrensgerechtigkeit“ und „Interaktionsgerechtigkeit“ eingeht (Ruf, S. 239).

Insgesamt handelt es sich um ausführliche Darstellungen einzelner, aus der Theorie entnommener Konzepte, die mit empirischem Material illustriert werden. Die Ergebnisse zeigen, dass es für die Definition und den Umgang mit Geschlechter(un)gleichheit entscheidend ist, welche Vorstellung von Gerechtigkeit von den Akteur:innen zur Anwendung kommt (Ruf, S. 312). Zwar sei der Bezug auf die unterschiedlichen Geschlechter- und Gerechtigkeitsvorstellungen kontingent, aber, so betont Ruf, doch auch nicht beliebig (Ruf, S. 314). Wovon nun entsprechende Bezugnahmen jedoch genau abhängen, bleibt auch aufgrund der fehlenden sozialen Verortung des Samples und der fehlenden Einbettung in einen organisationalen Kontext offen. An dieser Stelle hätte die Arbeit durch einen deutlicheren Bezug zur konkret untersuchten Organisation noch gewinnen können. Aber auch so verdeutlicht die Studie, wie subtil sich Geschlechterungleichheit in Organisationen reproduziert und mit Bezug auf gängige Gerechtigkeitsvorstellungen legitimiert wird.

Heike Ehrig und Doris Krumpholz widmen sich in ihrer Studie „Ressourcen von beruflich erfolgreichen Frauen“ einer spezifischen sozialen Gruppe in Organisationen, nämlich erwerbstätigen behinderten Frauen. Sie „verweisen darauf, dass 15,65 Prozent der Bevölkerung eine Behinderung haben und die Hälfte davon Frauen seien (Ehrig & Krumpholz, S. 21). Wenn man dabei nicht nur die Personen zählt, die dauerhaft und lebenslang behindert sind, sondern auch jene, die für einen begrenzten Zeitraum eine schwerwiegende körperliche, kognitive, sensorische oder psychische Beeinträchtigung aufweisen, erhöht sich die Zahl insgesamt noch mal auf 25 Prozent. Obwohl es sich in der Größe um eine durchaus bedeutsame soziale Gruppe handelt, gibt es zu dieser, wie Ehrig und Krumpholz zurecht betonen, bisher kaum Studien und die Autorinnen treten an, diese Lücke mit ihrem Buch zumindest partiell zu füllen.

Wichtig ist ihnen dabei, sich nicht auf die Hemmnisse, sondern auf die „Erfolgsfaktoren“ behinderter Frauen in der Erwerbsarbeit zu fokussieren, wobei sie die praktische Anwendbarkeit der Erkenntnisse in den Fokus rücken wollen. Mit ihrer Forschung möchten sie vor allem den Akteur:innen in der Praxis, d. h. Personalverantwortlichen, Gleichstellungsbeauftragten, Schwerbehindertenvertretungen, Diversitybeauftragten, Erwachsenenbildner:innen und Pädagog:innen sowie zuletzt auch den Betroffenen selbst Vorbild und Anregung für ihre Arbeit geben und die bisher ungenutzten Potentiale dieser Beschäftigtengruppe aufzeigen.

Indem die Studie berufstätige behinderte Frauen in den Blick nimmt, kommt sie dem vor allem aus intersektionalen Debatten stammenden Aufruf nach, die Differenzen innerhalb der sozialen Gruppe der Geschlechter stärker zu berücksichtigen und ist damit unbedingt zu begrüßen (Seeliger & Gruhlich, 2019). Derart intersektional angelegte Studien, die neben Geschlecht auch weitere soziale Kategorien einbeziehen (in diesem Fall Behinderung), stehen jedoch vor der nicht unbedeutenden Herausforderung neben den organisations- und geschlechtertheoretischen Forschungsständen auch vertiefte Einblicke und umfassende Kenntnis weiterer Forschungstraditionen zu besitzen (in diesem Fall aus den Disability Studies). Praktisch kann dies entweder zu sehr umfangreichen Forschungsstandsbeschreibungen oder aber im Gegenteil zu Verkürzungen führen. Im vorliegenden Fall bezieht sich der Forschungsstand vor allem auf die einschlägige und vor allem durch angloamerikanische Debatten geprägte feministische Organisationsforschung, die durch vereinzelte Hinweise auf empirische Befunde zu „Frauen mit Behinderung in der Erwerbsarbeit“ ergänzt werden – der Einblick in die Disability Studies hätte an dieser Stelle durchaus expliziter und die theoretische Verknüpfung von Geschlecht und Behinderung systematischer erfolgen können.

Methodisch folgt die Studie einem typischen und vielfach bewährten qualitativen Forschungsdesign, bei dem 14 leitfadengestützte problemzentrierte Interviews mit Frauen mit und ohne Behinderung geführt wurden. Erst auf Seite 302, also gegen Ende des Buches, wird jedoch einschränkend erwähnt, dass nur fünf der befragten Frauen tatsächlich eine Behinderung haben. Die geringe Anzahl behinderter Frauen im Sample (und die späte Erwähnung dieser Tatsache im Buch) irritiert und wirft Fragen nach der Aussagekraft der Ergebnisse auf – insbesondere da es den Autorinnen nicht um biographische Tiefenanalysen, sondern eine inhaltsanalytische Auswertung und das Sammeln von „Informationen“ geht (Ehrig & Krumpholz, S. 51). Methodisch wäre es durchaus legitim und vielleicht sogar ratsam gewesen, einen Vergleich der unterschiedlichen sozialen Gruppen vorzunehmen oder aber lediglich die benannten fünf Frauen mit Behinderung zu interviewen, sofern dieses entlang eines interpretativen Forschungsparadigmas erfolgt wäre (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2014). Aus methodologischer Perspektive zeigt die Studie darüber hinaus eine weitere nicht unbedeutende Problematik auf: Die Autorinnen schwanken zwischen einer offenen Haltung, bei der sie zunächst fragen, was Frauen mit Behinderung selbst als beruflichen Erfolg definieren (Ehrig & Krumpholz, S. 10), wählen dann aber Frauen für die Befragung aus, die sie selbst als „beruflich erfolgreich wahrgenommen haben“ (Ehrig & Krumpholz, S. 53). Eine Darstellung der zugrunde liegenden Definition von Erfolg sowie eine aussagekräftige Übersicht des Samples hätte geholfen, den Forschungsprozess an dieser Stelle besser nachzuvollziehen.

Im empirischen Hauptteil werden alle 14 befragten Frauen in Form von Einzelfällen ausführlich in jeweils eigenen Kapiteln beschrieben, was einen vertieften Einblick in ihre subjektiven Wahrnehmungen und beruflichen Vorstellungen von Karriere und Erfolg erlaubt. Angesprochen werden u. a. ihre aktuelle Lebenssituation, Selbsteinschätzung, beruflicher Werdegang, persönliche Ziele, Zufälle und Strategien, Bedeutung des Geschlechts und der Behinderung sowie ihre Handlungsempfehlungen. Die Ergebnisse verweisen auf deutliche Ähnlichkeiten in den Karrieremustern und auf die starke Bedeutung subjektiver Kriterien für die Definition von Erfolg: Angesichts der zahlreichen Barrieren für berufstätige Frauen mit Behinderung sind sie froh, „es geschafft zu haben“, d. h. überhaupt eine qualifizierte Ausbildung abgeschlossen und eine zufriedenstellende Anstellung erhalten zu haben sowie eine sinnstiftende Tätigkeit in einem wertschätzenden sozialen Umfeld ausüben zu können (Ehrig & Krumpholz, S. 279).

Das Buch schließt mit umfangreichen Empfehlungen für Politik, Gesellschaft, Organisationen und Individuen. Zu den Ratschlägen, die die befragten Frauen mit Behinderung selbst geben, gehört beispielsweise, sich konkrete Ziele zu setzen und diese mit Engagement, Frustrationstoleranz und Selbstbewusstsein zu verfolgen (Ehrig & Krumpholz, S. 326). Wichtig sei es dabei, sich von dem unerreichbaren androzentrischen Leistungsanspruch „nicht entmutigen zu lassen“ (Ehrig & Krumpholz, S. 338), sondern sich „solidarisch für die Rechte behinderter Menschen“ (Ehrig & Krumpholz, S. 338) einzusetzen und auch sich selbst Unterstützung durch soziale Netzwerke zu holen. Angesichts der strukturellen Verunmöglichung gleicher beruflicher Teilhabe und eines beruflichen Aufstiegs, umfasst die von den befragten Frauen angeführte Definition von „Erfolg“ vor allem subjektive Faktoren wie Spaß und Sinngebung sowie die Möglichkeit zur Selbstsorge („Rücksicht auf die eigene körperliche Verfassung zu nehmen“, vgl. Ehrig & Krumpholz, S. 339). Um die Arbeitssituation von Frauen mit Behinderung zu verbessern, wird an Arbeitgeber:innen der Appell gerichtet, die Stärken, insbesondere die „mentalen Stärken“ und „emotionalen Kompetenzen“ behinderter Frauen wahrzunehmen und wertzuschätzen (Ehrig & Krumpholz, S. 340). Anregend sind vor allem die am Ende benannten, differenzierten „Forschungsempfehlungen“ (Ehrig & Krumpholz, S. 341–342), die zeigen, es gibt durchaus noch einiges zu tun, um die Forschungslücke „berufstätige Frauen mit Behinderung“ zu schließen. Für den deutschsprachigen Raum gibt die Studie dazu einen wertvollen Anstoß.

In der Zusammenschau ist augenfällig, dass in den Publikationen, die sich im Feld von Geschlecht, Arbeit und Organisation verorten, nicht selten ein ‚Abarbeiten‘ an einem theoretischen und empirischen ‚Malestream‘ stattfindet, was verdeutlicht, dass die Geschlechterforschung immer noch gefordert ist, ihre Relevanz für den Mainstream der Arbeits- und Organisationssoziologie unter Beweis zu stellen.

Angesichts der ernüchternden Befunde zu fehlender Geschlechteregalität in Organisationen, die sich auch in anderen Studien zum Thema immer wieder finden lassen, schleicht sich beim Lesen ein gewisser Gewohnheitseffekt ein. Gibt es wirklich nichts Neues zu erwarten? Interessant und weiterführend könnte es sein, sich den theoretischen Fragen stärker zuzuwenden und die empirischen Gegenstände zu variieren, da die herkömmlichen Organisationsformen eben auch die altbekannten Ergebnisse zeitigen: Wo finden sich theoretisch innovative Ansätze, die beispielsweise Geschlecht stärker differenzieren und Vielfalt bzw. Diversität systematisch in die Organisationsanalyse aufnehmen (vgl. Funder et al., 2023)? Wie steht es in alternativen Organisationsformen wie z. B. Start-ups, Netzwerkorganisationen, demokratischen Organisationen, Organisationen mit Viertagewoche eigentlich um Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt? Zuletzt wäre zudem die Frage, ob es wirklich nötig ist, sich an den geschlechtsblinden Theorien der Organisationsforschung abzuarbeiten und Geschlechtertheorien lediglich als ‚Ergänzung‘ zu sehen, wo doch die feministische Organisationsforschung durchaus eigene Theorien anbietet (vgl. Müller et al., 2013).

Typisch für die Forschung zu Geschlecht, Arbeit und Organisation ist der kritische Geist: Es geht im Sinne von mehr Geschlechteregalität darum, androzentrische Bias sowie erkenntnistheoretische und empirische Leerstellen aufzuzeigen, Weiblichkeits- und Männlichkeitsvorstellungen zu dekonstruieren und den Erfahrungen von Frauen sowie der Bedeutung von Geschlecht Sichtbarkeit zukommen zu lassen. Dieses Vorhaben ist mit diesen Publikationen keineswegs abgeschlossen, aber an ihren Ideen, Debatten und Erkenntnissen lässt sich gut anknüpfen, um die Forschung zu Geschlecht, Arbeit und Organisation weiter voranzutreiben.

Literatur

Aulenbacher, B. (2008). Geschlecht als Strukturkategorie: Über den inneren Zusammenhang von moderner Gesellschaft und Geschlechterverhältnis. In S. M. Wilz (Hrsg.), Geschlechterdifferenzen – Geschlechterdifferenzierungen (S. 139–166). VS Verlag. https://doi.org/10.1007/978-3-531-90831-1_5.10.1007/978-3-531-90831-1_5Suche in Google Scholar

Becker, K.; Binner, K. & Décieux, F. (2020): Gespannte Arbeits- und Geschlechterverhältnisse im Marktkapitalismus. Springer VS.10.1007/978-3-658-22315-1Suche in Google Scholar

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Funder, M. (2019). Arbeit, Organisation, Geschlecht. Reflexionen zu disziplinären Grenzziehungen und ihrer Überwindung. Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018. In N. Burzan (Hrsg.), Komplexe Dynamiken globaler und lokaler Entwicklungen. Verhandlungen des 39. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Göttingen 2018.https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2018/article/view/1084.Suche in Google Scholar

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Online erschienen: 2024-05-29
Erschienen im Druck: 2024-05-28

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Ist das Konzept ‚Zivilisation‘ eine Universalie?
  6. Über die schwankenden Schichten der Zivilisation balancieren
  7. Themenessay
  8. Bedingungsloses Grundeinkommen: Gnostische Fiktion oder pragmatisches Mittel der Sozialstaatsreform?
  9. Essay
  10. Relation und Kohärenz
  11. Sammelbesprechung
  12. Geschlechtertheoretische Perspektiven auf Arbeit und Organisation
  13. Choreographien des Familie-Machens jenseits der Pluralisierungsdebatte. Sammelrezension: Soziologie der Familien- und Lebensformen
  14. Doppelbesprechung
  15. Stadtgesellschaften gestalten
  16. Einzelbesprechung Digitaler Wandel
  17. Georg Glasze / Eva Odzuck / Ronald Staples (Hrsg.), Was heißt digitale Souveränität? Diskurse, Praktiken und Voraussetzungen »individueller« und »staatlicher Souveränität« im digitalen Zeitalter. Bielefeld: transcript 2022, 322 S., kt., 35,00 €
  18. Einzelbesprechung Fachkulturforschung
  19. Anno Eßer, Studentische Fachkulturen: Lebensstile und politische Dispositionen. Eine Untersuchung der Studienfächer Rechtswissenschaft, VWL, BWL, Sozialwissenschaften, Philosophie, Mathematik und Biologie. Opladen, Berlin & Toronto: Barbara Budrich 2023, 228 S., kt., 34,00 €
  20. Einzelbesprechung Gesellschaftsanalyse
  21. Howard Becker, Erzählen über Gesellschaft. Eingeleitet und herausgegeben von Reiner Keller. Wiesbaden: Springer VS 2019, 324 S., eBook, 49,99 €
  22. Einzelbesprechung Ideen- und Sozialgeschichte
  23. Alexandra Schauer, Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Berlin: Suhrkamp 2023, 704 S., kt., 35,00 €
  24. Einzelbesprechung Gattungsanalyse
  25. Jörg Bergmann, Klatsch. Zur Sozialform der diskreten Indiskretion. 2. Auflage. Berlin/Boston: de Gruyter 2022, 235 S., 25,95 €
  26. Einzelbesprechung Medientheorie
  27. Talcott Parsons, Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien, herausgegeben von Helmut Staubacher und Paul Reichacher. Wiesbaden: Springer 2023, S. 193, kt., 29,99 €
  28. Einzelbesprechung Politische Soziologie
  29. Sebastian Büttner / Thomas Laux (Hrsg.), Umstrittene Expertise: Zur Wissensproblematik der Politik (Sonderband Leviathan). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 494 S., kt., 99,00 €
  30. Einzelbesprechung Soziologie der Konventionen
  31. Anna Gonon, Eingliederung als Rechtfertigungsarbeit: Konventionen betrieblicher Arbeitsintegration am Beispiel psychisch erkrankter Beschäftigter. Wiesbaden: Springer VS 2023, 340 S., eBook, 53,49 €
  32. Einzelbesprechung Wissenschaftsforschung
  33. Lisa Krall, Epigenetik als Intra-aktion: Diffraktives Lesen umweltepigenetischer Studien mit Karen Barads agentiellem Realismus. Bielefeld: transcript 2022, 288 S., kt., 45,00 €
  34. Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2024
  35. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 15.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2010/html
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