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Vorschläge für eine neue Russland-Strategie der NATO

  • Gerlinde Niehus

    Unabhängige Expertin für NATO- und internationale Sicherheitspolitik; bis 2024 Vize-Direktorin für Verteidigungs- und Sicherheitskooperation mit NATO-Partnerländern, NATO, Brüssel.

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Veröffentlicht/Copyright: 29. November 2024

1 Einleitung

Anfang 2022 hat Russland seinen brutalen und nicht zu rechtfertigenden totalen Krieg gegen die Ukraine begonnen. In der Ukraine bedeutete dies seit über zwei Jahre Leid, Tod – und anhaltende Verteidigung und heldenhaften Widerstand gegen ein mörderisches Regime. Im gesamten euro-atlantischen Raum und darüber hinaus hat Russland Frieden und Sicherheit erschüttert. Putin und sein kriminelles System versuchen, gute Regierungsführung zu untergraben, andere Diktaturen zu fördern und die internationale Ordnung zu ihren Gunsten zu verändern.

Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass Russlands Aggression und die Brutalität, die im Inneren, aber auch vor allem gegen andere Nationen wie die Ukraine eingesetzt werden, die NATO gestärkt haben. Da es immer offensichtlicher wird, dass Frieden und Sicherheit nicht als selbstverständlich angesehen werden können, wird die NATO als relevanter und wichtiger denn je angesehen. Jüngsten Meinungsumfragen zufolge schätzen etwa 75 Prozent der Bevölkerung im Bündnis die NATO als wichtig für die künftige Sicherheit ihres Landes ein, und etwa 77 Prozent der Bevölkerung befürworten die Beibehaltung oder Erhöhung der Investitionen in Verteidigung.[1] Das Bündnis hat, wenn auch gelegentlich mit einigen Schwierigkeiten, seine Einigkeit bei der Unterstützung der Ukraine zur Verteidigung gegen Russland gewahrt. So weit so gut. Aber es fehlt eine kohärente NATO-Strategie, um auf Putins Russland zu reagieren.

Was die NATO in den letzten mehr als zwei Jahren mit Blick auf Russland unternommen hat, war bestenfalls Stückwerk. Unter dem Leitmotiv „Russland besser verstehen“ wurden eine Reihe von externen Experten eingeladen und Diskussionen geführt mit dem erklärten Ziel, Russland besser zu verstehen. Mehr fand nicht statt. Es gab politische Konsultationen, auch mit der EU. Und Russlands Politik und Aktivitäten wurden bewertet.

Doch bisher war die NATO nicht in der Lage oder nicht willens, die Frage zu beantworten: Welche Strategie sollten wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gegen ein revanchistisches Regime verfolgen, dessen aggressive Ambitionen eindeutig über die Ukraine hinausgehen? Was ist unsere kollektive Antwort auf den Putinismus, für den die Zerstörung der Ukraine „nur“ ein Baustein im Kampf gegen Demokratien und offene Gesellschaften ist – und alles, wofür die NATO eintritt?

Auf die Frage, warum die Diskussion über eine Russland-Strategie nicht direkt angegangen werde, lautet die Standardantwort, dass ein solches Unterfangen zu riskant sei und wahrscheinlich keine Ergebnisse bringen würde, da die Bündnispartner zu weit voneinander entfernt seien.

Das war in der Regel auch das Hauptargument, zumindest aus der Gruppe der konservativen Stimmen, immer dann, wenn die NATO ein neues Strategisches Konzept ausarbeiten wollte oder musste. Die Tatsache, dass die NATO im Laufe der Jahrzehnte genau das erreicht hat, nämlich sich auf neue Strategische Konzepte zu einigen, entlarvt jedoch den Trugschluss des Arguments, eine strategische Debatte zu scheuen. Dieser Beitrag versteht sich als Versuch, eine solche Debatte anzuregen.

2 Der Ausgangspunkt: Unsere Vision

Die NATO selbst hat bereits ihre übergeordnete Vision aktualisiert, indem sie auf dem Madrider Gipfel das Strategische Konzept 2022 verabschiedet hat. Dort heißt es: „Wir bleiben standhaft in unserer Entschlossenheit, unsere eine Milliarde Bürgerinnen und Bürger zu schützen, unser Territorium zu verteidigen und unsere Freiheit und Demokratie zu schützen. Wir werden unsere Geschlossenheit, unseren Zusammenhalt und unsere Solidarität stärken, indem wir auf dem fortwährenden transatlantischen Bund zwischen unseren Nationen und der Stärke unserer gemeinsamen demokratischen Werte aufbauen. Wir bekräftigen unser festes Bekenntnis zum Nordatlantikvertrag und zur gegenseitigen Verteidigung gegen alle Bedrohungen, ganz gleich, woher sie kommen. Wir werden uns weiterhin für einen gerechten, inklusiven und dauerhaften Frieden einsetzen und ein Bollwerk der regelbasierten internationalen Ordnung bleiben. […] Unsere Vision ist klar: Wir wollen in einer Welt leben, in der Souveränität, territoriale Integrität, Menschenrechte und Völkerrecht respektiert werden und in der jedes Land seinen eigenen Weg wählen kann, frei von Aggression, Zwang oder Subversion. Wir arbeiten mit allen zusammen, die diese Ziele teilen. Wir stehen als Verbündete zusammen, um unsere Freiheit zu verteidigen und zu einer friedlicheren Welt beizutragen.“[2]

Kombiniert man diese Vision der NATO-Staaten mit der Vision, die der Schlussakte von Helsinki zugrunde liegt, die ja 1975 auch von Sowjet-Russland unterzeichnet wurde, könnte eine Vision für Russland so lauten: Wir wollen ein Russland, das die Souveränität, die international anerkannten Grenzen, die Menschenrechte und das Völkerrecht respektiert. Wir wollen ein Russland, das friedlich und wohlhabend ist und zu einer friedlicheren und wohlhabenderen Welt beiträgt.

3 Gestaltung unserer Mission

Aufbauend auf dieser Vision gibt das Strategische Konzept 2022 in der Tat auch übergeordnete Leitlinien vor, aus denen sich eine Mission für eine zukünftige Russland-Strategie für die NATO ableiten ließ. Dort heißt es: „Der Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine hat den Frieden erschüttert und unser Sicherheitsumfeld gravierend verändert. Ihre brutale und rechtswidrige Invasion, ihre wiederholten Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht sowie ihre abscheulichen Angriffe und Gräueltaten haben unsägliches Leid und Zerstörung verursacht. Eine starke, unabhängige Ukraine ist für die Stabilität des euro-atlantischen Raums unerlässlich. In dem Verhalten Moskaus zeigt sich ein Muster aggressiven Vorgehens Russlands gegen seine Nachbarn und die breitere transatlantische Gemeinschaft.“[3] Weiter steht dort: „Die Russische Föderation ist die bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner sowie für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum. Sie versucht, über Zwang, Subversion, Aggression und Annexion Einflussbereiche zu schaffen und direkte Kontrolle zu erlangen. Sie setzt konventionelle, Cyber- und hybride Mittel gegen uns und unsere Partner ein. Ihr Zwang ausübendes militärisches Dispositiv, ihre Rhetorik und ihre erwiesene Bereitschaft, Gewalt anzuwenden, um ihre politischen Ziele zu verfolgen, untergraben die regelbasierte internationale Ordnung.“[4]

Bei Anwendung dieser übergreifenden Leitlinien aus dem Strategischen Konzept könnte die Mission der NATO in Bezug auf Russland wie folgt lauten: Unsere Mission ist es, Russland als Bedrohung für die Sicherheit des Bündnisses sowie für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum und darüber hinaus einzudämmen.

Vor diesem Hintergrund ist es überfällig, dass die NATO die NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 endlich für nichtig erklärt.[5] Russland hat die Akte seit 2008 wiederholt verletzt und seit 2022 mit dem totalen Krieg gegen die Ukraine praktisch in Stücke gerissen. In der Grundakte verpflichten sich die NATO und Russland, „gemeinsam einen dauerhaften und inklusiven Frieden im euro-atlantischen Raum auf den Prinzipien der Demokratie und kooperativen Sicherheit aufzubauen.“ Die NATO und Russlands bekräftigen in dem Dokument, „ihrem gemeinsamen Engagement für den Aufbau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten Europas zum Wohle aller seiner Völker konkrete Substanz zu verleihen.“ Davon ist auf russischer Seite nichts übrig geblieben.

4 Die wichtigsten strategischen Ziele einer künftigen NATO-Russland-Strategie

Um die oben skizzierte Mission zu verfolgen, könnten folgende Ziele als strategische Hauptziele dienen:

  • Russland muss in der Ukraine besiegt werden, damit die Ukraine ihre Souveränität, Unabhängigkeit und Demokratie bewahren kann.

  • Die Abschreckung und, falls erforderlich, die Verteidigung der NATO gegen Russland müssen effizient aufgestellt sein.

  • „Interne“ Schwächen der NATO-Bündnispartner müssen angegangen und minimiert werden.

  • Russische Versuche der Destabilisierung und Subversion weltweit müssen eingedämmt werden.

  • Russlands militärische Aufrüstung und Regenerationsfähigkeit müssen eingeschränkt werden.

  • Chinas „grenzenlose“ Partnerschaft mit Russland muss eingedämmt werden.

5 Die wichtigsten Bausteine für eine kohärente Russland-Strategie

Die Entwicklung und Umsetzung einer kohärenten und holistischen Eindämmungsstrategie gegen Russland ist nicht nur eine militärstrategische Frage, sondern vor allem eine politische Frage, die politischen Willen, Mut und Führungsstärke erfordert, aber auch ein Mittel, um die Einheit zu schmieden.[6] Wenn es eine große Lehre aus vergangenen Kriegen gibt, dann die, dass alle Versuche, einen Aggressor zu beschwichtigen, zum Scheitern verurteilt sind – da sie den Angreifer nur dazu ermutigen, die Aggression fortzusetzen, weil sie ihm eindeutig Vorteile bringt.[7]

Einige der im Folgenden skizzierten Punkte gehen eventuell über die derzeitige politische Agenda der NATO hinaus. Das sollte jedoch kein Showstopper sein. Artikel 4 des Washingtoner Vertrags gibt den Mitgliedern die Möglichkeit, dass die Parteien „einander konsultieren, wenn nach Auffassung einer von ihnen die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist.“ Das Mandat ist also vorhanden; es bedarf „nur“ der politischen Führung, des Willens und des Mutes, es zu nutzen.

5.1 Die Ukraine in die Lage versetzen, den Krieg mit Russland zu ihren eigenen Bedingungen zu gewinnen

Russlands Krieg in und gegen die Ukraine geht über diesen Kampf hinaus. Russlands revisionistischer Imperialismus versucht nicht nur, die Ukraine zu unterwerfen, sondern auch die internationale Ordnung in ein System umzuwandeln, in dem Gewalt, Gesetzlosigkeit und Aggression die Norm sind und Länder wie Russland (und andere, die seinem Modell folgen) damit durchkommen, Macht über das Recht zu stellen. Was also in der Ukraine auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als die globale Vision, die im Strategischen Konzept der NATO 2022 verankert ist. Zukünftige Generationen werden die heutigen Staats- und Regierungschefs danach beurteilen, ob sie der Herausforderung gewachsen waren – oder nicht.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die USA, die EU, die NATO-Staaten und die Partner in einer großen internationalen Koalition seit dem totalen Krieg Russlands gegen die Ukraine (kombiniert mit einem hybriden Schattenkrieg gegen die Partner der Ukraine) der Ukraine eine bislang beispiellose Unterstützung geleistet haben, um sicherzustellen, dass die Ukraine ihr Recht auf territoriale Unversehrtheit, Selbstverteidigung[8] und ihr Recht auf Selbstbestimmung geltend machen kann.[9] Es ist ebenso klar, dass in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht Parteien, die eine Nation bei der Ausübung dieser Rechte auf Selbstverteidigung und Selbstbestimmung unterstützen, nicht zu Konfliktparteien werden. Solange es keine direkte Beteiligung an militärischen Kampfhandlungen gibt, wäre es bereitwilligen Partnern auch erlaubt, die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte in der Ukraine durchzuführen.

Dennoch haben sich seit 2022 zu viele Entscheidungsträger oder Entscheidungsgestalter viel zu oft in eine politische Zwangsjacke gesteckt, indem sie eine Art Selbstzensur ausübten und selbst auferlegte (aber auch künstliche) „rote Linien“ für ihr eigenes Handeln zogen. Das typische Argument lautet, dass eine Überschreitung dieser (selbst auferlegten) „roten Linien“ zu einer ernsthaften Eskalation der Aggression durch den Aggressor, d. h. Putin und sein Regime, führen würde.

Dahinter steht ein grundlegendes Missverständnis. Präsident Putin agiert nicht auf einer Eskalations- und Deeskalationsleiter. Vielmehr respektiert er Stärke und nutzt Schwächen aus. Wo immer er kann, schürt er Ängste, Zaudern und Feigheit – um sie zu seinem Vorteil auszunutzen. Und wir sind nur allzu bereit, immer wieder in diese Falle zu tappen. Die Folge ist, dass die Welt der Ukraine nach wie vor zu wenig und zu spät Unterstützung leistet – nur um sich dann darüber zu beschweren, dass die Ukrainer bei der Verteidigung ihres Landes nicht die gewünschten Fortschritte machen. Tatsächlich hätte die Bereitstellung umfänglicherer Hilfe im Sommer 2022, also vor der russischen Mobilmachung im September, der russischen Operation einen entscheidenden Schlag versetzen können. Diese Chance wurde vertan.

Was wir bisher erlebt haben, ist ein kollektives Versagen von voraussichtlich historischem Ausmaß: Die 56 an der Koalition zur Unterstützung der Ukraine beteiligten Partner, deren gemeinsames Bruttoinlandsprodukt das Russlands exponentiell übersteigt,[10] waren in den letzten mehr als zwei Jahren nicht in der Lage oder nicht willens, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie den Kampf gegen den Aggressor gewinnen kann. Es ist daher von strategischer Relevanz, diesen Ansatz endlich umzukehren.

Während die Ukraine ihren existenziellen Überlebenskrieg führt, verteidigt sie unsere Welt und unsere Werte – oft unter enormen Opfern. Wir müssen jede Investition in die Verteidigung der Ukraine als eine Investition in die Abschreckung und Vorneverteidigung des Bündnisses verstehen. Wir müssen endlich aufhören zu zaudern[11] und der Ukraine die politische, militärische, wirtschaftliche und humanitäre Hilfe zukommen lassen, die sie braucht, um sich durchzusetzen. Sollte Russland in der Ukraine gewinnen, wären die Kosten für alle Bündnispartner exponentiell höher. Wenn die Ukraine sich durchsetzen kann, gewinnt sie nicht nur das, was sie verdient: die Zukunft als demokratisches, souveränes Land; es wäre auch eine strategische Stärkung für alle regelbasierten, offenen Gesellschaften – und der stärkste Antrieb für einen Regimewechsel in Russland.[12]

5.2 Aufbruch in eine neue Ära der kollektiven Abschreckung und Verteidigung

Putins Russland ist und bleibt auf absehbare Zeit die größte und unmittelbarste Bedrohung für die Sicherheit der Bündnispartner für Frieden und Stabilität im euro-atlantischen Raum.[13] Im Einklang mit den Leitlinien des Strategischen Konzepts von 2022 haben daher aufeinanderfolgende NATO-Gipfeltreffen in Madrid und Vilnius den Schwerpunkt erneut und verstärkt auf die kollektive Abschreckung und Verteidigung gelegt.

Die damit verbundenen Herausforderungen sind gewaltig, wenn nicht gar überwältigend. Es geht um nichts Geringeres als die Umkehr von drei Jahrzehnten, in denen die vermeintliche „Friedensdividende“ geerntet wurde und in der es zu einer ständigen Verkümmerung und Erosion der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten kam. Grundlage war das Vorherrschen einer Denkweise, wonach Frieden und Sicherheit, zumindest im euro-atlantischen Raum, als selbstverständlich angesehen werden können und quasi wie Manna vom Himmel fallen.

Diese Tage sind zwar vorbei, aber die To-do-Liste für die NATO ist lang und anspruchsvoll, und nicht alle Bündnispartner verfolgen sie mit der Dringlichkeit und Entschlossenheit, die angesichts des strategischen Wendepunkts, an dem wir stehen, erforderlich sind. Zu den Schlüsselaufgaben der Bündnispartner gehören insbesondere die zügige Erhöhung der Verteidigungsausgaben[14] und die Maximierung der Streitkräftebeiträge zur vollständigen Umsetzung der Verteidigungsinvestitionszusage von Vilnius.[15] Im Einzelnen sind das:

  • die Erreichung der derzeitigen und künftigen Fähigkeitsziele, so wie sie im NATO-Verteidigungsplanungsprozess ermittelt und festgelegt wurden;

  • die Bereitstellung von umfassenden Ressourcen für die in Vilnius vereinbarten neuen Verteidigungspläne, um deren vollständige Durchführbarkeit zu gewährleisten;

  • der dringende Ausbau der Rüstungsproduktion und die Umsetzung des gemeinsam beschlossenen Aktionsplans für die Produktion von Verteidigungsgütern[16] sowie

  • die Gewährleistung der Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit der nuklearen Abschreckungsmission der NATO.[17]

  • Darüber hinaus sollten innovative Ansätze wie die Verabschiedung einer NATO-Agenda zur wirtschaftlichen Abschreckung erwogen und verfolgt werden.[18]

Angesichts der Tatsache, dass Russland zunehmend auf Methoden der hybriden Kriegsführung zurückgreift, einschließlich Cyberangriffen, Sabotage, politischer Einmischung und verdeckter Operationen auf dem Boden der Bündnispartner, scheint es höchste Zeit, dass die NATO auch ihr Vorgehen gegen diese Art von hybriden Bedrohungen überdenkt. Je länger wir Russland „ungestraft davonkommen lassen“, desto mehr laden wir es ein, diese zersetzenden Kampagnen zu intensivieren.

In diesem Zusammenhang erscheint auch wichtig, eine Antwort auf die zunehmenden „versehentlichen“ Verletzungen des Luftraums der Alliierten durch Russland, insbesondere in den an die Ukraine angrenzenden Ländern, zu entwickeln. Darüber hinaus setzt Russland systematisch Störtechniken ein, um GPS-Signale von zivilen Flugzeugen zu deaktivieren, z. B. in der Ostsee- und Schwarzmeerregion.

Auch wenn es bisher keine Hinweise auf einen groß angelegten konventionellen Angriff Russlands auf einen NATO-Verbündeten gibt, sollten diese Übergriffe und Eingriffe als Versuchsballons Russlands gesehen werden, um die Entschlossenheit und Standhaftigkeit der NATO auf die Probe zu stellen. Was würde die NATO tun, wenn nach einer GPS-Störung durch Russland zwei zivile Flugzeuge kollidieren würden? Die NATO muss eine Antwort für diese und ähnliche Fälle entwickeln.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die NATO ihr Abschreckungs- und Verteidigungsdispositiv neu denken und neu beleben muss, damit sie sich für das Zeitalter der kollektiven Verteidigung und hybriden Kriegsführung fit macht.

5.3 Interne Schwächen der Verbündeten angehen und minimieren

Im Laufe der Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, hat Russland das gesamte Spektrum hybrider Destabilisierungsinstrumente genutzt, um Demokratien, offene Gesellschaften und die euro-atlantische Sicherheit zu untergraben. Diese reichen von politischer Einmischung und politischem Druck, über feindselige Desinformation und Propaganda, insbesondere im Rahmen von Wahlkämpfen, und böswillige Cyberattacken, z. B. durch Angriffe auf Regierungsnetzwerke oder kritische Infrastrukturen, bis zum Missbrauch von Energie als Waffe und der Durchführung russischer Geheimdienst- und Sicherheitsdienstaktivitäten auf alliiertem Territorium, einschließlich Morden wie 2019 in Berlin, oder Sabotageakten und Putschversuchen in Montenegro und Moldawien. Mit Wladimir Putin an der Macht gibt es keine Anzeichen für eine Abkehr von diesem feindseligen strategischen Ansatz. Für die NATO und ihre Verbündeten bedeutet dies, dass Russland, wann immer möglich, alle internen Schwächen ausnutzen und ausweiten wird.

Um diese gewaltigen Herausforderungen zu bewältigen, sollte eine ganze Reihe von Gegenmaßnahmen ergriffen werden: Die NATO muss die Resilienz aller Bündnispartner in Bezug auf alle grundlegenden Resilienzanforderungen der NATO weiter stärken.[19] Länder wie Ungarn und die Türkei müssen davon überzeugt werden, ihre Energieabhängigkeit von Russland zu verringern. Weitere Gegenmaßnahmen könnten z. B. (Cyber-)Übungen sein, um die Standhaftigkeit des Bündnisses zu signalisieren, oder weitere Einschränkungen der Bewegungsfreiheit russischer Spione.

Noch wichtiger ist vielleicht, dass die Grundsätze der verantwortungsvollen Staatsführung, zu denen sich die NATO im Strategischen Konzept 2022 verpflichtet hat,[20] gestärkt werden. Das alles ist zwar leichter gesagt als getan, aber die NATO hat mindestens vier Möglichkeiten, ein solches Ziel zu verfolgen: Sie könnte ihren eigenen Mechanismus für gute Regierungsführung einrichten – indem sie im NATO-Hauptquartier in Brüssel ein „Zentrum für demokratische (oder gesellschaftliche) Resilienz“ einrichtet – ein Schritt, der von der Parlamentarischen Versammlung der NATO bereits seit einigen Jahren befürwortet wird.[21] Ein alternativer und letztlich weniger politisierter Ansatz könnte die Einrichtung eines speziellen NATO-Exzellenzzentrums für verantwortungsvolle Staatsführung sein. Das Bündnis könnte auch erwägen, einige der Vermögenswerte und Vorteile, die Nationen aus dem NATO-Programm für Sicherheitsinvestitionen ziehen können, (vorübergehend) zurückzuhalten. Schließlich können Staaten, die sowohl der NATO als auch der EU angehören, die mögliche Anwendung von Artikel 7, d. h. der Suspensionsklausel des EU-Vertrags, verstärken, wenn ein Mitgliedsland schwerwiegend und anhaltend gegen die Grundsätze verstößt, auf denen die EU beruht.[22] Wir müssen uns vor Augen halten, dass eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied.

5.4 Stärkung der NATO-Krisenprävention und der kooperativen Sicherheit

Mit dem Strategischen Konzept 2022 definiert die NATO die bisherige Kernaufgabe des Krisenmanagements in Krisenprävention und -management um: „Wir werden unsere Anstrengungen verstärken, um Krisen und Konflikte zu antizipieren und zu verhindern. Prävention ist ein nachhaltiger Weg, um zur Stabilität und Sicherheit der Bündnispartner beizutragen. Wir werden unsere Unterstützung für unsere Partner verstärken, auch um ihre Kapazitäten zur Terrorismusbekämpfung und zur Bewältigung gemeinsamer Sicherheitsherausforderungen auszubauen.“[23]

Darin spiegelt sich – als eine der bitteren Lehren aus den Jahrzehnten des vergeblichen Krisenmanagements in Afghanistan – die Erkenntnis, dass Krisenprävention der effektivere Ansatz mit einer besseren „Rendite für Investitionen“ ist als die extrem kostspieligen Militäroperationen. Die bisher verfolgte Praxis wird jedoch den Ambitionen des Strategischen Konzepts im Allgemeinen[24] und insbesondere auch nicht den strategischen Herausforderungen, wie z. B. der destabilisierenden Einflussnahme von Russland und China in Afrika, im Kaukasus oder dem westlichen Balkan, in keiner Weise gerecht.

Die NATO und die EU müssen endlich erkennen, dass es eine offene Einladung an böswillige Akteure ist, Partner, die eine Mitgliedschaft in einer oder beiden Organisationen anstreben, über längere Zeiträume in der Schwebe zu halten. Damit bieten sich diesen Akteuren vielfältige Möglichkeiten, den euro-atlantischen Kurs eines Landes zum Scheitern zu bringen, schlechte Regierungsführung zu verschärfen oder Instabilität zu säen. Auf Seiten der EU macht dies die energische Fortsetzung der Erweiterungsprozesse mit den Kandidatenländern (mit Ausnahme von Türkei) zu einem geostrategischen Imperativ.[25]

Auf der Seite der NATO bedeutet dies, endlich den politischen Mut und die Führungsstärke aufzubringen, der Ukraine und – wenn noch nicht zu spät – auch Georgien die Mitgliedschaft oder zumindest den Beginn von Beitrittsgesprächen anzubieten. Die NATO-Studie über die Erweiterung[26] von 1995 wird zwar oft als Hindernis für einen solchen Schritt bezeichnet, stellt aber keinen solchen Showstopper dar. Ein Beispiel dafür ist die Bundesrepublik Deutschland, die sich als einzige legitime Vertretung des deutschen Volkes verstand, und 1955 in die NATO aufgenommen wurde, während die DDR noch bis 1989 unter dem Einfluss der Sowjetunion blieb.

Das Engagement der NATO im globalen Süden ist bisher bestenfalls bescheiden. Von den 54 afrikanischen Ländern arbeitet die NATO lediglich mit zwei Ländern, nämlich Tunesien und seit 2022 Mauretanien, intensiver zusammen, vor allem über sogenannte Defence Capacity Building (DCB)-Pakete. Von den derzeit 22 Mitgliedsstaaten der Arabischen Liga kooperiert die NATO über ähnliche DCB-Pakete neben Mauretanien auch mit dem Irak und Jordanien.

Die begrenzte Präsenz ist vor allem auf die „strategische“ Sichtweise einiger NATO-Staaten, insbesondere Frankreichs, zurückzuführen, wonach die Europäische Union der wichtigste Akteur bei der Einbindung Afrikas und des Nahen Ostens sein sollte, während die NATO als mehr oder weniger „toxisch“ angesehen wird – obwohl viele Länder aus den Regionen stark an einer Intensivierung der Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich interessiert sind.

Ein sinnvolles Engagement würde jedoch erfordern, endlich in Krisenprävention und kooperative Sicherheit auf strategischer Ebene zu investieren und nicht als „nette Nebentätigkeit“, wie es derzeit in der gesamten NATO der Fall ist, sowohl auf der zivilen als auch auf der militärischen Seite der Organisation.

Diese Kernaufgabe auf eine wirklich strategische Ebene zu heben, bedeutet auch, der Destabilisierungspolitik Russlands in der Republik Moldau, auf dem westlichen Balkan sowie in der Ostsee- und Schwarzmeerregion, einschließlich Georgiens, nachhaltig entgegenzuwirken.

Krisenprävention und kooperative Sicherheit als Baustein einer Eindämmungsstrategie Russlands zu betrachten, impliziert auch, dass die Bündnispartner Wege finden müssen, um Russlands illegalen Waffenerwerb zu drosseln und die militärische Unterstützung von Ländern wie Iran und Nordkorea für Russlands Krieg gegen die Ukraine einzuschränken.

Vor allem aber muss man sich darum bemühen, die sich vertiefende bilaterale Zusammenarbeit Chinas mit Russland umzukehren oder zumindest zu begrenzen. Durch die Bereitstellung wesentlicher Unterstützung, die es Russland ermöglicht, seine rüstungsindustrielle Basis immer wieder neu zu beleben, spielt China eine Schlüsselrolle bei der militärischen Erneuerung Russlands.[27] Während China die Partnerschaft mit Russland vor allem als strategisches Gegengewicht zu den USA und schließlich als Instrument nutzt, um die globale Machtprojektion der USA einzuschränken, sind Chinas langfristige strategische Interessen auch an den Zugang zu Märkten und Technologie, Handel und Investitionen gebunden. Die euro-atlantischen Partner, einschließlich der EU, könnten bei ihrer „De-Risking-Strategie“ diese wirtschaftlichen Interessen und Verflechtungen verstärkt als Zuckerbrot und Peitsche einsetzen. Wie US-Außenminister Blinken kürzlich während seines Besuchs in China betonte: „Wenn China auf der einen Seite vorgibt, gute Beziehungen zu Europa und anderen Ländern zu wollen, kann es auf der anderen Seite nicht die größte Bedrohung für die europäische Sicherheit seit dem Ende des Kalten Krieges schüren.“[28] Die NATO Gipfel-Erklärung von 2024 macht zwar einen ersten Schritt, indem sie feststellt: „Die VR China kann nicht den größten Krieg in Europa in der jüngeren Geschichte befördern, ohne dass sich dies negativ auf ihre Interessen und ihr Ansehen auswirkt.“[29] Doch was daraus folgt an konkreten Schritten seitens NATO, EU und USA bleibt bislang offen.

5.5 Förderung der strategischen Partnerschaft zwischen NATO und EU

Das Strategische Konzept 2022 verpflichtet die NATO, „die strategische Partnerschaft zwischen der NATO und der EU auszubauen, die politischen Konsultationen zu verstärken und die Zusammenarbeit in Fragen von gemeinsamem Interesse zu intensivieren.“[30] Auch wenn es im Rahmen der NATO-EU-Zusammenarbeit im Strategischen Konzept keinen ausdrücklichen Verweis auf Russland gibt, sind die genannten Bereiche wie militärische Mobilität, Resilienz und Abwehr von Cyber- und hybriden Bedrohungen zweifellos äußerst relevant und anwendbar.

Seit 2022 sind die NATO und die EU bei der Reaktion auf die Bedrohung durch Russland weitgehend ihrer Verpflichtung nachgekommen, „komplementäre, kohärente und sich gegenseitig verstärkende Rollen bei der Unterstützung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zu spielen.“[31] Während die EU die Finanzierung der Verteidigung und der Staatlichkeit der Ukraine im großen Umfang geleistet hat und weiterhin leistet und eine wachsende Zahl von Sanktionen gegen Russland verhängt,[32] konzentriert sich die NATO auf den Wiederaufbau ihrer Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten, und damit eines Sicherheitsschirms, der es den Nationen ermöglicht, der Ukraine militärische Hilfe zu leisten.

Diese strategische Partnerschaft muss weiter gestärkt werden. Dazu sollte gehören, dass die NATO-Staaten nicht nur die EU-Sanktionen, sondern auch die Bemühungen um die Schließung zahlreicher Schlupflöcher unmissverständlich unterstützen.[33] Darüber hinaus könnten sich die NATO-Staaten mit der EU zusammentun, um die Bemühungen um die Beschlagnahmung der Vermögenswerte der russischen Zentralbank in Höhe von schätzungsweise 300 Milliarden US-Dollar zu intensivieren, damit diese als Entschädigung für die durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verursachten Verluste verwendet werden können.[34]

Darüber hinaus sollte die NATO Hand in Hand mit der EU an der Umgestaltung der europäischen Verteidigung arbeiten: Die EU und die EU-Mitgliedstaaten müssen die Dynamik der Erhöhung der Verteidigungsinvestitionen aufrechterhalten. Wir müssen das Blatt wenden von Jahrzehnten der militärischen Erosion und der Unterinvestition, die zu zahllosen Kapazitätslücken in unserer Sicherheitsarchitektur geführt haben. Die EU könnte den NATO-Grundwert von 2 Prozent Verteidigungsausgaben am BIP für Investitionen in Sicherheit als ihren eigenen Standard übernehmen. Wir sollten gemeinsam mehr ausgeben und nicht nebeneinander. Die Verteidigungslandschaft der EU ist nach wie vor zu zersplittert und daher ineffektiv:[35] Die EU verfügt über rund 180 verschiedene Hauptwaffensysteme, die USA über 30. Die EU verfügt über 17 Kampfpanzer, während die USA nur einen haben.[36] Die gemeinsame Beschaffung ist unzureichend: Im Jahr 2022 wurden nur 18 Prozent der Beschaffungen von Rüstungsgütern über europäische Rahmenprogramme verfolgt. Milliarden von Euro werden Jahr für Jahr durch Doppelarbeit, unzureichende Bündelung und die Abwesenheit gemeinsamer Beschaffung verschwendet.[37] Die NATO sollte die Pläne der EU unterstützen, die Funktion eines neuen EU-Kommissars für Verteidigung mit Schwerpunkt auf der Beschaffung von Verteidigungsgütern zu schaffen.

Außerdem sollte die NATO mit der EU zusammenarbeiten und sie bei allen Bemühungen unterstützen, die russische Opposition zu stärken, sei es in Russland selbst oder im Exil. Dazu gehört auch, sich um die Sicherheit einzelner Oppositioneller wie Julia Nawalnaja zu kümmern oder Wege zu finden, mit Oppositionellen in Kontakt zu bleiben, die in Putins Gulag inhaftiert sind.

Ein weiterer wichtiger Bestandteil könnte eine gemeinsam mit der EU entwickelte langfristige Kommunikationsstrategie sein, die sich insbesondere über die Kanäle der sozialen Medien mit einer zentralen Botschaft an die russische Öffentlichkeit wendet: „Wir sind nicht eure Feinde! Wir wollen eine bessere Zukunft für Russland und seine Menschen!“[38] Das ist ziemlich genau das Gegenteil dessen, was Putins Propagandaapparat täglich absondert.

5.6 Ein Joker? Aussetzung der Mitgliedschaft Russlands im UN-Sicherheitsrat

Russland greift nicht „nur“ die Ukraine an. Gleichzeitig behindert es multilaterale Organisationen. Im Falle der OSZE hat Russlands Obstruktionspolitik die Organisation weitgehend gelähmt und nutzt sie als Plattform für Propaganda oder Einschüchterung anderer Mitglieder. Im Falle der Vereinten Nationen hätte Russland angesichts seines Status als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats eine besondere Verantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Stattdessen (miss)braucht es seinen Sitz und sein Vetorecht im UN-Sicherheitsrat, um die internationale Ordnung zu untergraben, indem es sein eigenes gesetzloses Verhalten oder das seiner Komplizen wie jüngst Nordkorea schützt[39] oder die Arbeit im UN-Sicherheitsrat durch umstrittene und heuchlerische Vorschläge entgleisen lässt.

Es gab in den Jahren 2022/23 einige Debatten über die Idee, Russlands Sitz und Vetorecht im UN-Sicherheitsrat auszusetzen,[40] aber seitdem ist das Thema weitgehend vom Radarschirm verschwunden. Das ist bedauerlich. Zugegeben, die Hürden für einen solchen Schritt sind hoch. Die Debatte am Leben zu erhalten und beispielsweise darauf abzuzielen, dass eine Mehrheit der Nationen in der UN-Generalversammlung für die Idee stimmt, wäre nicht nur ein starkes Signal an Russland. Gleichzeitig würde es die derzeitige Dysfunktionalität des UN-Sicherheitsrats und die dringende Notwendigkeit, ihn zu reformieren, in den Fokus rücken. Denn nur so lässt sich die derzeit verlorene Glaubwürdigkeit und Relevanz wiederherstellen.

6 Treten wir für unsere Vision ein – mit Leidenschaft!

Die wohl stärkste und dauerhafteste Eindämmung beginnt in den Köpfen und Herzen der Menschen. Es muss das Verständnis und der Wille vorhanden sein, Russland einzudämmen, nicht weil wir per se gegen Russland sind, sondern weil der Putinismus eine Gefahr für sein Land ist,[41] eine Bedrohung für den Frieden und die Stabilität im euro-atlantischen Raum und eine Bedrohung für genau die Art von Gesellschaften, die wir sein wollen.

Gleichzeitig reicht es nicht aus, nur „gegen“ etwas zu sein. Es muss eine alternative und attraktivere Vision geben: „Der Westen muss auch eine seiner mächtigsten Waffen einsetzen: universelle liberale Werte. Es waren diese, sowie auch Star Wars und Dollars, die dazu beitrugen, das sowjetische Regime zu stürzen, indem sie die Unmenschlichkeit seines totalitären Systems entlarvten.“[42] Dies setzt voraus, dass wir uns selbst diese universellen liberalen Werte zu eigen machen. Angesichts des zunehmenden Populismus und der Mängel in unseren demokratischen Systemen, nehmen aber Selbstzweifel und Entfremdung zu.

Es gibt wieder viele, die sich angesichts des schurkischen Verhaltens einiger Staaten und ihrer Führer entweder hilflos oder entrechtet fühlen oder sogar erklären, dass autoritäre Herrscher und Systeme zahlreiche Vorteile gegenüber offenen Gesellschaften und liberalen Demokratien haben, wie z. B. die zentrale Befehls- und Kontrollfunktion oder die absolute Macht, den Willen des Diktators auch gegen die öffentliche Meinung durchzusetzen. Dies ist eine fehlerhafte Einschätzung. Einerseits unterschätzt sie insbesondere die Innovationsfähigkeit offener Gesellschaften und ihre inhärenten Fähigkeiten, Lösungen im besten Interesse von Mehrheiten zu finden. Auf der anderen Seite unterschätzt sie die zersetzende Wirkung fehlgeleiteter Entscheidungen des absoluten Herrschers, die auf einer wahnhaften Wahrnehmung der Welt um ihn herum beruhen.[43] Vor diesem Hintergrund kam der jüngste Weckruf von Präsident Macron für ein humanistisches Europa zur rechten Zeit und traf den Nagel auf den Kopf.[44] Für die NATO und ihre Staaten und Nationen bedeutet dieser Weckruf, mit Überzeugung und Leidenschaft für die Vision einzustehen, die in ihrem Strategischen Konzept 2022 verankert ist: In einer Welt zu leben, in der Souveränität, territoriale Integrität, Menschenrechte und Völkerrecht respektiert werden und in der jedes Land seinen eigenen Weg wählen kann, frei von Aggression, Zwang oder Subversion.


Anmerkung

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die der Autorin und sollten nicht so verstanden werden, dass sie notwendigerweise die der NATO oder der NATO-Mitgliedsstaaten wiedergeben.


Über den Autor / die Autorin

Dr. Gerlinde Niehus

Unabhängige Expertin für NATO- und internationale Sicherheitspolitik; bis 2024 Vize-Direktorin für Verteidigungs- und Sicherheitskooperation mit NATO-Partnerländern, NATO, Brüssel.

Literatur

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Rapp, Sebastian (2023): Reinforcing the European defence industry. Brüssel/Strassburg: Europäisches Parlament (Briefing Paper)Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2024-11-29
Erschienen im Druck: 2024-11-27

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Aufsätze
  4. Quellen des Nahöstlichen Antisemitismus
  5. Der Informationskrieg des Irans
  6. Chinas Fähigkeiten im Bereich der Unterwasser-Seekriegsführung: Technologische Aspekte
  7. Kritische Rohstoffabhängigkeiten und Lieferketten-Resilienz – ein Fall für die geheimen Nachrichtendienste?
  8. Kurzanalyse
  9. Vorschläge für eine neue Russland-Strategie der NATO
  10. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  11. Naher Osten
  12. Jack Watling/Nick Reynolds: Tactical Lessons from Israel Defense Forces Operations in Gaza, 2023. London: Royal United Services Institute (RUSI), Juli 2024
  13. Hassan Alhasan/Camille Lons: Gulf Bailout Diplomacy: Aid as Economic Statecraft in a Turbulent Region. London: IISS, Oktober 2023
  14. Brian Katulis, with Benjamin Freedman and Sydney Taylor: The Limits of Biden’s Middle East Diplomacy. An Assessment of US Policy. Washington, D.C.: The Middle East Institute, Juli 2024
  15. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine
  16. Samual Charap/Khrystyna Holynska: Russia’s War Aims in Ukraine. Objective-Setting and the Kremlin’s Use of Force Abroad. St. Monica, Cal.: The RAND Corporation, August 2024
  17. Dara Massicot: Russian Military Wartime Personnel Recruiting and Retention 2022–2023. St. Monica: The RAND Corporation, Juli 2024
  18. Dapo Akande/Olivier Corten/Shotaro Hamamoto/Pierre Klein/Harold Hongju Koh/Paul Reichler/Hélène Ruiz Fabri/Philippe Sands/Nico Schrijver/Christian J. Tams/Philip Zelikow: On Proposed Countermeasures Against Russia to Compensate Injured States for Losses Caused by Russia’s War of Aggression Against Ukraine. London: International Institute for Strategic Studies, Mai 2024
  19. Lt. General (Ret.) Keith Kellogg/Fred Fleitz: America First, Russia, & Ukraine. Washington, D.C.: America First Policy Institute – Center for American Security, April 2024
  20. Militärrivalität USA-China
  21. Katherine L. Kuzminski/Taren Sylvester: Back to the Drafting Board. U.S. Draft Mobilization Capability for Modern Operational Requirements. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Juni 2024
  22. Stacie Pettyjohn/Hannah Dennis/Molly Campbell: Swarms over the Strait. Drone Warfare in a Future Fight to Defend Taiwan. Washington, D.C.: CNAS
  23. Markus Schiller: Der große Sprung. Chinas ballistisches Raketenprogramm. Ein technischer Bericht. Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Mai 2024
  24. Buchbesprechungen
  25. Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand. Zürich: Unionsverlag 2024, 379 S.
  26. Henry Farrell/ Abraham Newman: Underground Empire. How America Weaponized the World Economy. London: Allen Lane 2023, 278 Seiten
  27. Boris Bondarew: Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands. München: Wilhelm Heyne Verlag 2023, 255 Seiten
  28. Frank Bösch: Deals mit Diktaturen. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. C.H. Beck: München 2024, 622 Seiten
  29. Antje Nötzold/ Enrico Fels/ Andrea Rotter/ Moritz Brake (Hrsg.): Strategischer Wettbewerb im Weltraum. Politik, Recht, Sicherheit und Wirtschaft im All. Wiesbaden: Springer Nature, 2024, 883 Seiten
  30. Bildnachweise
Heruntergeladen am 23.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-4005/html
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