Home Boris Bondarew: Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands. München: Wilhelm Heyne Verlag 2023, 255 Seiten
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Boris Bondarew: Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands. München: Wilhelm Heyne Verlag 2023, 255 Seiten

  • Jakob Kullik

    Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Internationale Politik der Technischen Universität Chemnitz

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Published/Copyright: November 29, 2024

Rezensierte Publikation:

Boris Bondarew: Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands. München: Wilhelm Heyne Verlag 2023 255 Seiten


Authentische Zeitzeugenberichte aus dem russischen Machtapparat sind wichtig für unser Verständnis der Politik Moskaus. Gerade in Kriegszeiten und seit der vollständigen Verdrängung ausländischer und oppositioneller Medien in Russland ist es enorm schwierig geworden, interne Abläufe im politischen System zu erfassen. Westliche Analysten schauen in der Regel zuerst auf den Kreml (Präsidialadministration) und seinen Herrscher (Putin), um die nächsten Schritte des Landes nachzuvollziehen. Doch, was ist mit den anderen Ministerien, allen voran dem Außenministerium? Spielt dieses in der russischen Außenpolitik überhaupt keine Rolle mehr? Und was hieße das für den diplomatischen Umgang mit einem Russland im Kriegszustand und möglichen Verhandlungen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden?

Der verständliche Wunsch nach einem schnellen Kriegsende löst sich in Luft auf, wenn man den Insider-Bericht des ehemaligen russischen Diplomaten, Boris Bondarew, liest. Er ist der bislang einzige (bekannte) Überläufer aus dem russischen Außenministerium in den Westen seit Ausbruch des Krieges und lebt seitdem unter ständiger Bewachung. Wer Putins Russland verlässt und zum „Feind“ überläuft, der gilt als Verräter und lebt fortan gefährlich. Sicher: Jeder Bericht eines Überläufers ist mit Vorsicht zu genießen. Die dargelegten Motive und Gründe müssen nicht die wahren sein. Die subjektive Ereignisdarstellung ist kaum nachprüfbar und das eigene Handeln kann günstiger – womöglich heroischer – gewendet werden, als es tatsächlich war. Doch diese Risiken und Fallstricke müssen in Kauf genommen werden. Lässt man sich auf seine Schilderungen ein, sind diese mit Gewinn zu lesen. Das Buch besteht aus sieben Kapiteln und folgt der Karrierebiographie des Autors, der im Jahr 1980 im Zentrum Moskaus zur Welt kam und somit in seiner Jugend das Krisenjahrzehnt nach dem Untergang der UdSSR erlebte.

Das eigentlich Interessante ist allerdings nicht so sehr Bondarews Karriereweg als russischer Diplomat, sondern seine gesellschaftspsychologische Darstellung und Bewertung der russischen Außenpolitik und seiner Vertreter – vom Botschaftskollegen bis zum Außenminister. Diese „Mechanik des russischen Staatswesens“ (S. 14) liest man mit einer Mischung aus Staunen, Bestätigung und Kopfschütteln. Vieles passt so gar nicht in das russische – und auch im Westen – gepflegte Narrativ vom Außenministerium als Zentrale globaler Meisterstrategen. Das, was Bondarew über die Abläufe im Außenministerium schreibt, ist zudem eng verknüpft mit dem normativen Entwicklungsstand der russischen Gesellschaft. Denn keineswegs agieren russische Diplomaten auf einer höheren Sphäre als der Rest der Gesellschaft. Im Gegenteil: ein Großteil ihres Denkens und Handelns ist mit der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung in Russland im 20. Jahrhundert erklärbar, allen voran der weitverbreitete Untertanengeist gegenüber der Obrigkeit, der jedoch mit einem für Außenstehende unfassbaren rechthaberischen Hochmut daherkommt. „Nach wie vor weitverbreitet ist die Ansicht, dass der Chef immer über alle Informationen verfügt und sich nie irrt. Was einerseits die charakterliche Unreife vieler Staatsbediensteter erklärt, andererseits auch deren schulterzuckende Gleichgültigkeit (‚Was können wir schon tun?‘). Gleichzeitig tendieren auch viele leitende Angestellte dazu, jegliche Form von Verantwortung panisch zurückzuweisen, schließlich waren auch sie bis zu ihrer Beförderung ebenso infantile Befehlsempfänger. Machtgier und Verantwortungsflucht sind die beiden wichtigsten Eigenschaften des russischen Bürokraten“ (S. 48). Diese Eigenschaften russischer Karrierediplomaten werden von einer nur sehr gering ausgeprägten Eigeninitiative und tiefem Misstrauen begleitet.

Das Misstrauen wird zusätzlich durch die ständige Präsenz von Geheimdienstmitarbeitern an allen russischen Botschaften genährt. Diese unter den Botschaftsmitarbeitern als „nahe Nachbarn“ (Mitarbeiter des SWR) und „ferne Nachbarn“ (Mitarbeiter des GRU) bezeichneten Kollegen genießen einen höheren Stellenwert als gewöhnliche Diplomaten (S. 53). Bondarew gibt hierzu ein Gespräch mit einem SWR-Agenten in der Botschaft wieder: „‘Wenn die mich hier einbuchten, sei es wegen irgendeiner Provokation, oder weil ich selbst Mist baue, wird Moskau alles tun, um mich rauszuholen. Bei dir dagegen wäre ich mir nicht sicher, ob irgendjemand einen Finger krumm macht, wenn dir was passiert‘“ (S. 58). Bondarew liefert für dieses Verhältnis auch gleich eine Erklärung: „Schon immer hat unser Präsident Geheimdienstinformationen mehr Vertrauen geschenkt als den Quellen des Außenministeriums oder anderer Behörden“ (ebd.). Damit wird plausibel, dass das Außenministerium schon längst kein eigenständiger Akteur mehr ist, sondern technokratischer Befehlsempfänger und Propagandaverstärker des Kremls (S. 105, 119, 149–150).

Die hier geschilderte Geisteshaltung spiegelt sich in der täglichen Arbeit der Diplomaten wider. Negative Meldungen sind nicht erwünscht, Niederlagen schon gar nicht. Und wenn doch einmal die russische Position bei anderen Staaten nicht verfängt oder überzeugt, könne es nur einen Schuldigen dafür geben: Washington bzw. der Druck aus dem State Department (S. 155). Überhaupt sind die USA nicht nur gepflegtes Feindbild, sondern insgeheim eine der Leitplanken der russischen Außenpolitik. Das, was die USA als Weltmacht tun und hinbekommen, müsse auch Russland können; unter diesem Anspruch macht es der Kreml nicht. Nur zeigt sich nicht selten und immer offener, dass dieser Anspruch nicht mit der Realität in Einklang zu bringen ist. Einige in der russischen Führung, so Bondarew, hätten dies auch verstanden, würden es aber nie wagen, dies offen vorzubringen oder gar politische Kursänderungen vorzuschlagen. „Die vernünftigsten Köpfe im Außenministerium wussten genau, dass wir niemals wirkliche Erfolge auf diplomatischem Gebiet erzielen würden, solange das […] erwähnte, offenkundig fehlgeleitete außenpolitische Paradigma des Landes (die Verschwörungserzählung vom ‚schädlichen Einfluss‘ des Westens) in dieser Form weiterbestand“ (S. 154).

Dieses zutiefst verdorbene System, so Bondarew, könne unter seinem derzeitigen Herrscher keine konstruktive Diplomatie hervorbringen. Zu tief seien die Muster der Unterwürfigkeit in den Köpfen verankert und zu lang wirke schon das Gift der offiziellen Propaganda. Aus dieser Tatsache müsse der Westen seine Schlussfolgerungen ziehen, die laut Bondarew darin bestünden, Stärke zu zeigen, wehrhaft und geduldig zu sein. Das Schlusskapitel macht noch einmal deutlich, dass sehr viel auf dem Spiel steht. Der Krieg gegen die Ukraine sei kein regionaler Konflikt, „sondern der Krieg aller Autokratien gegen die Demokratie. […] Wenn man Putin gewinnen lässt, was allein von der westlichen Militärhilfe für die Ukraine abhängt, ist das existierende System der internationalen Beziehungen, das auf den Grundsätzen und Zielen der UN-Charta beruht, am Ende“ (S. 217). Für die Position eines „Einfrierens“ des Konflikts und die vielbeschworene Formel nach einer Verhandlungslösung sieht der Autor zumindest mit Putin keine Zukunft: „Von der Illusion, man könne den Aggressor ‚besänftigen‘, müssen wir uns verabschieden! Auf Putin darf man sich nicht einlassen. Er ist absolut verhandlungsunfähig und hält sich weder an offiziell geschlossene Verträge noch an Vereinbarungen nach den in Russland üblichen ‚Diebesregeln‘. Um es mit Wolodymyr Selenskyj zu sagen: ‚Fragen Sie doch mal Prigoschin, ob man Putins Versprechen trauen sollte‘“ (S. 227). Das sind alles keine guten Nachrichten für eine baldige Verhandlungslösung. Und doch verweist Bondarew zum Schluss auch auf Positives und skizziert ein Nachkriegs-Russland ohne Putin. In diesem würde sich Moskau für das Leid am ukrainischen Volk entschuldigen und Reparationen zahlen. Und auch das russische Volk sehne sich nicht danach, wie in China, sondern wie in Europa zu leben. Ob es denn so kommt, weiß Bondarew natürlich auch nicht. Dass es allerdings noch kritisch denkende Menschen wie ihn in Putins Russland gibt, ist immerhin ein kleiner Lichtblick. Sein Buch sollte vor allem von denjenigen gelesen werden, die in Putin nach wie vor einen vertrauenswürdigen Verhandlungspartner sehen und die auch sonst wenig an seinem System zu kritisieren haben.

Über den Autor / die Autorin

Dr. Jakob Kullik

Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Internationale Politik der Technischen Universität Chemnitz

Online erschienen: 2024-11-29
Erschienen im Druck: 2024-11-27

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

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  13. Hassan Alhasan/Camille Lons: Gulf Bailout Diplomacy: Aid as Economic Statecraft in a Turbulent Region. London: IISS, Oktober 2023
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  26. Henry Farrell/ Abraham Newman: Underground Empire. How America Weaponized the World Economy. London: Allen Lane 2023, 278 Seiten
  27. Boris Bondarew: Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands. München: Wilhelm Heyne Verlag 2023, 255 Seiten
  28. Frank Bösch: Deals mit Diktaturen. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. C.H. Beck: München 2024, 622 Seiten
  29. Antje Nötzold/ Enrico Fels/ Andrea Rotter/ Moritz Brake (Hrsg.): Strategischer Wettbewerb im Weltraum. Politik, Recht, Sicherheit und Wirtschaft im All. Wiesbaden: Springer Nature, 2024, 883 Seiten
  30. Bildnachweise
Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-4018/html
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