Dapo Akande/Olivier Corten/Shotaro Hamamoto/Pierre Klein/Harold Hongju Koh/Paul Reichler/Hélène Ruiz Fabri/Philippe Sands/Nico Schrijver/Christian J. Tams/Philip Zelikow: On Proposed Countermeasures Against Russia to Compensate Injured States for Losses Caused by Russia’s War of Aggression Against Ukraine. London: International Institute for Strategic Studies, Mai 2024
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Dapo Akande / Olivier Corten / Shotaro Hamamoto / Pierre Klein / Harold Hongju Koh / Paul Reichler / Hélène Ruiz Fabri / Philippe Sands / Nico Schrijver / Christian J. Tams / Philip Zelikow: On Proposed Countermeasures Against Russia to Compensate Injured States for Losses Caused by Russia’s War of Aggression Against Ukraine. London: International Institute for Strategic Studies, Mai 2024
Seit etwa zwei Jahren wird in der westlichen Staatenwelt darüber diskutiert, ob es völkerrechtlich zulässig ist, in westlichen Staaten deponierte Vermögen des russischen Staates nicht nur zu beschlagnahmen und einzufrieren, sondern diese auch zur Kompensation von Schäden zu nutzen, die der Ukraine durch den unprovozierten Angriff Russlands entstanden sind. Während die US-Regierung im Prinzip dazu Bereitschaft signalisiert hat, zögern die europäischen Staaten, weil sie befürchten, dass dadurch der mühsam erreichte Status des Euro als weltweiter Reservewährung in Gefahr geraten könnte. Ungarn ist zudem völlig dagegen. Bislang konnten sich die G-7 darauf einigen, dass zumindest die Zinserträge der derzeit eingefrorenen Guthaben für den Wiederaufbau und möglicherweise auch die Finanzierung westlicher Waffenhilfe an die Ukraine Verwendung finden könnten. Das Internationale Institut für Strategische Studien hat im Mai 2024 ein Gutachten vorgelegt, welches sich mit dieser Thematik befasst. Es wurde von erfahrenen Völkerrechtlern und Praktikern aus Belgien, Frankreich, Deutschland, Japan, den Niederlanden, Nigeria, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten verfasst.
Die Autoren gelangen zu dem Ergebnis, dass es nach internationalem Recht rechtmäßig wäre, wenn Staaten, die russisches Staatsvermögen eingefroren haben, angesichts der anhaltenden Verletzung der grundlegendsten Regeln des Völkerrechts durch Russland, diese Vermögen als Entschädigung für den Schaden zurückhalten, der aus dem rechtswidrigen Verhalten Russlands resultiert. Betroffen wäre nur das russische Staatsvermögen. Es sollten keine neuen Maßnahmen für Vermögenswerte verhängt werden, die sich in Privatbesitz befinden.
Die Verfasser empfehlen, dass Entschädigungen über einen noch zu schaffenden internationalen Mechanismus erfolgen. Die betreffenden Regierungen würden das russische Staatsvermögen, das sich derzeit unter ihrer Kontrolle befindet, an diesen Mechanismus übertragen. Der Mechanismus sollte Programme unterstützen, die den Wiederaufbau der Ukraine betreiben. Der Mechanismus könnte auch die Befugnis und die Fähigkeit erhalten, Forderungen der Ukraine und anderer Geschädigter – öffentlicher und privater – Parteien entgegenzunehmen und zu prüfen und angemessene Entschädigungen im Einklang mit international vereinbarten Standards und Verfahren vorzunehmen. Der Gesamtbetrag der Entschädigung dürfe den Betrag nicht übersteigen, den Russland für den von ihm verursachten Schaden schuldet.
Sollte Russland schließlich ein Friedensabkommen unterzeichnen und seinen Verpflichtungen nachkommen, würden alle Vermögenswerte, die an die Ukraine oder andere geschädigte Parteien übertragen werden, Russland als Aufrechnung mit seiner Gesamthaftung gutgeschrieben.
Die Verfasser beteuern, dass kein Zweifel an der Rechtswidrigkeit des russischen Einmarsches in die Ukraine bestünde, ebenso wie an der Besetzung des ukrainischen Territoriums oder der Annexion großer Teile davon. Mit diesen Handlungen habe Russland gegen die grundlegenden Regeln des Völkerrechts verstoßen, die unter anderem in Artikel 2, Absatz 4 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, der die Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates verbietet. Dieses Prinzip sei in der Resolution 2625 (1970) der UN-Generalversammlung bekräftigt worden, der Erklärung über die Grundsätze des Völkerrechts über freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen Staaten. Diese Erklärung würde das Völkergewohnheitsrecht widerspiegeln und den gewaltsamen Erwerb des Territoriums eines anderen Staates für rechtswidrig und unzulässig erklären. Diese Regeln seinen ein Eckpfeiler der internationalen Rechtsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie bildeten das Fundament der regelbasierten Ordnung.
Die Autoren verweisen darauf hin, dass aufgrund der Verletzung dieser Grundprinzipien Russland dreimal in Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen verurteilt worden sei. Russland sei aufgefordert worden, seine bewaffnete Intervention in der Ukraine unverzüglich einzustellen, seine Streitkräfte vom ukrainischen Territorium abzuziehen und die Ukraine für den von russischen Truppen verursachten Schaden zu entschädigen. Am 16. März 2022 habe der Internationale Gerichtshof (IGH) einstweilige Maßnahmen gegen Russland angeordnet und Russland aufgefordert, seine militärischen Aktivitäten gegen die Ukraine unverzüglich einzustellen. Russland habe die Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen und die Anordnung des IGH über vorläufige Maßnahmen bislang ignoriert.
Angesichts einer derart eklatanten Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen eines Staates erlaube das Völkerrecht anderen Staaten, mit „Gegenmaßnahmen“ zu reagieren, die unter normalen Umständen nicht rechtmäßig seien. Auch Staaten, die durch das Verhalten Russlands nicht unmittelbar verletzt worden sind, sei es nach internationalem Recht gestattet, kollektive Gegenmaßnahmen gegen den das Völkerrecht brechenden Staat wegen schwerwiegender Verstöße zu ergreifen.
Als frühe Reaktion auf den rechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine hätten mehrere Staaten, in denen sich russisches Staatsvermögen befindet, Maßnahmen ergriffen, um dieses Vermögen einzufrieren, damit es nicht mehr zur Finanzierung des russischen Angriffskriegs zur Verfügung steht. Angesichts des enormen Ausmaßes an Schäden und Zerstörungen, die Russland der Ukraine während des über zweijährigen Krieges zugefügt hat, und mit Blick auf die immensen Kosten des Wiederaufbaus können diese Staaten die eingefrorenen Vermögenswerte – schätzungsweise 300 Milliarden Dollar – daher als Entschädigung für die Ukraine und andere Geschädigte verwenden. Nach internationalem Recht sei Russland verpflichtet, die Ukraine für alle von ihm verursachten Schäden zu entschädigen.
Das IISS hat diese Analyse in Auftrag gegeben, um die derzeitige innerwestliche Diskussion um die Zulässigkeit von Zugriffen auf russisches Staatsvermöge zu befördern. Im Juni 2024 wurde auf dem G-7 Gipfel in Italien immerhin die Bildung eines internationalen Mechanismus beschlossen, das dürfte als kleiner Etappensieg gewertet werden. Ob dadurch die Bedenken bei vielen Vertretern des europäischen Bankenwesens beseitigt worden sind, darf bezweifelt werden.
https://www.iiss.org/de-DE/research-paper/2024/05/on-proposed-countermeasures-against-russia-to-compensate-injured-states-for-losses-caused-by-russias-war-of-aggression-against-ukraine/
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
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