Reviewed Publication:
Cancian Marc F. U.S. Military Forces in FY 2022: Peering into the Abyss Washington, D.C. Center for Strategic & International Studies (CSIS) März 2022
In seiner jährlich erscheinenden Analyse und Bewertung der amerikanischen Streitkräfte betrachtet Marc F. Cancian vom Center for Strategic & International Studies (CSIS) für das Haushaltsjahr 2022 insbesondere die divergierenden Sichtweisen der Teilstreitkräfte und des Pentagon. Schon mit der Überschrift macht der Verfasser deutlich, dass er die Streitkräfte mit der Haushaltsplanung 2022 in Richtung Abgrund zusteuern sieht. Die geplante Nichterhöhung des Haushalts führe zu einem schnellen Schrumpfen der Streitkräfte und ihres Leistungsvermögens.
Nach einer Analyse der Interim National Security Strategy Guidance (INSSG) und der entsprechenden Haushaltsansätze bewertet er detailliert die daraus resultierenden Konsequenzen für die Army, die Navy, das Marine Corps, die Air Force sowie in einem Schlusskapitel für die Space Force, Special Operation Forces (SOF), die zivilen Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums und Auftragnehmer. Er kommt dabei auch zu der wohlbekannten Empfehlung einer Mischung aus hochgerüsteten Streitkräfteanteilen für einen möglichen Konflikt mit Großmächten und Streitkräften geringeren Leistungsvermögens für regionale Einsätze. Deren tatsächliche Zusammensetzung werde aber erst im Verlauf der Verhandlungen in 2022 bestimmt.
Für die Army steht zu befürchten, dass deren Gesamtstärke gekürzt wird, um Haushaltsmittel für Navy, Space und Air Force für Auseinandersetzungen mit China freizusetzen. Deshalb hätte sie ihren Stärkeansatz in der Hoffnung beibehalten, dass sie die selber vorgeschlagenen Kürzungen bei Modernisierung und Bereitschaft durch erwartbare Vorstöße von Kongress-Abgeordneten wieder wettmachen kann. Der Autor analysiert die geplanten Modernisierungen bei Bewaffnung, Ausrüstung und Strukturen ausführlich, um den Abgeordneten starke Argumente für deren Beibehaltung und Finanzierung an die Hand zu geben. Die Abgabe von Waffensystemen und Munition in Folge des Ukraine-Krieges und deren Wiederauffüllung für die Army dürfte aber zu erheblichen Diskussionen bei den fortschreitenden Haushaltsverhandlungen führen.
Die Navy stehe vor der großen Herausforderung, die seit 1988 begonnene Reduzierung von 588 auf heute 296 Schiffen umzukehren, die vor allem in ihrer Entscheidung begründet war, größere und leistungsfähigere und damit teurere Schiffe zu bauen. Gleichzeitig sei die politische Entscheidung zum weltweiten Einsatz in etwa gleichgeblieben und bedeute den täglichen Einsatz von circa 100 Schiffen. Die schon unter der Trump Administration begonnenen Überlegungen zum künftigen Aufwuchs auf 355 Plattformen mit am Ende in Teilen unbemannten Schiffen sei zwar von der Biden Administration übernommen und weiterentwickelt worden, bis heute jedoch noch nicht zu einem überzeugenden Ansatz gereift. Der Neubau von strategischen U-Booten (SSBN) und großen Flugzeugträgern der Ford-Klasse binde in den kommenden Dekaden einen Großteil der Haushaltsmittel und werde auch durch neue strategische Überlegungen kaum geändert werden. Die Navy sähe daher nur die Möglichkeit der vorzeitigen Außerdienststellung von Kreuzern und leichten Kampfschiffen (LCS), um Gelder für den benötigten Neubau von Fregatten als Arbeitspferde der Flotte zu generieren. Unbemannte Plattformen dürften erst nach 2030 ein Entwicklungsstadium erreichen, das zu einer neuen Mischung von Schiffen führen könnte.
Das Marine Corps wolle seine aktive Truppenstärke absenken, um Geld für die geplante Modernisierung freizusetzen. Künftig solle die Zahl leichterer amphibischer Schiffe zu Lasten heutiger großer Landungsschiffe erhöht werden. Damit könnten bis dato noch bestehende Forderungen weltweiter, vorne stationierter Truppenteile nicht mehr im bisherigen Umfang erfüllt werden. Kritiker bemängelten auch die Fokussierung auf den Westpazifik als künftigen Einsatzraum unter Ignorierung anderer globaler Konflikte.
Die Air Force hätte ihre Ausstattung und das Altern ihrer Flugzeuge stabilisieren können, kaufe aber nicht genügend neue Flugzeuge, um dies auch in der Zukunft zu gewährleisten. Damit dürfte die Zahl fliegender Staffeln eher zurückgehen und der früher geplante Aufwuchs auf 386 Einsatz-Staffeln unerfüllbar sein. Die Zahl unbemannter Flugzeuge dürfte bei 6 Prozent verharren. Die Diskussion um die notwendige Modernisierung der Träger von Nuklearwaffen hätte erst begonnen, werde sich aber in künftigen Haushaltsplanungen niederschlagen.
Space Force und Special Operations Forces befänden sich derzeit im Auf- bzw. Umbau. Es könnten daher zurzeit noch keine belastbaren Zahlen zu Personalumfängen und Materialausstattung geliefert werden.
Zusammenfassend kommt Cancian zu dem Schluss, dass – solange es keine neuen strategischen Vorgaben durch die Biden-Administration gibt – die Schere zwischen politischen Absichten und deren Umsetzung in Personalstärken und Ausrüstung weiter aufgeht und sich das System stetig dem Abgrund nähert. Es bedürfe insbesondere Entscheidungen zum künftigen Umgang mit China, Russland und regionalen Staaten, die eine von den USA gewünschte Stabilität gefährden.
https://www.csis.org/analysis/us-military-forces-fy-2022-peering-abyss
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© 2022 Jopp, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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