Michel Eltchaninoff: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten. Stuttgart: Tropen, 2022, aktualisierte Neuausgabe (aus dem Französischen von Till Bardoux), 222 Seiten
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Eltchaninoff Michel In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten Stuttgart Tropen 2022 aktualisierte Neuausgabe (aus dem Französischen von Till Bardoux) 1 222

Der russische Präsident Wladimir Putin gehört wohl zu den meist analysiertesten Staatsoberhäuptern. Bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine glaubten viele, besonders hierzulande, den Herrscher im Kreml zu kennen: einer, der Russland wieder groß und mächtig gemacht habe, der für Stabilität stehe und den Amerikanern ihre Grenzen aufzeige, dabei jedoch kein Hasardeur sei und sich (weitgehend) an Abmachungen halte. So das weitverbreitete, zugleich lückenhafte und romantisierte Bild Putins im Westen. Zahlreiche Fernsehdokumentationen, Interviews, Fach- und Populärwerke – angereichert durch nicht wenige unkritische Kitsch- und Jubelschriften – verdichteten das Narrativ von Russlands starkem Führer als – zumindest in seinem Land – allmächtigen Lenker, Manager und Problemlöser. Was hingegen weit weniger beachtet und betrachtet wurde, waren die vielfältigen Quellen und Einflüsse, aus denen sich das (welt-)politische, strategische und mittlerweile weltgeschichtliche Denken Putins speist. Oder anders gefragt: was wissen wir eigentlich über Putins Denken? In welchen Kategorien denkt, interpretiert, bewertet und handelt er schließlich?
Sicher, bis zur Erfindung eines zuverlässigen Hirnscanners oder der Möglichkeit, ausführlich mit Putin ins Gespräch zu kommen, können die Antworten auf diese Fragen nur Annäherungen an die Realität sein. Vieles hängt vom Fragesteller ab, von der Kenntnis und Auswahl der Quellen und auch von den Sprachkenntnissen, denn nicht alle für die Beantwortung dieser Fragen relevanten Quellen liegen übersetzt vor. Eingedenk dieser Schwierigkeiten ist es trotzdem lohnenswert, sich um ein besseres und fundiertes Verständnis zu bemühen, denn, so führt der französische Philosoph Michel Eltchaninoff in der Neuauflage seines Buchs In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten ein: „Tatsächlich ist Putin, das deutet sich in seinen Reden und seinem Handeln an, von bestimmten philosophischen Ideen beeinflusst“ (S. 10). Diese Ideen und Vorstellungen zahlreicher, zumeist russischer Denker und Intellektueller, aufzuzeigen und in das Putinsche Denken einzuordnen, ist Eltchaninoffs Ziel. Das gelingt ihm auf knapp 200 Seiten in außerordentlicher Weise. Die zehn Kapitel des Buchs, die nacheinander, aber auch einzeln gelesen werden können, sind durch den roten Faden verbunden, der – bildlich gesprochen – um Putins Kopf gesponnen wird. Bei dieser Unternehmung lässt der Autor nicht nur zahlreiche Weg- und Zeitgenossen des Präsidenten zu Wort kommen, sondern vertieft sich in die Originalschriften derjenigen Denker, die maßgeblich Putins Weltsicht beeinflusst haben. Als Bestimmungsgröße für Einfluss orientiert sich Eltchaninoff an Putins Redebeiträgen, in denen über die Jahre immer wieder mehr oder weniger bekannte russische Philosophen auftauchten. Die Summe dieses ideen- und philosophiegeschichtlichen Ausleuchtens bildet die Grundlage für Putins Verständnis von Russland in der Welt, den Beziehungen zum Westen und den Konfliktlinien, die sich daraus ergeben. Kurz um: Eltchaninoff zeigt nicht nur, welche Fragmente Putins Denken konstituieren, sondern auch, worauf sich die Welt wahrscheinlich noch einstellen muss. Seit dem 24. Februar 2022 hat Kremlologie oder Putinologie erneut Hochkonjunktur.
Die zentralen Fixpunkte in Putins Denkkosmos lassen sich auf wenige, aufeinander Bezug nehmende Schlüsselbegriffe und Konzepte verdichten. Hierzu zählen der russische Konservatismus (der Zwischenkriegszeit), der zaristische Imperialismus, der Eurasismus, das sowjetische Erbe und das neuere Sammelkonzept des Russischen Wegs bzw. der Russischen Welt. Die erste Frage, die sich bei alldem stellt, ist, ob wir es hierbei bereits mit einem geschlossen Gedankengebäude, sprich einer persönlichen oder gar offiziellen Ideologie zu tun haben. Eltchaninoff widerspricht dieser naheliegenden Vorstellung gleich zu Beginn: „Als politischer Lenker hegt Putin nicht den Wunsch, eine Staatsideologie nach sowjetischem Vorbild durchzusetzen. […] Wladimir Putin ist schließlich und vor allem eines: Realist. Er legt keinen Wert darauf, an irgendein ideologisches Joch gekettet zu werden, seinen Diskurs passt er den jeweiligen politischen Umständen an. Er möchte die Initiative behalten“ (S. 9–10).
Ob sich seit dem Krieg in der Ukraine eine neue faschistische Ideologie in Putins Russland herausgebildet hat bzw. noch herausbilden wird, ist offen. Die Transformation Russlands in ein quasi-diktatorisches System und die Propagandaoffensive des Kremls um den Buchstaben Z (sa pobedu – für den Sieg als eine Deutung) weisen indes in diese Richtung. Wenn es also – wie Eltchaninoff ausführt – keine geschlossene Putinsche Philosophie oder Ideologie gibt, dann müssen zumindest die einzelnen Versatzstücke, die instrumentell zum Einsatz kommen, näher betrachtet werden. Ein Wesentliches hiervon ist die sogenannte Konservative Wende (Putins), der ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Dieses Kapitel kann man als Wandel Putins lesen: vom einstigen Modernisierer zum verbitterten und verhärteten Autokraten. Eine andere Lesart ist, dass Putin vor allem in seinen ersten beiden Amtszeiten bestimmte Ansichten und Narrative ausprobiert und später weiterentwickelt hat – eine Art philosophischer Such- und Reifeprozess. Ob die in späteren Jahren zitierten russischen Philosophen in den Reden des Präsidenten Auslöser oder Ergebnis dieser Entwicklung waren, ist nicht ganz klar, aber im Grunde auch zweitrangig. Denn was bleibt, ist die Feststellung, dass im Laufe der Zeit, einige russische Denker zu Putins „Hausphilosophen“ (S. 47) avancierten.
Einer dieser Präsidenten-Philosophen ist Iwan Iljin, dessen Werke die obersten staatlichen und politischen Funktionsträger 2014 als Neujahrsgeschenke von der Präsidialverwaltung erhielten. Man stelle sich vor, Angela Merkel oder Olaf Scholz würden allen deutschen Beamten und Parteifunktionären ihre persönlichen philosophischen Klassiker zur Dienst- und Staatslektüre empfehlen. In autoritären und diktatorischen Systemen sind dieserart Lektüreempfehlungen nichts Ungewöhnliches. Was Putin bzw. sein Apparat damit bezweckte, war wohl, die denkerische Marschrichtung vorzugeben und die Gedankengebäude des Präsidenten verständlich zu machen. Iwan Iljin, eine jener Leitfiguren in Putins Philosophie-Pantheon, ist ein gutes Beispiel, wie (Elemente von) Überlegungen aus einer anderen Zeit für die Gegenwart nutzbar gemacht werden sollen.
So scheint Putin, gleich mehrere gedankliche Anleihen aus Iljins antikommunistischen Werken entnommen zu haben: Ideen für seine sogenannte Vertikale der Macht bzw. souveräne Demokratie, ebenso wie die Furcht vor der Zerstückelung Russlands durch ausländische Mächte (S. 56–58). Eltchaninoff führt aus: „Für Iljin sind manche ‚Volksstämme‘ nicht imstande, Staaten zu werden, und müssten daher unter der Kontrolle benachbarter Staaten bleiben“ (S. 58). Sollten diese Passagen tatsächlich Putin zum Handeln inspiriert haben, ergeben Putins Reden und Artikel, in denen er der Ukraine ihre historische und staatliche Selbstständigkeit abspricht, durchaus Sinn. Die Geringschätzung der ‚kleinen Brudervölker‘ ist dabei nicht neu. Schon der Topos vom Nahen Ausland, der nach dem Zerfall der Sowjetunion Einzug in den offiziellen Sprachgebrauch Moskaus hielt, zeugt von der imperialen Sichtweise der Russische Föderation auf ihre mittlerweile souveränen Nachbarstaaten.
Was im Buch deutlich wird, sind die zahlreichen theoretischen Verflechtungen und Entlehnungen zwischen russischen und westeuropäischen Denkern und Strömungen. Am Beispiel von Alexander Dugin – von einigen als Putins „Guru“ (S. 105) bezeichnet – wird dies offenbar. Auch wenn der tatsächliche Einfluss Dugins auf den Präsidenten und die Außenpolitik als eher gering einzuschätzen ist, so sind seine in Buchform und über Medien verbreiteten Theorien und Thesen nicht zu verachten. Ob Putin von ihnen beeinflusst wurde, ist nur schwer nachzuvollziehen. Laut Eltchaninoffs zitierten Quellen aus dem Umfeld des Präsidenten wohl eher nicht. Dennoch, „von der gewaltigen medialen Aktivität des Neoeurasiers wird Putin zwangsläufig beeinflusst“ (S. 105). Dugins Ansichten seien „eine seltsame Mischung aus Eurasismus und Doktrinen, die mit der extremen Rechten in Verbindung stehen. Er ist bedingungsloser Fan von Carl Schmitt und dem Schöpfer des Nationalbolschewismus Ernst Niekisch“ (ebd.). Genauso wie Teile von Iljins Thesen in Putins Reden zu neuem Leben erweckt werden, kann man auch Dugins Ansichten eine gewisse Wirkmächtigkeit nicht absprechen – wenn schon nicht unmittelbar auf den russischen Präsidenten, dann vielleicht auf seine Entourage und das propagandagesättigte russische Publikum. Insgesamt scheint es so, als ob Iljin, Dugin und all die weiteren Namen, die im Buch genannt werden, nur austauchbare Zutaten in einer vom Präsidenten gewürzten Gedanken-Suppe sind. Wem diese schmecken soll bzw. zu schmecken hat, entscheidet am Ende Putin.
Für die eher an Außenpolitik und strategischen Fragen interessierten Leser halten Putins Denker und Kreml-Philosophen einiges Interessantes bereit. Ausführungen wie jene von Dugin zur Ukraine aus dem Jahr 2008 können seit dem 24. Februar als prophetisch gelesen werden: „Wir können nicht ausschließen, eine Schlacht um die Krim und um die Ostukraine führen zu müssen“ (S. 107). Wie weit Putin noch gehen wird, ob die Ukraine nur die erste Etappe in einem viel größer angelegten Plan zur Neuordnung Europas ist, wissen wir nicht. Folgen wir indes den Gedanken der Philosophen, die Putin womöglich beeinflusst haben, ist dies erst der Anfang. Für Europa bedeutet das, dass nicht nur um die Ukraine gekämpft wird, sondern um die normativen Grundfesten des Westens. Michel Eltchaninoffs Buch ist für das Verständnis dieser Zusammenhänge wie für die Entwicklungen, die drohen, eine wertvolle Lektüre. Ungeachtet, ob Putin noch länger an der Macht bleibt oder nicht, weitere Neuauflagen dieses Buchs scheinen gewiss.
About the author
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft
© 2022 Kullik, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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