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Rush Doshi The Long Game. China’s Grand Strategy to Displace American Order New York Oxford University Press 2021 1 459

Rush Doshi (PhD der Princeton Universität) hat ein gewichtiges Buch zu Chinas strategischem Denken und Handeln vorgelegt. Die Quellengrundlage besteht aus chinesischen Originaldokumenten. Der Inhalt des Buches gewinnt dadurch besondere Bedeutung, dass der Autor im National Security Council des Weißen Hauses seit dem Amtsantritt Joe Bidens für die strategische Ausrichtung der amerikanischen China-Politik verantwortlich ist. Bemerkenswert ist gleichzeitig, dass er fest in ein Netzwerk von Experten integriert ist, zu denen u. a. Elbridge Colby, Wess Mitchell und Hal Brands gehören.
Nach einer Einführung, die drei Unterkapitel umfasst, gliedert sich das Buch in drei große Teile. In der Einführung werden die konzeptionellen Grundlagen der staatsoffiziellen chinesischen Außenpolitik dargelegt. In den drei chronologisch geordneten Haupteilen geht Doshi zunächst auf die in den Jahren 1989 bis 2008 gewählte Strategie Chinas ein (abstumpfen des Einflusses der USA), die noch durch das Erbe Deng Xiaopings geprägte ist. Dann betrachtet er die Jahre der Finanzkrise bis zum Wahlsieg Trumps, 2009 bis 2016, als das Selbstbewusstsein der Volksrepublik durch Amerikas zeitweisen Rückzug von der Weltbühne befördert wurde (aktiv etwas erreichen können). Im dritten Teil, 2017 bis heute, geht er auf die Strategieannahme ein, dass sich die Gegenwart seit Trump und danach als „große Gelegenheit des Handelns“ für China anbietet, wie es sie „in einem Jahrhundert“ nicht gegeben hätte (Brexit, Trump, Covid). Zum Abschluss wird in einer Zusammenfassung die bekannte amerikanische Abstiegsdebatte und das Moment des Handelns durch eine klug ausformulierte US-Strategie thematisiert. Die Gliederung spiegelt damit sogleich ein Hauptargument des Buches wider; mithin ein Argument, das deutschen Debatten der letzten Jahre fremd war und auch seit der im Februar ausgerufenen „Zeitenwende“ weiterhin fremd ist.
Im Kern geht es dabei, auch wenn Doshi dies im Buch nicht in solche Kategorien fasst, um analytische Fragen nach strategischer Stärke und Schwäche. Dazu gehören auch Fragen der Fehlwahrnehmung, die auf ideologischen Weltbildern beruhen können, z. B. das vom dekadenten Westen. Dahinter steht auf chinesischer und amerikanischer Seite jeweils ein Selbstverständnis eigener Größe und der unbedingte Wille, dominante Weltmacht zu bleiben und den Herausforderer zu schwächen (USA) oder dominante Weltmacht zu werden (China). Dabei wird von beiden Seiten versucht, durch eigenes Wachstum und Ausnutzen der gegnerischen Schwächen Vorteile zu erringen. Das antagonistische Verständnis, das den Strategien der beiden Akteure zugrunde liegt, könnte mithin nicht stärker klassisch realistisch sein. Hans Morgenthau hätte das Buch gewiss begrüßt.
Erstaunlich bleibt die Tatsache, dass der Verfasser die Vorstellung eines Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und China für unwahrscheinlich hält. Die Zuspitzung des antagonistischen Verhältnisses, die Doshis Chronologie deutlich herausarbeitet, wird somit wieder entschärft. Der Verfasser rekurriert auf Lee Kuan Yew, der betonte, dass der wiedererwachte Sinn für eine nationale Bestimmung Chinas eine „overpowering force“ (zitiert auf S. 6) sei und dass China weiter fortschreiten werde, die USA als Weltmacht zurückzudrängen und weltweit Basen aufzubauen. Aber all das führe nicht zu Krieg, so Doshi weiter, weil Krieg zwischen den Großmächten USA und China heute aufgrund der nuklearen Revolution unwahrscheinlich sei. Er spricht eher davon, dass die Natur der Großmachtkonkurrenz die Möglichkeit eines Übergangs short of war erlaube (S. 3). Da sich der Autor damit der vielfach geführten Debatten zur politischen Neukalibrierung strategischer Abschreckungsfragen entzieht, bleibt dies eine Schwäche Buches. Dass Doshi die Möglichkeit des Krieges zwischen den USA und China nicht explizit thematisiert, heißt gleichwohl nicht, dass seine Argumentation nicht dennoch viele Hinweise liefert, die just diese Möglichkeit eröffnen.
Das Hauptargument seines Werks lautet dabei: Im Kern geht es in der amerikanisch-chinesischen Konkurrenz seit dem Ende des Kalten Krieges um regionale Fragen und immer mehr um die globale Ordnung. Diese Konkurrenz ist hauptsächlich durch Strategien der aufstrebenden Macht China bestimmt, wie man einen etablierten internationalen Hegemon – die USA – verdrängen kann (S. 3)
Hegemoniale Führungsmächte wenden im wesentlichen drei Formen von Machtkontrolle an, um das Verhalten anderer Staaten in eigenen Sinne zu lenken: die Fähigkeit zur Ausübung von Zwang, die Schaffung von Anreizen zur Kooperation und die Herstellung eines Narrativs der Legitimität. Doshi geht davon aus, dass aufstrebende Staaten wie China zwei Strategien wählen, mit denen sie dem etablierten Hegemon entgegentreten: die eine ist das Bemühen, den Einfluss des Hegemons zu durchkreuzen und abzustumpfen (blunting), die andere ist, die drei oben genannten Formen der Kontrolle nach und nach über andere Akteure auszuüben. China, so der Verfasser, sähe sich selbst derzeit in einem Zeitfenster, in dem es Chancen für die globale Ausweitung seines Einflusses hätte, wie noch nie in den letzten 100 Jahren (Seite 3).
Doshi zeichnet die zu erwartende Ordnungsvorstellung Chinas in einem Unterkapitel nach: Die Volksrepublik wolle eine Zone des übergeordneten Einflusses in seiner Nachbarschaft schaffen und partielle Hegemonie über jene Entwicklungsländer herstellen, die im Rahmen des Seidenstraßeninitiative (Belt-and Road-Initiative) mit ihm verbunden sind. Diese Hegemonie solle auch nach und nach auf die entwickelten Regionen ausgedehnt werden. Dies entspräche der Vision Maos, wonach man die Städte am besten erobern könne, wenn man sie vom Land her einkreise (S. 303).
Im Einzelnen erwachse daraus, so Doshi, eine politische, wirtschaftliche und militärische Ordnungsvorstellung, die die amerikanische Schwäche folgendermaßen ausnutze: Politisch wolle Peking eine führende Rolle in internationalen Institutionen und bei internationalen Verhandlungen zu globalen Themen übernehmen. Ziel sei es, liberale Normen durch autokratische zu ersetzen und den Einfluss der USA und des Westens zurückzudrängen, indem auch Divergenzen zwischen den USA und ihren Verbündeten verschärft werden. Ökonomisch ziele China darauf ab, die finanziellen Vorteile zu unterminieren, die die amerikanische Vorherrschaft konstituieren und vor allem die Führung im Bereich der Vierten Industriellen Revolution an sich zu reißen. Die USA sollen zu einer de-industrialisierten, englischsprachigen Variante einer lateinamerikanischen Republik reduziert werden, die noch Vorteile in bestimmten Branchen (Immobilien, Tourismus) habe, aber ansonsten zweitrangig sei und vielleicht noch für Zwecke der Steuervermeidung interessant wäre. Militärisch gesehen solle die Volksbefreiungsarmee eine erstklassige Streitmacht werden, die Basen in allen Teilen der Welt unterhalte, um dem Einfluss Chinas überall zu dienen und die auch in neue Domänen gehe, wie den Weltraum, die Polregionen oder die Tiefsee (S. 302 f.).
Was Doshi hier akribisch darstellt, ist die Wahrnehmung Chinas, dass Peking dieser Verdrängungsprozess gelingen wird. Aus Sicht des Autors kann diese Verdrängung Amerikas friedlich gelingen. Das ist aber keineswegs gesichert. Nicht zuletzt geht es hier um die Verdrängung der Vereinigten Staaten aus ihrer globalen Machtposition und damit ihrer Führungsposition sowie um das Überleben einer liberalen internationalen Ordnung. Der von Doshi beschriebene fundamentale Einschnitt in die gegenwärtige Machtkonfiguration mit ihrem liberalen, regelbasierten bias würde die amerikanische Vorherrschaft global beenden. Der Rezensent sieht den Machtanspruch Chinas als legitim an, erkennt aber nicht, dass die USA diesen Anspruch dort, wo Peking eine Entscheidung erzwingen will, ohne Krieg beantworten würden. Dass dieser Krieg, entgegen der Annahme Doshis, dabei unterhalb der nuklearen Schwelle stattfinden könnte, bleibt unbenommen.
Der robuste, im Notfall kriegerisch behauptete Unwille Amerikas, die Führung der Weltordnung abzugeben, schimmert bei Doshi, ohne explizit zu werden, erst in der Zusammenfassung durch, die die altbekannte decline/declinism-Debatte mitsamt ihrer fünf Entwicklungsstufen aufnimmt (S. 332). Dort führt er die speziellen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorteile auf, die Amerika im Antagonismus mit China zugutekommen, ohne seine innergesellschaftlichen Verwerfungen zu unterschätzen (S. 333). Aber er bleibt den Beweis schuldig, dass der Widerstand der USA nur im zivilen Bereich stattfinden wird. Es ist unwahrscheinlich anzunehmen, dass Amerika seiner eigenen Verdrängung durch China nicht seine gesamte Macht entgegenstellen wird. Die Herausforderung durch China ist vielmehr überparteilich akzeptiert und die Gefahr, die von China ausgeht, klar benannt. Der Wille, Peking zu widerstehen, auch.
About the author
Non-Resident Senior Fellow
© 2022 Terhalle, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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