Home An der Schwelle zum Dritten Weltkrieg – Welche Risiken darf der Westen im Ukraine-Krieg eingehen?
Article Open Access

An der Schwelle zum Dritten Weltkrieg – Welche Risiken darf der Westen im Ukraine-Krieg eingehen?

  • Joachim Krause

    Wissenschaftlicher Direktor

    EMAIL logo
Published/Copyright: September 9, 2022

Kurzfassung

Die führenden westlichen Mächte USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland liefern zwar Waffen an die Ukraine, konditionieren aber stark das Ausmaß der Lieferungen sowie das sonstige Niveau ihrer Unterstützung. Hauptsächlich gelte es einen Weltkrieg mit nuklearer Eskalation zu vermeiden. Experten und frühere hochrangige Generäle kritisieren zunehmend diese Restriktionen, die sich an Konzepten der Rüstungskontrolle aus den 60er Jahren orientieren. Sie argumentieren, dass Russland weder die Absicht habe noch die Mittel besitze, den Krieg zu eskalieren – es sei denn, es wolle einen selbstmörderischen Nuklearkrieg beginnen. Außerdem lasse Russland keine Anzeichen von Restriktionen erkennen. Die derzeitige Fokussierung auf das Vermeiden eines Dritten Weltkriegs dürfte die Ukraine in absehbarer Zeit in eine unhaltbare Lage bringen. Dann bliebe den westlichen Staaten nur die sehr kostspielige Option, die Ukraine dauerhaft wirtschaftlich und militärisch über Wasser zu halten oder ihr einen Waffenstillstand aufzuzwingen, der bestenfalls eine militärische Pause bis zum nächsten russischen Angriff darstellen wird. Die Gefahr eines Weltkriegs könnte durch die westliche Politik der Vorsicht eher zu- denn abnehmen.

Abstract

The leading Western powers (USA, United Kingdom, France, and Germany) send substantial amounts of weapons to Ukraine, however these deliveries as well as concomitant military assistance activities are subject to conditions and restrictions. Their purpose is to avoid a direct confrontation with Russian troops and to prevent the danger of an escalation ushering into nuclear confrontation. These restrictions and conditions are based on arms control thinking from the 1960s and are subject to criticism from former Generals and strategic experts. They argue that Russia had neither the intention nor the means to escalate the war – except from a nuclear escalation, which, however, would go along with incalculable risks for Russia itself. The current mix of conditions and restrictions might put Ukraine in an untenable position. As a consequence, the Western states would be left with two unattractive options: either to support Ukraine indefinitely both militarily and economically, or to force the Ukrainian leadership into a cease-fire agreement with Russia, which would only be an interim step towards a new Russian invasion. The Western policy of caution might rather increase than decrease the risk of the outbreak of World War III.

1 Einleitung

In der Antwort der westlichen Staatengemeinschaft auf Russlands militärische Bedrohung der Ukraine und auf die im Februar 2022 erfolgte Invasion hieß es stets, dass der Ukraine geholfen werden müsse. Andererseits sei aber alles zu vermeiden, was sich zu einem neuen Weltkrieg auswachsen könnte. Es dürfe keine direkte Konfrontation Russlands mit NATO-Truppen geben, insbesondere nicht mit amerikanischen, und Russland keinerlei Anlass gegeben werden, den Krieg zu eskalieren. Diese von der amerikanischen, aber auch der britischen, französischen und deutschen Regierung geteilte Ansicht ist vielerorts auf Kritik gestoßen. Der Vorwurf lautet vor allem, die westlichen Regierungen verhielten sich ähnlich zögerlich wie Frankreich und Großbritannien in den 30er Jahren angesichts der militärischen Übergriffe des Dritten Reiches. Denn Russland habe mit seinem Ultimatum vom Dezember 2021 gezeigt, dass es viel weitgehendere Ziele verfolge und man der Ukraine, die letztlich auch für die Freiheit aller Europäer kämpfe, weit mehr Beistand leisten müsse.

Der Vergleich mit den späten 30er Jahren ist allein deshalb unangebracht, weil das heutige Russland über Kernwaffen verfügt, die Hitler nicht hatte. Doch zwei Fragen sind zu klären: (1) Ist Russlands Krieg nicht ohnehin ein Krieg gegen den Westen? Falls ja, wäre es nicht sinnvoller, die in der Ukraine erkennbar gewordene militärische Schwäche Russlands auszunutzen, um der drohenden Gefahr weiterer russischer Aggressionen entgegenzuwirken? (2) Haben die westlichen Staaten wirklich sämtliche Möglichkeiten ausgeschöpft, der Ukraine wirksam militärisch zu helfen, ohne die Eskalation in einen Dritten Weltkrieg zu riskieren? Im Folgenden wird versucht, diese Fragen zu beantworten.

2 Russlands Kriegsziele und wie sie uns betreffen

In der westlichen Debatte stehen sich zwei unterschiedliche Einstellungen zum russischen Überfall auf die Ukraine gegenüber: Die eine Seite sieht darin einen primär bilateralen Konflikt, mit dem Russland die Ukraine einverleiben oder zerstören oder zumindest Vorherrschaft ausüben will über ein Land, das sich heldenhaft wehrt, aber vermutlich nicht mehr als einen Restbestand wird verteidigen können und irgendwann ohnehin dem russischen Herrschaftsbereich zufallen wird. Für die andere Seite ist der Krieg der Start eines von langer Hand geplanten russischen Versuchs, die europäische Sicherheits- und Friedensordnung zu zerstören. Der Ukraine würden weitere Länder, auch NATO-Staaten, folgen, bis NATO und EU beseitigt oder wirkungslos geworden sind und in Europa eine Friedensordnung herrscht, die sich an Russlands imperialen Interessen orientiert.[1] Für letztere Interpretation sprechen der Wortlaut des – an die NATO gerichteten – Ultimatums vom Dezember 2021 sowie Putins vielerorts erklärte Absicht, sowohl die NATO als auch die Europäische Union zu zerstören. Auch die brutale, auf Vernichtung der Ukraine und ihrer Menschen zielende Kriegsführung spricht dafür. Seit Hitlers Überfall auf Polen (und Stalins Überfall auf Finnland) im Jahr 1939 hat es in Europa in Friedenszeiten keinen derartigen Angriff gegeben. Putins Russland stellt für den Frieden in Europa eine vergleichbare Gefahr dar wie seinerzeit das Dritte Reich.

Folgt man der ersten Interpretation, so ist der Krieg in der Ukraine zwar tragisch, Russlands Invasion aber übliches Großmachtverhalten und man täte gut daran, den Schaden gering zu halten. Waffenlieferungen seien daher kontraproduktiv, vielmehr diplomatische Schritte zur Schadensbegrenzung angesagt.[2] Der zweiten Interpretation zufolge müsse man der Ukraine alle denkbare Hilfe gewähren – militärisch wie ökonomisch, technisch und humanitär. Nur so lasse sich erreichen, dass der russische Einmarsch misslingt und Russland sich zurückziehen muss. Das heißt nicht zwingend, dass westliche Truppen aktiv in die Kämpfe gegen russische Einheiten eintreten, sondern dass es alle Möglichkeiten des militärischen Beistands auszuschöpfen gilt, den die Ukraine benötigt, um die russischen Invasionstruppen zu vertreiben.[3]

Der paradoxe Befund lautet: Politik und die meisten Kommentatoren und Kommentatorinnen gelangen zunehmend zu der Einschätzung, dass Russland in der Ukraine tatsächlich einen Krieg gegen den Westen und die Demokratien führt,[4] doch das politische Handeln in den USA, Frankreich, Großbritannien und Deutschland weist immer noch in die Richtung der Empfehlungen der ersten Perspektive. Dieser Widerspruch ist verschiedentlich angesprochen worden, doch Einigkeit unter den führenden westlichen Staaten über die mit der Unterstützung der Ukraine verbundenen politischen und militärischen Ziele besteht noch immer nicht.[5] Vielmehr ist die Politik in Washington, London, Berlin und Paris durch eine Widersprüchlichkeit gekennzeichnet, die nichts Gutes verheißt. Der Aussage von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Ukraine dürfe den Krieg nicht verlieren, schenkt kaum noch jemand Glauben, nachdem bekannt wurde, dass sein Kanzleramt Anstrengungen unternommen hat, um Lieferungen von schweren Waffen an die Ukraine hinauszuzögern.[6] Befremden löste auch die – vermutlich völlig korrekte – Behauptung der parlamentarischen Staatssekretärin im Verteidigungsministerium Siemtje Möller aus, laut der es innerhalb der NATO eine Absprache gäbe, der Ukraine keine schweren Waffen zu liefern.[7] US-Präsident Joseph Bidens Worte, die USA seien wie im Zweiten Weltkrieg die „Waffenkammer der Demokratien“,[8] klingen mittlerweile nur sehr schwach nach. In einem späteren Beitrag für die New York Times hängte er die Zielvorgaben weitaus niedriger.[9] Und Präsident Emanuel Macron warnt schon wieder, man solle Putin nicht demütigen.[10] Vor allem Macron aber auch Scholz wurden von Politikerinnen und Politikern aus dem Baltikum und Osteuropa heftig kritisiert.

 Sitzung der Ukraine Defense Consultative Group am 15. Juni 2022

Sitzung der Ukraine Defense Consultative Group am 15. Juni 2022

Zwar gibt es mittlerweile einen von den USA organisierten Prozess der westlichen Koordination der Militärhilfe für die Ukraine, an der Vertreter von über 40 Staaten und auch der Ukraine teilnehmen – die Ukraine Defense Consultative Group. Im Ergebnis sind eine Vielzahl von Lieferungen an die Ukraine erfolgt und konnte die Koordination unter den Staaten verbessert werden. Trotz dieser beeindrucken Hilfsaktivitäten blieb es bei der Zurückhaltung bezüglich der Qualität von gelieferten Waffen Seitens der vier wichtigsten westlichen Mächte.

Als Hauptargument für diese Zögerlichkeit wird stets die Gefahr eines Weltkriegs beschworen, die sich bewahrheiten werde, wenn man Russland zu sehr reize – etwa durch Waffenlieferungen, die bestimmte „rote Linien“ überschritten.[11] Tatsächlich hätte Russland Möglichkeiten der Eskalation bis hin zum Einsatz von Kernwaffen. Aber worin bestehen diese? Wie wahrscheinlich sind sie und wo liegen die „roten Linien“? Auf all diese Fragen bekommt man in der Politik keine Antworten, zumindest keine präzisen. Deshalb versucht der nächste Abschnitt, die Problematik etwas zu schärfen und mögliche Lösungen zu finden. Die Ausgangsfrage lautet: Welche Optionen hätte die NATO (oder hätten die führenden westlichen Staaten), der Ukraine zu helfen, ohne direkt in den Kampf einbezogen zu werden und das Risiko eines Kernwaffenkriegs einzugehen? Letzteres ist selbstverständlich ernst zu nehmen, aber im Sinne dessen, was die russische Militärdoktrin vorsieht. Ihr zufolge schließt Russland den Einsatz von Kernwaffen gegen eine konventionell vorgetragene Invasion dann nicht aus, wenn die Existenz der Russischen Föderation auf dem Spiel steht. Etwas unklarer bleibt die Doktrin bezüglich der Möglichkeiten, in regionalen Kriegen eine Eskalationsdominanz herzustellen.[12] Daher muss man sich fragen, ob die führenden westlichen Staaten ihre Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Und wenn nicht, wie stichhaltig sind die Argumente der Vorsicht?

3 Genutzte und nicht genutzte Möglichkeiten militärischer Hilfe des Westens

Um zu bestimmen, ob der Westen seine Möglichkeiten ausgeschöpft hat, ist zunächst zu klären, welche bestehen oder bestanden haben und in welchem Maß sie ausgenutzt worden sind. Anfangen muss man bei den Hilfen, die im Vorfeld des Kriegs hätten wirksam werden können. Der Überfall kam ja nicht ohne Vorbereitungen. Diese liefen im März 2021 an und ab September nahm der Truppenaufmarsch ein Ausmaß an, dass die bevorstehende Invasion abzusehen war.[13] Vor allem nach dem Ultimatum im Dezember 2021 war klar, dass eine militärischen Intervention gegen die Ukraine bevorstand – Putin hatte sich mit seinem Ultimatum jeglichen anderen Weg verstellt.[14]

In dieser Phase hätten vor allem die USA und Großbritannien als Garantiemächte des Budapester Memorandums von 1994 Maßnahmen ergreifen können oder müssen, um Russlands Invasion abzuwehren.[15] Das wäre durchaus möglich gewesen, ohne einen Krieg zu riskieren. Es hätte aber auch die NATO im Rahmen der Partnership for Peace eingreifen können, denn die entsprechenden Vereinbarungen von 1994 sahen Konsultation mit der NATO für den Fall vor, dass ein Kooperationspartner seine territoriale Integrität gefährdet sieht.[16] Als stärkste Maßnahme hätten die NATO oder die USA und Großbritannien angesichts des russischen Aufmarschs in der Ukraine gemeinsame Manöver mit ukrainischen Streitkräften abhalten können. Das hätte ein eindeutiges Signal an Moskau gesandt und Putin gezwungen, die direkte Konfrontation mit den USA zu suchen – was er in Anbetracht von 90.000 US Soldaten in Europa kaum gewagt hätte.

Nichts dergleichen fand statt. Zwar forderten republikanische Senatoren im November 2021 Präsident Biden auf, Truppen in die Ukraine zu entsenden, um Russland von einem Einmarsch abzuhalten.[17] Aber Biden lehnte ab. Im Rahmen einer Videokonferenz mit Präsident Putin am 7. Dezember 2021 machte er deutlich, dass Putin im Fall eines Krieges höchstens ernsthafte ökonomische Konsequenzen zu erwarten habe.[18] Zudem erklärte Biden, dass sein Land nicht zur Verteidigung der Ukraine einschreiten werde.[19] Als die Invasion kurz bevorstand, wurden amerikanisches Militärpersonal und das Personal der diplomatischen Missionen abgezogen.[20] Auch die europäischen Regierungen (Deutschland, Frankreich, Großbritannien) drohten Putin lediglich mit strengen Wirtschaftssanktionen für den Fall eines Einmarschs. Aus russischer Sicht musste das bedeuten: die USA und Europa erkennen das Gebiet der Ukraine als russisches Einflussgebiet an und werden nicht einschreiten, sollte sich Russland zu einer Invasion entscheiden. Für die zu erwartenden Sanktionen hatte Putin vorgesorgt: Die größte europäische Volkswirtschaft Deutschland war derart stark in die russische Energieabhängigkeit geraten, dass die Auswirkungen der Sanktionen im Energiebereich mit Gewissheit milde ausfallen und auch die Folgen der Ausschließung Russlands aus dem SWIFT begrenzt bleiben würden.

Es ist bis heute rätselhaft, warum Präsident Biden unbedingt erklären musste, dass die USA nicht zur Verteidigung der Ukraine eingreifen würden? Das hätte er auch offen lassen oder vieldeutig auf das Budapester Memorandum verweisen können. Die US-Administration versuchte zwar wiederholt, durch Veröffentlichung geheimer russischer Dokumente Russland von einer Invasion abzuhalten, aber der Erfolg blieb aus.[21] Irritierenderweise erklärte Biden im Januar 2022 überdies, dass die amerikanische Reaktion bei einer kleinen Invasion deutlich schwächer ausfallen werde als bei einer umfassenden Aggression.[22] Erschwerend kam hinzu, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky nicht an eine russische Invasion glaubte und die Warnungen der Biden-Regierung in den Wind schlug und diesen noch kritisierte.[23]

Die öffentlich erklärte Begrenzung westlicher Gegenmaßnahmen auf Wirtschaftssanktionen hat Putins Risikokalkül sicherlich nicht unwesentlich beeinflusst und könnte den Ausschlag für seine Entscheidung gegeben haben, den Angriff tatsächlich auszuführen. Zwei Alternativen hätte es für die USA und Großbritannien als Garantiemächte des Budapester Memorandums gegeben: entweder eine klare Parteinahme zugunsten der Ukraine, indem westliche Staaten – allen voran die Garantiemächte USA und Großbritannien – gemeinsame Militärmanöver mit ukrainischen Streitkräften auf dem Territorium der Ukraine abhalten, oder Stellungnahmen des amerikanischen Präsidenten, die ein militärisches Eingreifen der USA nicht kategorisch ausschließen. Vermutlich wurden diese Alternativen nicht gewählt, weil man der Ukraine keine militärischen Chancen einräumte und/oder weil die amerikanische Regierung nicht wirklich willens war, sich gegen Russland zu stellen.

Mit Beginn des Überfalls und als erkennbar wurde, dass sich die Ukrainer mannhafter und effektiver wehrten als erwartet, änderte sich die Haltung der USA und mit ihr die der anderen führenden westlichen Staaten. Nunmehr lieferten die USA und Großbritannien – und mit sehr großem Abstand auch Frankreich und Deutschland – sogenannte „defensive“ Waffen. Das waren Infanterie Panzerabwehrwaffen und Flugabwehrgeräte.[24] Außerdem lancierte der amerikanische Außenminister Anthony Blinken die Idee, Polen könne eine Staffel von knapp 30 Mig-29 Abfangjäger an die Ukraine liefern und dafür von den USA F-16 Flieger erhalten. Seine Idee war gut, denn sie hätte der in der ersten Kriegsphase schwer geschädigten ukrainischen Luftwaffe ermöglicht, sich weit besser gegen russische Kampfflugzeuge und insbesondere gegen weitreichende Marschflugkörper zu wehren. Der Plan scheiterte, nachdem die polnische Regierung auf ihn eingegangen war und vorschlug, die Flugzeuge über Ramstein an die USA und von dort an die Ukraine ausliefern zu lassen. Hauptgrund für die Ablehnung der Biden-Administration war, die Flugzeuge könnten für Angriffe tief ins russische Hinterland genutzt werden. Dann hätte die russische Regierung die USA oder die NATO als Kriegsgegner betrachten und den Krieg ausweiten können. Und das hätte Krieg zwischen NATO und Russland und möglicherweise den Einsatz von Kernwaffen bedeutet.[25]

Infolge dieser zurückhaltenden Entscheidung ist die Ukraine seither den Angriffen Russlands mit Marschflugkörpern gegen Ziele tief im rückwärtigen Raum weitgehend hilflos ausgesetzt. Ungefähr 2.500 Angriffe mit Marschflugkörpern und ballistischen Raketen hat Russland gegen Ziele in der Ukraine ausgeführt. Die Marschflugkörper wurden entweder durch Flugzeuge gestartet, die von russischem oder belarussischem Territorium aus operierten, oder durch auf dem Schwarzen Meer patrouillierende Kriegsschiffe. Zusammen mit Artillerieangriffen wurden so mehr als die Hälfte der ukrainischen Industrie und so gut wie alle Waffen- und Munitionsfabriken vernichtet.[26] Die Zerstörung militärischer Flughäfen setzte die Operationsfähigkeit der ukrainischen Luftwaffe deutlich herab. Der Krieg entwickelte eine Asymmetrie zum Nachteil der Ukraine: Russland konnte nach Belieben Ziele in der gesamten Ukraine angreifen, der Ukraine wurden die Mittel verweigert, sich dagegen zu wehren.

Auch diese Politik war keinesfalls alternativlos. Die US-Regierung hätte etwa der russischen Seite kommunizieren können, langreichende Waffenlieferungen nicht vorzunehmen, solange Moskau keine Ziele in der Tiefe des ukrainischen Raums angreift. So hätte man das Eskalationsniveau insgesamt verringert. Stattdessen hat sich die Biden-Regierung in Selbstbindung und Selbstabschreckung geübt. Die Auswirkungen für die Ukraine waren und sind katastrophal, sodass das Land heute kaum noch in der Lage ist, eigene Waffen und Munition herzustellen, sondern bei fast allen Waffensystemen und vor allem bei Munition weitgehend auf westliche Unterstützung angewiesen ist. Zudem ist die Ukraine nicht mehr fähig, ihre Bevölkerung mit Lebensmitteln und anderen Gütern zu versorgen, weil Russlands Angriffe einen Großteil der zivilen Infrastruktur zerstört haben. So wird sie immer mehr von Hilfslieferungen des Westens abhängig, besonders der USA, die schon jetzt enorm zugenommen haben.[27] Massiv durch den Krieg ruiniert – und zwar nicht nur in den Hauptkampfzonen –, wird sie zunehmend die westliche Hilfe benötigen. Dabei ist abzusehen, dass die westlichen Staaten selbst an ihre materiellen Grenzen geraten, was Munition und intelligente Waffensysteme betrifft. Dieses Problem wäre vermeidbar gewesen.

 Raketentrümmer einer russischen 9M79 Totschka-Rakete, mit der am 8.4.2022 der zivile Bahnhof Kramatorsk angegriffen wurde

Raketentrümmer einer russischen 9M79 Totschka-Rakete, mit der am 8.4.2022 der zivile Bahnhof Kramatorsk angegriffen wurde

Bei der Lieferung von Artilleriesystemen an die Ukraine wurde das gleiche Kriterium wie bei der Verhinderung von Angriffen auf russisches Territorium betont. Ab Anfang April war abzusehen, dass sich die russischen Streitkräfte auf den Donbas konzentrieren würden und mit einem massiven Einsatz von russischer Artillerie zu rechnen wäre.[28] Die Lieferungen westlicher Artillerie blieben weitgehend auf ehemals sowjetische Systeme aus früheren Warschauer-Pakt-Ländern oder auf ältere westliche Systeme beschränkt.[29] Erst als sich die Situation für die ukrainischen Streitkräfte im Donbas zuspitzte, lieferte man eine kleine Anzahl mobiler und intelligenter Artilleriesysteme vorwiegend amerikanischen Ursprungs – auch diesmal unter der Bedingung, dass die Ukraine diese Waffen nicht für Angriffe auf russisches Territorium nutzen dürfe.[30]

Ebenso lehnt die Gruppe der genannten führenden westlichen Staaten bislang ab, der Ukraine Kampfpanzer oder andere, zu schnellen und raumgreifenden Operationen befähigende gepanzerte Fahrzeuge zu liefern. Auch in diesem Fall ist offensichtlich die Furcht übergroß, Russland könne solche Waffen als das Überschreiten einer „roten Linie“ werten. Der deutsche Bundeskanzler wurde wiederholt gerügt, zu vorsichtig zu sein. Diese Kritik war und ist berechtigt, doch er ist nicht allein dafür verantwortlich. Er orientiert sich vornehmlich an dem, was die Biden-Administration vorgibt und bleibt stets ein Stück dahinter zurück.

Die USA und die anderen führenden westlichen Staaten hätten in der Anfangsphase des Kriegs auch einen anderen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Ukraine und damit zur Einhegung des Kriegs leisten können. Sie hätten sich dem Vorschlag der polnischen Regierung anschließen können, mit einer internationalen Truppe in den westlichen und vom Krieg noch weitgehend verschonten Landesteilen eine humanitäre Zone einzurichten.[31] Diese vorwiegend aus westlichen Einheiten bestehende Truppe hätte rein defensive Aufgaben übernehmen und vor allem einen Beitrag zur bodengebundenen Luftverteidigung leisten können (speziell gegen Marschflugkörper, die relativ langsam sind). So hätte man die Russen mit einem enormen Problem konfrontiert, ohne in den Kampf eingreifen zu müssen. Russland hätte seine Streitkräfte umgruppieren müssen und dadurch weniger Druck auf die Ukrainer ausüben können. Dieser Vorschlag wurde jedoch ebenso von der US-Regierung abgelehnt wie der zur Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine. Letzteres ist nachvollziehbar, weil eine effektive Luftverteidigungszone auch die Bekämpfung von russischen Flugzeugen und vor allem von Flughäfen auf dem Territorium Russlands bedeutet hätte. Aber was hätte dagegen gesprochen, eine bodengebundene Luftabwehr zu installieren, um über ukrainischem Territorium russische Marschflugkörper zu bekämpfen? Das hätte auch unter Mitwirkung regulärer westlicher Streitkräfte geschehen können und weder russisches Territorium noch russische Soldaten verletzt.

Um es zusammenzufassen: Die Waffenlieferung sowie die sonstige Hilfe der führenden westlichen Nationen (USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien) für die Ukraine war und ist sehr umfangreich. Insbesondere die amerikanische Unterstützung ist enorm. Doch alle dieser Staaten konditionieren ihre Hilfe in einer Weise, die der Ukraine massiven Schaden beigefügt und mittlerweile zu einer Situation geführt hat, die den westlichen Ländern zwei unattraktive Optionen lässt. Entweder müssen sie sich zu einer intensiven Form der Kriegswirtschaft und zu einer ebenso kostspieligen dauerhaften Subventionierung des ukrainischen Staates und der ukrainischen Wirtschaft entschließen, um das Niveau der ukrainischen Abwehr zu halten,[32] oder sie müssen der ukrainischen Regierung einen Waffenstillstand aufzwingen, der die Anerkennung der russischen Gebietsgewinne beinhalten würde.[33]

4 Die Logik der Restriktionen

Sowohl die amerikanische als auch die deutsche Regierung begründen die Anwendung von Restriktionen mit der Absicht, einen Atomkrieg unbedingt zu vermeiden. Immerhin habe Putin zu Beginn des Überfalls auf die Ukraine angekündigt, wer sich ihm in den Weg stelle, werde eine Lektion erfahren, die er nie vergessen werde. Die deutsche Regierung kann einer derartigen Androhung nichts entgegensetzen, die Regierungen der USA, Frankreichs und Großbritanniens könnten es aber sehr wohl. Doch sie haben es nicht getan, sondern sich eher darauf verständigt so zu tun, als nehme man Putins Drohung nicht ernst. Sie wird allerdings ernst genommen, möglicherweise viel ernster, als notwendig. Denn die russischen Streitkräfte haben bislang nicht erkennen lassen, dass ihre taktischen Kernwaffen einsatzbereit gemacht wurden. Die strategischen Angriffskräfte haben eine höhere Ebene der Aufmerksamkeit eingenommen, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass Moskau einen Atomangriff auf die USA vorbereitet. Ein solcher würde tödlich für Putin und sein Geschäftsmodell ausgehen und wird offensichtlich auch nicht angestrebt. Der Einsatz von nicht-strategischen Kernwaffen auf oder über dem Territorium westlicher Staaten dürfte ebenfalls unwahrscheinlich sein. Er würde die Abschreckungswirkung der NATO in Kraft treten lassen und eine Dynamik auslösen, die Putin nicht kontrollieren könnte. Wer sich – wie Putin – angesichts der desolaten Lage seiner Truppen nicht einmal traut, seine Streitkräftereserven einzuberufen, der wird auch keinen regionalen Kernwaffenkrieg mit dem Westen anfangen. Lediglich die Ukraine könnte ins Visier russischer Kernwaffendrohungen geraten. Aber wird Putin ein Land mit Kernwaffen angreifen, in dem russische Soldaten stehen und dessen Einwohner er als Russen definiert?

Die Furcht vor einem Kernwaffenkrieg wird in der Regel damit begründet, die Nichtbeachtung bestimmter unausgesprochener Regeln könnte Russland zu Angriffen auf NATO-Truppen oder westliche Staaten veranlassen, was zu einem offenen Krieg zwischen Russland und der NATO führen würde. Dieser „Weltkrieg“ könnte ein nukleares Ende finden. Der frühere US-Diplomat Steven Pifer spricht von vier ungeschriebenen Regeln, deren Einhaltung im Ukraine-Krieg bislang einer Eskalation vorgebeugt hätte. Die erste Regel laute, dass NATO-Soldaten nicht direkt in Kämpfe gegen russische Soldaten eintreten dürfen, die zweite, dass ein gewisses Maß an Austausch von nachrichtendienstlichen Informationen zwischen den USA und der Ukraine zulässig sei. Die dritte Regel erlaube ein gewisses Maß westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine, während die vierte Regel bedeute, dass Russland ökonomische und politische Sanktionen akzeptiere, solange diese eine bestimmte Schmerzgrenze nicht überschreiten.[34] Diese Erklärung ist allerdings nicht sehr präzise und dürfte einer eher oberflächlichen Analyse entstammen. Sinnvoller erscheint es, jene einseitig gezogen „roten Linien“ zu betrachten, die sich die vier führenden westlichen Staaten ohne Konsultationen mit der russischen Seite selbst auferlegt haben.

Im Wesentlichen kann man drei „rote Linien“ erkennen, die jedoch nicht von Russland gezogen wurden, sondern von den USA. Die erste „rote Linie“ gibt vor, es dürfe keine Verletzung russischen Territoriums durch ukrainische Kämpfer unter Einsatz westlicher Waffensysteme geben. Die zweite verbietet direkte Kampfkontakte zwischen Russen und westlichen Streitkräften. Die dritte „rote Linie“ untersagt die Stationierung westlicher Soldaten auf dem Territorium der Ukraine, gleich in welcher Mission.

Jede dieser „roten Linien“ folgt einer Logik, die nicht neu ist, sondern aus dem amerikanischen Rüstungskontrolldenken kommt, welches zu Anfang der 1960er Jahre des vergangenen Jahrhunderts entwickelt worden war.[35] Rüstungskontrolle beinhaltet im engeren Sinn einseitige oder verhandelte Maßnahmen zur Reduzierung von Risiken, die aus Rüstungsprozessen entstehen können.[36] Im Zentrum der auf dem Rüstungskontrollgedanken basierenden Konzepte für den Umgang mit regionalen Kriegen stand aber auch die Sorge, es könne im Rahmen regionaler Kriege zu einer Eskalation kommen, in deren Verlauf der Einsatz von Kernwaffen nicht auszuschließen wäre. Aus diesem Grund gehörten zum Bestand der Rüstungskontrolle auch informelle Übereinkünfte zur Beschränkung militärischer Konflikte.[37] Wie in anderen Bereichen der Rüstungskontrolle (insbesondere der strategischen) stand dieses Konzept in einem Spannungsverhältnis zur Verteidigungs- und Abschreckungspolitik.[38] Imperative der Rüstungskontrolle standen und stehen im Widerspruch zu Imperativen einer Verteidigungs- oder Abschreckungspolitik und man muss sich jederzeit fragen, welcher Imperativ in der vorgegebenen Situation der wichtigere ist. Das Konzept der Rüstungskontrolle beinhaltete oft einseitige westliche Schritte, die wiederum zu einseitigen, de-eskalatorischen Schritten der anderen Seite führen sollten. Die hier dargestellten Konzepte der Rüstungskontrolle aus der Zeit des Ost-West-Konfliktes sind in der Vergangenheit oft kritisiert wurden, weil sie westliche Selbstbindung bewirkten, ohne dass die Kooperation der anderen Seite sichergestellt sei.[39] Auch wurde kritisiert, dass eine publikumsorientierte Rüstungskontrollpolitik diesen Selbstbindungseffekt dadurch steigere, dass sie angesichts der Friedenssehnsucht der breiten Öffentlichkeit keinerlei Rückzüge erlaube, wenn sich die andere Seite nicht kooperativ verhalte.[40]

Im Fall von regionalen Kriegen, in die strategische Partner der USA verwickelt waren, konnte man zu Zeiten des alten Kalten Krieges tatsächlich ein bestimmtes Muster der amerikanischen Politik beobachten, das diesem Denken entsprach: auf der einen Seite militärische Unterstützung für den Partnerstaat (z. B. Israel), auf der anderen Seite aber Begrenzung der Unterstützung in einer Weise, die der Sowjetunion signalisierte, dass Washington interessiert ist an Kooperation bei der Beendigung des Kriegs. Im Hintergrund stand dabei immer die Sorge, dass ein regionaler Konflikt von Russland zum Anlass genommen werde, in Mitteleuropa eine massive Invasion vorzunehmen. Mit 20 Divisionen der Roten Armee allein auf dem Gebiet der DDR und zusammen mit den vereinigten Streitkräften des Warschauer Paktes war diese Eskalationsmöglichkeit sehr real. Am Ende dieses Krieges hätte es tatsächlich zum Einsatz von Kernwaffen kommen können. Es ist dieses Denken, das heute das Handeln der Biden-Administration anleitet.

4 Kritik der Politik der Zurückhaltung

Die Biden-Administration ist in den vergangenen Monaten wegen ihrer Zurückhaltung bei der Unterstützung der Ukraine und ihrer Beachtung der drei „roten Linien“ wiederholt kritisiert worden. Vor allem frühere hochrangige amerikanische Militärs (Wesley Clark, David Petraeus, Ben Hodges), aber auch zivile Experten namhafter Thinktanks monierten, es mache keinen Sinn, sich bei der Qualität von Waffenlieferungen Restriktionen aufzuerlegen zu einem Zeitpunkt, an dem Russland Schwäche zeige.[41] Der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber Wesley Clark führte am 10. März 2022 in einem Interview mit der Deutschen Welle aus, nach Eroberung der Ukraine seien, wenn man das russische Ultimatum vom 15. Dezember 2021 ernst nähme, die baltischen Staaten, Polen und Moldau an der Reihe, gewaltsam „entmilitarisiert“ und „entnazifiziert“ zu werden. Deswegen sei es angebracht, dass die NATO die derzeitigen Schwächen der russischen Truppen nutze, um den ukrainischen Truppen zu helfen, die Aggressoren zum Rückzug zu zwingen – zu Lande und zur Luft. Eine solch günstige Gelegenheit kehre nicht wieder. Russische Drohungen mit Atomwaffen könne der Westen durch eigene Atomwaffendrohungen konterkarieren.[42]

Andere Kritiker haben darauf hingewiesen, dass aufgrund der massiven Verluste an Menschen und Material, die Russland infolge des Überfalls auf die Ukraine habe verzeichnen müssen, Putins Möglichkeiten der Eskalation begrenzt seien. Eine Invasionsfähigkeit Russlands gegenüber NATO-Staaten (vergleichbar derjenigen des Warschauer Paktes in den 70er und 80er Jahren) sei seit den 90er Jahren ohnehin nicht mehr gegeben und selbst zu einer Invasion der baltischen Staaten wäre Moskau aufgrund der Verluste in der Ukraine derzeit nicht in der Lage.[43] Zudem liege es überhaupt nicht im Interesse Russlands, eine Eskalation vorzunehmen.[44] Diese würde zu einer Intervention der NATO zugunsten der Ukraine führen und so die prekäre Lage der russischen Invasionstruppen weiter verschärfen. Vielmehr solle man die Gelegenheit ergreifen und den Ukrainern helfen, die russischen Truppen aus ihrem Land zu vertreiben, ohne dabei die ursprünglichen Grenzen zu Russland zu überschreiten. Deswegen müsse man alle Möglichkeiten der militärischen Unterstützung ausschöpfen, allerdings unter Ausschluss von Situationen, durch die Russland eine Verletzung seiner territorialen Integrität reklamieren könnte.[45]

Ferner wurde kritisiert, eine Politik der einseitigen Zurückhaltung mache nur dann Sinn, wenn irgendein Signal der russischen Seite den Rückschluss erlaube, dass ein Interesse an einer Begrenzung der Kriegsführung besteht. Die von Steven Pifer genannten ungeschriebenen Regeln im Verhältnis zwischen den USA und Russland im Ukraine-Konflikt lassen aber nicht den Schluss zu, dass Russland sich in irgendeiner Form zur Mäßigung entschlossen hat.[46] Alles, was Pifer als mögliche Indikatoren einer russischen Zurückhaltung aufführte, bleibt kompatibel mit Russlands Sichtweise, dass es den Krieg nur siegreich beenden kann, wenn es der westlichen Seite keinen Anlass zur Einmischung liefert. Tatsächlich führt Russland seinen Krieg ungehindert und mit großer Brutalität weiter, wenngleich es strategische Anpassungen vorgenommen hat, die sich aus der Lagebeurteilung Anfang April 2022 ergaben. Die durch die westliche Politik der „roten Linien“ hervorgerufene Asymmetrie bei den Optionen für Angriffe in der Tiefe des gegnerischen Raums hat Moskau nicht bewegt, sich ebenfalls Zurückhaltung aufzuerlegen. Im Gegenteil, russische Marschflugkörper und ballistische Raketen haben die Gelegenheit wahrgenommen, um der Ukraine so massiv zu schaden wie irgend möglich. Die selbstauferlegten „roten Linien“ erweisen sich als Politik der Selbstbindung, die von russischer Seite nicht honoriert, sondern nur ausgenutzt wird.

Die Biden-Administration hat in den vergangenen Monaten zwar die Menge und auch die Qualität ihrer Waffenlieferungen an die Ukraine gesteigert,[47] aber nicht in ausreichendem Maß, um die Chancen einer effektiven Verteidigung tatsächlich zu verbessern. Alle Versuche der Ukrainer zur Rückeroberung besetzter Gebiete hatten bislang nur begrenzten Erfolg. Vielmehr haben sie im Donbas angesichts der russischen Artilleriewalzen riesige Verluste einstecken müssen. Zwar ist es ihnen gelungen, in diesen Kämpfen den russischen Truppen ebenfalls große Verluste beizubringen und dadurch die operativen Fähigkeiten der russischen Truppen jenseits des Donbas-Raums beträchtlich einzuschränken.[48] Dennoch bleibt die Lage der Ukraine schwierig, nicht zuletzt weil Russland 20 Prozent seines Territoriums besetzt hält und die materialmäßige Unterlegenheit andauern wird. Von einer Wende der amerikanischen Politik ist indes wenig zu spüren. Und ohne eine Wende der USA werden auch die anderen führenden westlichen Staaten ihre Politik nicht ändern – am allerwenigsten die Bundesregierung. Lediglich die osteuropäischen und die baltischen Staaten sind sehr viel offener, ihr Beitrag ist allerdings militärisch von begrenzter Relevanz.

Es stellt sich die Frage, weshalb die Biden-Administration an ihrer Politik der „roten Linien“ festhält, obwohl die Bedingungen der 70er und 80er Jahre nicht mehr gegeben sind und sich dadurch die Lage der Ukraine absehbar verschlechtert.[49] Eine Antwort hat der amerikanische Strategieexperte und frühere Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, Brad Roberts, in einer im Jahr 2020 in dieser Zeitschrift erschienenen Analyse vorgelegt. Seiner Einschätzung zufolge habe das US-Militär es versäumt, sowohl Russlands als auch Chinas Hinwendung zu Konzepten regionaler Kriege zu rezipieren und entsprechende Gegenkonzepte zu entwickeln. Russland wie China hätten in den vergangenen zwei Jahrzehnten Pläne für die siegreiche Führung regionaler Kriege (etwa gegen die Ukraine oder Taiwan) ausgearbeitet. Beiden gehe es nicht um Konfliktbegrenzung und Vermeidung von Atomkriegen, sondern schlicht darum, Verbündete oder strategische Partner der USA zu bezwingen und daraus strategische Vorteile zu ziehen. Die USA dagegen hätten es versäumt, eigene Konzepte für erfolgreich zu führende regionale Kriege zu entwerfen und hielten weiterhin an Vorstellungen der Rüstungskontrolle fest, die auf Konfliktmanagement und Vermeidung eines Kernwaffenkriegs ausgerichtet sind.[50] Ohne einen Wandel in der US-Doktrin sei nicht damit zu rechnen, dass die USA – und mit ihnen die führenden westlichen Staaten – von ihrer Strategie der Schadensbegrenzung und der vergeblichen Suche nach gemeinsamen Regeln loslassen. Diese Aussage gilt auch für die anderen führenden westlichen Nationen. Und in der Tat: weder Bundeskanzler Scholz, noch Premierminister Johnson oder Präsident Macron haben bislang klare Vorstellungen darüber erkennen lassen, wie ihrer Meinung nach die Ukraine den Krieg siegreich beenden könne.

Eine andere, ebenfalls in dieser Zeitschrift vorgelegte Erklärung lässt den Schluss zu, dass die relative Zurückhaltung der Biden-Administration im Ukraine-Krieg darauf zurückgeht, dass das Hauptaugenmerk der USA bereits in Ostasien sowie im indopazifischen Raum liege. Demzufolge wolle man sich wegen der zu erwartenden militärischen Auseinandersetzung mit China nicht mehr intensiv mit europäischen Belangen befassen.[51] Sollte diese Analyse zutreffen, dann wäre es für die führenden europäischen Mächte an der Zeit, sich angesichts des Ukraine-Krieges bei ihrer Risikoeinschätzung nicht allein auf die amerikanische Politik zu verlassen, sondern gemeinsam zu eigenen Einschätzungen zu gelangen und entsprechende Änderungen ihrer Verteidigungspolitik und Strategie gegenüber Russland und der Ukraine vorzunehmen.

5 Fazit

Die Gefahr eines Weltkriegs wird nicht zunehmen, wenn es zu qualitativ und quantitativ höheren Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine kommt, und auch dann nicht, wenn westliche Soldaten in eindeutig defensiven Operationen auf dem Territorium der Ukraine tätig werden würden. Vielmehr ist zu befürchten, dass das Festhalten an veralteten Konzepten der Rüstungskontrolle, die militärische Risikoeinschätzungen der 70er Jahre reflektieren, Russland die Möglichkeit eines Sieges verschaffen können. Ein Sieg Russlands in der Ukraine dürfte der Beginn weiterer Versuche sein, die politische Ordnung in Europa zu seinen Gunsten zu verändern.[52] Das würde weitere von Russland ausgelöste Kriege in Europa bedeuten, bis hin zu solchen, die auch die NATO betreffen und möglicherweise zerstören könnten.[53] Ein „Weltkrieg“, der diese Bezeichnung wirklich verdient, bräche dann aus, wenn China aufgrund eines mutmaßlich erfolgreichen Ausgangs des russischen Überfalls auf die Ukraine folgern würde, es könne sich nun mit gleichem Elan an die Eroberung von Taiwan begeben. Diese Sorge ist nicht unberechtigt, da gerade in den Wochen, in denen sich ein begrenzter Erfolg Russlands im Donbas abzeichnete, in Peking vermehrt provokante Äußerungen und Schritte der Führung festzustellen waren.[54] Will man einen Dritten Weltkrieg verhindern, sollte man vielleicht weniger auf die theoretisch zwar bestehende, aber doch recht zweifelhafte Gefahr einer nuklearen Eskalation infolge westlicher Waffenlieferungen schauen. Vielmehr sollte man dorthin blicken, wo sich die höchsten Wahrscheinlichkeiten abzeichnen. Es klingt paradox: aber durch die hier beschriebene westliche Politik der Vorsicht dürfte die Gefahr eines Weltkriegs eher zu- denn abnehmen.

About the author

Prof. Dr. Joachim Krause

Wissenschaftlicher Direktor

Literatur

Adomeit, Hannes (2022): Russisch-belarussisches Manöver Sapad-2021: Teil der Kriegsvorbereitungen gegen die Ukraine, Sirius – Zeitschrift für Strategische Analysen, 6 (1), 68–7310.1515/sirius-2022-1007Search in Google Scholar

Adomeit, Hannes/Krause, Joachim (2022): Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz, Sirius – Zeitschrift für Strategische Analysen, 6 (2), 129–14910.1515/sirius-2022-2002Search in Google Scholar

Bomsdorf, Falk (1982): Rüstungskontrolle als Prozess der Selbstbindung. Wirkungsweisen westlicher Verhandlungspolitik, in: Uwe Nerlich unter Mitwirkung von Falk Bomsdorf (Hrsg.): Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse. Baden-Baden: Nomos, 389–444Search in Google Scholar

Brennan, Donald G., Hrsg. (1962): Strategie der Abrüstung. 28 Problemanalysen. Gütersloh: C. BertelsmannSearch in Google Scholar

Bull, Hedley (1962): The control of the arms race: Disarmament and arms control in the missile age. New York: PraegerSearch in Google Scholar

Bull, Hedley (1982): Die klassische Konzeption der Rüstungskontrolle – Ein Rückblick nach zwanzig Jahren, in: Uwe Nerlich unter Mitwirkung von Falk Bomsdorf (Hrsg.): Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse. Baden-Baden: Nomos, 481–490Search in Google Scholar

Colby, Elbridge (2021): Deutschland am Scheidepunkt – eine aktive Verteidigungs- und Bündnispolitik ist überfällig, Sirius – Zeitschrift für Strategische Analysen, 5 (3), 227–23810.1515/sirius-2021-3003Search in Google Scholar

Hassner, Pierre (1982): Rüstungskontrolle und die Politik des Pazifismus im protestantischen Europa, in: Uwe Nerlich unter Mitwirkung von Falk Bomsdorf (Hrsg.): Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse. Baden-Baden: Nomos, 445–478Search in Google Scholar

Holbraad, Carsten (1979): Superpowers and International Conflict. Basingstoke: Palgrave MacMillan10.1007/978-1-349-04367-5Search in Google Scholar

Hosmer, Stephen T. (1984): Constraints on U.S. Military Strategies in Past Third World Conflicts. Santa Monica, Cal.: RAND Corporation (N-2180-AF)Search in Google Scholar

Hosmer, Stephen T. (1985): Constraints on U.S. Strategy in Third World Conflict. Implications for Certain Contingencies. Santa Monica, Cal.: RAND Corporation (R-3208/1-AF)Search in Google Scholar

Kofman, Michael/Fink, Anya/Gorenburg, Dmitry/Chesnut, Mary/Edmonds, Jeffrey/Waller, Julian (2021): Russian Military Strategy: Core Tenets and Operational Concepts. Alexandria, Va.: Center for Naval AnalysesSearch in Google Scholar

Krause, Joachim (1987): Supermacht Kooperation bei Drittwelt-Konflikten, in: Rudolf Hamann (Hrsg.), Die Süddimension des Ost-West-Konflikts, Baden-Baden: Nomos Verlag, 227–245;Search in Google Scholar

Krause, Joachim (2015): Rüstungskontrolle und Abrüstung, in: Handwörterbuch Internationale Politik, hrsg. von Wichard Woyke und Johannes Varwick, 13. Auflage. Opladen und Toronto: Verlag Barbara Budrich, 428–437Search in Google Scholar

Meyer zum Felde, Rainer (2022): Was ein Militärbündnis zwischen Russland und China für die NATO bedeuten würde, Sirius – Zeitschrift für Strategische Analysen, 6 (2), 165–18410.1515/sirius-2022-2004Search in Google Scholar

Nerlich, Uwe (1982): Politische Symbolik der Einigung oder effektive Beschränkungen. Das Beispiel des SALT-II-Abkommens, in: Uwe Nerlich unter Mitwirkung von Falk Bomsdorf (Hrsg.): Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse. Baden-Baden: Nomos, 367–388Search in Google Scholar

Roberts, Brad (2020): Neue Herausforderungen erfordern neue Ideen: Elemente einer Theorie des Sieges in modernen strategischen Konflikten, Sirius – Zeitschrift für Strategische Analysen, 4 (4), 410–43410.1515/sirius-2020-4004Search in Google Scholar

Rowen, Henry S. (1982): Mögliche Ziele und tatsächliche Dysfunktionen der Rüstungskontrolle. Das Beispiel SALT, in: Uwe Nerlich unter Mitwirkung von Falk Bomsdorf (Hrsg.): Sowjetische Macht und westliche Verhandlungspolitik im Wandel militärischer Kräfteverhältnisse. Baden-Baden: Nomos, 339–366Search in Google Scholar

Schelling, Thomas C. (1966): Arms and Influence. New Haven, Ct. und London: Yale University PressSearch in Google Scholar

Woolf, Amy (2020): Russia’s Nuclear Weapons: Doctrine, Forces, and Modernization. Washington, D.C.: Congressional Research ServiceSearch in Google Scholar

Published Online: 2022-09-09
Published in Print: 2022-09-01

© 2022 Krause, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Der russische Überfall auf die Ukraine – eine militärische Lageanalyse
  6. An der Schwelle zum Dritten Weltkrieg – Welche Risiken darf der Westen im Ukraine-Krieg eingehen?
  7. Russlands diktierter Nicht-Frieden im Donbas 2014–2022: Warum die Minsker Abkommen von Anbeginn zum Scheitern verurteilt waren
  8. One man’s surprise is another man’s analysis: Warum Regierungen überrascht werden und was man dagegen tun kann
  9. Die militärische Modernisierung in China und Russland und die Vierte Industrielle Revolution
  10. Auf dem Weg zum Krieg von morgen. Chinesische Militärtheorie und die Evolution des Krieges
  11. Kurzanalyse
  12. Unterschiede zwischen westlichen und nichtwestlichen US-Verbündeten in der Reaktion auf den Ukraine-Krieg
  13. Kommentar
  14. Die längerfristigen Auswirkungen des Ukraine-Krieges und die wachsende Bedeutung der zivilen Seite des Krieges
  15. Ergebnisse strategischer Studien
  16. Zukunft Russlands
  17. Cyrus Newlin/Andrew Lohsen: Russia Futures. Three Trajectories. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Mai 2022.
  18. Die Lage von Taiwan
  19. Jacob Stokes/Alexander Sullivan/Zachary Durkee: Global Island. Sustaining Taiwan’s International Participation Amid Mounting Pressure from China. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), April 2022
  20. Johan Englund: Isolating Taiwan beyond the Strait: Chinese pressure tactics in four democracies. Stockholm: Swedish Defence Research Agency (FOI), Mai 2022
  21. Entkoppelung von China
  22. CSIS Multilateral Cyber Action Committee: The Two Technospheres. Western-Chinese Technology Decoupling: Implications for Cybersecurity. Washington, D.C.: Center for Strategic & International Studies (CSIS), März 2022
  23. US-Militärpolitik
  24. Marc F. Cancian: U.S. Military Forces in FY 2022: Peering into the Abyss. Washington, D.C.: Center for Strategic & International Studies (CSIS), März 2022
  25. Bücher von gestern – heute gelesen
  26. Militärische Strategien und die Wirksamkeit von Abschreckung zur Zeit des Ost-West-Konflikts
  27. Buchbesprechungen
  28. Christopher M. Smith: Ukraine’s Revolt, Russia’s Revenge. Washington, D.C.: Brookings Institution 2022, 384 Seiten
  29. Michel Eltchaninoff: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten. Stuttgart: Tropen, 2022, aktualisierte Neuausgabe (aus dem Französischen von Till Bardoux), 222 Seiten
  30. Rush Doshi: The Long Game. China’s Grand Strategy to Displace American Order. New York: Oxford University Press, 2021, 459 Seiten
  31. Ryan Hass: Stronger. Adapting America’s China Strategy in an Age of Competitive Interdependence. New Haven, Yale University Press 2021
  32. Bildnachweise
Downloaded on 12.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2022-3003/html
Scroll to top button