Editorial
Dieses Heft hat den Überfall Russlands auf die Ukraine zum Schwerpunkt. Kein Ereignis hat in der letzten Zeit einen derart nachhaltigen (und deprimierenden) Eindruck hinterlassen, wie dieser, jahrelang geplante und durch geschickte diplomatische Manöver abgesicherte Einmarsch. Der Begriff der „Zeitenwende“ ist hier völlig angebracht, wobei der Blick allerdings über die Beziehungen zu Russland hinaus gehen muss. Auch China erscheint heute in einem anderen Licht.
Das Heft beginnt mit einer militärstrategischen Lageanalyse im Krieg Russlands gegen die Ukraine. Der Verfasser, Alexander Rosemann, gelangt zu dem Schluss, dass sich Russlands ursprüngliche Erwartung eines raschen Erfolges schon kurz nach Beginn der Operation als falsch herausgestellt habe. Mitte April erfolgte eine strategische Umorientierung der russischen Operationsplanung, was zu einer Konzentration aller Kräfte auf den Donbas geführt habe. Trotz kleinerer Landgewinne hätten die russischen Kräfte bisher keinen wirklichen Durchbruch erzielen können. In den kommenden Monaten wird es darauf ankommen, dass die westlichen Staaten die Ukraine mit schwerem Material unterstützen.
Der zweite Aufsatz von Joachim Krause befasst sich kritisch mit der Konditionalisierung, die die führenden westlichen Mächte USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland bei Waffenlieferungen an die Ukraine vornehmen. Absicht dabei sei es, einen Weltkrieg mit nuklearer Eskalation zu vermeiden. Experten und frühere hochrangige Generäle kritisieren jedoch zunehmend diese Restriktionen, die sich an Konzepten der Rüstungskontrolle aus den 60er Jahren orientieren. Sie argumentieren, dass Russland im Gegensatz zur Sowjetunion weder die Absicht habe noch die Mittel besitze, den Krieg zu eskalieren – es sei denn, es wolle einen selbstmörderischen Nuklearkrieg beginnen. Die Gefahr eines Weltkriegs werde durch die westliche Politik der Vorsicht eher zu- denn abnehmen.
Der dritte Aufsatz von Hugo von Essen und Andreas Umland nimmt eine kritische Würdigung des Minsker Prozesses vor, der seit 2014 helfen soll, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine diplomatisch zu lösen. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Auffassung, so die Verfasser, wären die Dokumente, die Moskau der Ukraine im September 2014 und Februar 2015 aufgezwungen hatte, keine Lösung, sondern Teil des Problems gewesen. Für den Kreml wären die Abkommen Instrumente, um die geo- und hegemonialpolitischen Früchte seiner anfänglich verdeckten militärischen Aggression gegen die Ukraine zu ernten. Westliche Staaten – insbesondere Deutschland und Frankreich – hätten durch ihre Teilhabe stillschweigend Russlands offensichtliche Infragestellung der europäischen Sicherheitsordnung gebilligt.
Der vierte Beitrag von Peter Eitel thematisiert das Element der Überraschung, welches dieses Mal erneut die Bundesregierung hart getroffen hat. Der Beitrag stellt die einschlägige internationale wissenschaftliche Debatte zum Thema „Überraschungen“ vor. Diese befasst sich zum einen mit den kognitiven Faktoren, die Fehlperzeptionen strukturieren, die wiederum meist auf menschlichen Unzulänglichkeiten sowie auf organisatorischen Mängeln beruhen. Zum anderen setzt sie sich damit auseinander, wie sich die Anfälligkeit für die kognitiven Faktoren reduzieren lässt, und zeigt dabei Dilemmata auf, aber auch Resilienzstrategien.
Für Viele war erstaunlich, wie wenig der Überfall auf die Ukraine westliche strategische Partnerstaaten interessiert hat, sowohl in der arabischen Welt wie auch in Indien. Die Kurzanalyse von Jonathan Spyer vermittelt einen Einblick in die Denkweise dieser Regierungen und kommt zu dem Ergebnis, dass diese angesichts des abnehmenden Vertrauens in amerikanische Sicherheitsgarantien und mit Blick auf eigene Interessen in absehbarer Zeit ihren eigenen Weg gehen werden.
Im Kommentarteil weist Anthony Cordesman auf die mittelfristigen Folgen des Krieges in der Ukraine hin. Er betont insbesondere die zivile Seite des Krieges, zu der die Zerstörung ziviler Infrastruktur und Wirtschaftsunternehmen sowie die bewusste Tötung von Zivilisten durch Russland zählt.
Bei den Besprechungen von Büchern und Studien werden unter anderem die historische Aufarbeitung der Beziehungen der Ukraine zu Russland in den Jahren 2011 bis 2016 sowie die Perspektiven Russlands und das Denken Putins thematisiert. Unter der Rubrik „Bücher von gestern – heute gelesen“ werden zwei Bücher besprochen, die Einblick in die Effektivität der NATO-Abschreckung zur Zeit des Ost-West-Konfliktes geben und aus denen Lehren für die heutige Abschreckungspolitik gezogen werden können.
Wie oben angesprochen, lenkt der Krieg Russlands gegen die Ukraine auch den Blick auf China, welches mit Blick auf Taiwan ähnliche Absichten hegt wie Putin und sich seit Jahren auf eine militärische Eroberung vorbereitet. Der Beitrag von Richard Bitzinger und Michael Raska befasst sich mit der russisch-chinesischen Kooperation bei der militärischen Nutzung von fortgeschrittenen Technologien der Vierten Industriellen Revolution (4IR). China und Russland betreiben parallele und oftmals miteinander verflochtene F&E-Programme zur Entwicklung und Weiterentwicklung von 4IR-Technologien – insbesondere KI – in ihren jeweiligen Ländern und zur anschließenden Nutzung dieser Technologien für militärische Anwendungen. Ihr wechselseitiges Interesse, ihre Streitkräfte mithilfe von Spitzentechnologien zu modernisieren, könnte Peking und Moskau veranlassen, bei künftigen 4IR-F&E-Projekten zusammenzuarbeiten. Allerdings fehlten Russland die Ressourcen beziehungsweise die übergreifenden technologischen Fähigkeiten, um ein gleichberechtigter Partner Chinas zu werden.
Der Beitrag von Christopher Andrä-Hampf vermittelt einen faszinierenden Einblick in die militärtheoretische Debatte in der VR China. Er zeichnet auf, wie sich die bis dato vorherrschende Debatte um die Rolle von Informationsverarbeitung (Informationalisierung des Krieges) mittlerweile in Richtung der militärischen Nutzung der Vierten Industriellen Revolution bewegt, insbesondere Künstliche Intelligenz und Quantencomputer. Themen zur Intelligentisierung des Krieges nehmen in China einen zunehmend prominenten Platz ein und weisen darauf hin, wie sehr diese Herausforderung ernst zu nehmen ist.
Bei den Besprechungen von Büchern und Studien nehmen die Themen „China und die USA“ sowie die Folgewirkungen des Ukraine-Krieges für die Sicherheit Taiwans großen Platz ein.
Wir wünschen allen Lesern eine angenehme Lektüre.
Die Herausgeber
© 2022, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Der russische Überfall auf die Ukraine – eine militärische Lageanalyse
- An der Schwelle zum Dritten Weltkrieg – Welche Risiken darf der Westen im Ukraine-Krieg eingehen?
- Russlands diktierter Nicht-Frieden im Donbas 2014–2022: Warum die Minsker Abkommen von Anbeginn zum Scheitern verurteilt waren
- One man’s surprise is another man’s analysis: Warum Regierungen überrascht werden und was man dagegen tun kann
- Die militärische Modernisierung in China und Russland und die Vierte Industrielle Revolution
- Auf dem Weg zum Krieg von morgen. Chinesische Militärtheorie und die Evolution des Krieges
- Kurzanalyse
- Unterschiede zwischen westlichen und nichtwestlichen US-Verbündeten in der Reaktion auf den Ukraine-Krieg
- Kommentar
- Die längerfristigen Auswirkungen des Ukraine-Krieges und die wachsende Bedeutung der zivilen Seite des Krieges
- Ergebnisse strategischer Studien
- Zukunft Russlands
- Cyrus Newlin/Andrew Lohsen: Russia Futures. Three Trajectories. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Mai 2022.
- Die Lage von Taiwan
- Jacob Stokes/Alexander Sullivan/Zachary Durkee: Global Island. Sustaining Taiwan’s International Participation Amid Mounting Pressure from China. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), April 2022
- Johan Englund: Isolating Taiwan beyond the Strait: Chinese pressure tactics in four democracies. Stockholm: Swedish Defence Research Agency (FOI), Mai 2022
- Entkoppelung von China
- CSIS Multilateral Cyber Action Committee: The Two Technospheres. Western-Chinese Technology Decoupling: Implications for Cybersecurity. Washington, D.C.: Center for Strategic & International Studies (CSIS), März 2022
- US-Militärpolitik
- Marc F. Cancian: U.S. Military Forces in FY 2022: Peering into the Abyss. Washington, D.C.: Center for Strategic & International Studies (CSIS), März 2022
- Bücher von gestern – heute gelesen
- Militärische Strategien und die Wirksamkeit von Abschreckung zur Zeit des Ost-West-Konflikts
- Buchbesprechungen
- Christopher M. Smith: Ukraine’s Revolt, Russia’s Revenge. Washington, D.C.: Brookings Institution 2022, 384 Seiten
- Michel Eltchaninoff: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten. Stuttgart: Tropen, 2022, aktualisierte Neuausgabe (aus dem Französischen von Till Bardoux), 222 Seiten
- Rush Doshi: The Long Game. China’s Grand Strategy to Displace American Order. New York: Oxford University Press, 2021, 459 Seiten
- Ryan Hass: Stronger. Adapting America’s China Strategy in an Age of Competitive Interdependence. New Haven, Yale University Press 2021
- Bildnachweise
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- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Der russische Überfall auf die Ukraine – eine militärische Lageanalyse
- An der Schwelle zum Dritten Weltkrieg – Welche Risiken darf der Westen im Ukraine-Krieg eingehen?
- Russlands diktierter Nicht-Frieden im Donbas 2014–2022: Warum die Minsker Abkommen von Anbeginn zum Scheitern verurteilt waren
- One man’s surprise is another man’s analysis: Warum Regierungen überrascht werden und was man dagegen tun kann
- Die militärische Modernisierung in China und Russland und die Vierte Industrielle Revolution
- Auf dem Weg zum Krieg von morgen. Chinesische Militärtheorie und die Evolution des Krieges
- Kurzanalyse
- Unterschiede zwischen westlichen und nichtwestlichen US-Verbündeten in der Reaktion auf den Ukraine-Krieg
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- Die längerfristigen Auswirkungen des Ukraine-Krieges und die wachsende Bedeutung der zivilen Seite des Krieges
- Ergebnisse strategischer Studien
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- Cyrus Newlin/Andrew Lohsen: Russia Futures. Three Trajectories. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), Mai 2022.
- Die Lage von Taiwan
- Jacob Stokes/Alexander Sullivan/Zachary Durkee: Global Island. Sustaining Taiwan’s International Participation Amid Mounting Pressure from China. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), April 2022
- Johan Englund: Isolating Taiwan beyond the Strait: Chinese pressure tactics in four democracies. Stockholm: Swedish Defence Research Agency (FOI), Mai 2022
- Entkoppelung von China
- CSIS Multilateral Cyber Action Committee: The Two Technospheres. Western-Chinese Technology Decoupling: Implications for Cybersecurity. Washington, D.C.: Center for Strategic & International Studies (CSIS), März 2022
- US-Militärpolitik
- Marc F. Cancian: U.S. Military Forces in FY 2022: Peering into the Abyss. Washington, D.C.: Center for Strategic & International Studies (CSIS), März 2022
- Bücher von gestern – heute gelesen
- Militärische Strategien und die Wirksamkeit von Abschreckung zur Zeit des Ost-West-Konflikts
- Buchbesprechungen
- Christopher M. Smith: Ukraine’s Revolt, Russia’s Revenge. Washington, D.C.: Brookings Institution 2022, 384 Seiten
- Michel Eltchaninoff: In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten. Stuttgart: Tropen, 2022, aktualisierte Neuausgabe (aus dem Französischen von Till Bardoux), 222 Seiten
- Rush Doshi: The Long Game. China’s Grand Strategy to Displace American Order. New York: Oxford University Press, 2021, 459 Seiten
- Ryan Hass: Stronger. Adapting America’s China Strategy in an Age of Competitive Interdependence. New Haven, Yale University Press 2021
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