Kurzfassung
Deutschland verfügt über eine Vielzahl von Wissen und Erfahrungen über Russland und den Umgang mit Russland. Dennoch haben sich die politischen Entscheidungsträger in Deutschland über viele Jahre schwer damit getan, zu begreifen, dass Moskaus Versuche, die Mächtebalance in Europa neu zu strukturieren, einen frontalen Angriff auf Deutschlands Interessen darstellen, die auf Integration in die EU und NATO basieren. Für Deutsche sind Konflikte mit Russland etwas zutiefst Unbehagliches; allein der Gedanke weckt Emotionen, die klares Denken und konsistentes Handeln behindern. Dieser Artikel beleuchtet die Herausforderung, die diese Einstellungsmuster für Deutschland bei der Entwicklung politischer Strategien im Umgang mit Russland darstellt. Er analysiert, wie mehrere aufeinanderfolgende Bundesregierungen zwischen 1991 und 2014 die russischen Absichten missverstanden und unbeabsichtigt die Herausbildung eines russischen Systems gefördert haben, das deutschen Interessen gegenüber feindlich gesonnen ist.
Abstract
Despite Germany’s unparalleled knowledge and experience of Russia, German policy makers have so far struggled to accept that Moscow’s efforts to rebalance Europe are an attack on Germany’s interests based on its integration into the EU and NATO. For Germans, conflict in relations with Russia is deeply discomforting, and arouses emotions that impede clear thinking and consistent action. This paper explains the scale of the challenge facing Germany in designing policies to manage relations with a changing Russia. It analyses how successive German governments from 1991 to 2014 misread Russian intentions and inadvertently supported the emergence of a Russian system hostile to German interests.
1 Einleitung
Deutschlands Beziehung zu Russland ist die wichtigste Verbindung zwischen dem Westen und dem größten Land auf dem europäischen Kontinent. Während die nach 1945 errichtete Weltordnung unter westlicher Führung im Zuge eines natürlichen Prozesses immer weiter erodiert, geraten Deutschlands Interessen zunehmend in Konflikt mit Russland, das danach strebt, das internationale System neu auszubalancieren und die am Ende des Kalten Kriegs vereinbarte europäische Sicherheitsordnung neu auszuhandeln – derzeit mit einem Ultimatum an die USA und die NATO. Als Europas „unverzichtbare Macht“ trägt Deutschland wachsende Verantwortung dafür, wie die westliche Politik gegenüber Russland gestaltet wird. Denn in einer Welt, in der der Westen in den letzten zwanzig Jahren erheblich an moralischer Autorität eingebüßt hat, hält sich Amerika mehr und mehr aus europäischen Angelegenheiten heraus. Für ein Land wie Deutschland, das nach 45-jähriger Teilung erst im Jahr 1990 seine volle Souveränität zurückerlangt hat, ist dies eine unangenehme und äußerst schwierige Aufgabe, die durch seine wechselvolle und problematische historische Beziehung zu Russland erheblich erschwert wird.
2 Deutschland und Russland – Unterschiede in der strategischen Kultur
Anders als Deutschland hat Russland die Kunst des strategischen Denkens nicht verlernt. Als eine Macht, die mit einem Bein in Europa und dem anderen in Asien steht, litt es aufgrund seiner Größe und wirtschaftlichen Rückständigkeit jahrhundertelang an einer inneren Schwäche. In dem Bestreben, diese Schwäche zu kompensieren, hat es eine eindrucksvolle Fähigkeit entwickelt, seine Stärken bei Beziehungen zu mächtigen Rivalen auszuspielen. Der erfolgreiche Einsatz militärischer Macht in der Ukraine, Syrien und Libyen durch die Regierung Putin in den letzten Jahren spiegelt diese Tradition wider, ebenso die Bereitschaft, einmal erkannte Spaltungen in westlichen Gesellschaften für eigene Zwecke auszunutzen. Diese Aktionen haben die westlichen Länder unvorbereitet getroffen und sorgten für Verwirrung und konfuse Reaktionen.
Die bedingungslose Kapitulation und die nachfolgende Besatzung im Jahr 1945 setzten dem strategischen Denken in Deutschland ein Ende und führten dazu, dass man dieses Washington überließ, wobei die Bundesrepublik (BRD) ihren Platz an vorderster Front der europäischen Verteidigungsanstrengungen gegen den Sowjetblock einnahm. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass es Deutschland heute schwerfällt, sich auf das Spiel einzustellen, das Russland auf strategischer Ebene spielt. Für die Deutschen hatte das spektakuläre Ende des Kalten Kriegs eine andere Ära verheißen – ein Zeitalter, in dem in einem Konzert gemeinsamer Werte und Interessen militärische Gewalt und das „Recht des Stärkeren“ in europäischen Angelegenheiten keine Rolle mehr spielen würden.[1]
Stattdessen hat Russland unter Anwendung militärischer Gewalt Grenzen verschoben und soeben einen souveränen Staat – die Ukraine – mit einer brutalen Aggression überzogen. Europa steht nun ohne funktionierendes Rüstungskontrollsystem da und muss mit einem stark beeinträchtigten Konstrukt vertrauensbildender Maßnahmen seine Beziehungen zu Russland gestalten. Der 2019 als Reaktion auf russische Vertragsverletzungen erfolgte Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag, der die Stationierung landgestützter US-amerikanischer sowie russischer Raketen und Marschflugkörper verbot, war nur ein Indikator für die Verschlechterung der Sicherheitsordnung in Europa. Zudem hat Deutschland seine Streitkräfte seit Ende des Kalten Kriegs reduziert. Diese sind heute mangelhaft organisiert und derart beschämend schlecht ausgerüstet, dass sie nicht mehr im vollen Umfang zur Kernaufgabe der NATO, der Bündnisverteidigung, beitragen können.[2] Der frühere Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, diagnostizierte im Jahr 2020 treffend: „Wir sind die Meister der Soft Power. Aber Soft Power ohne Hard Power ist wie eine Fußballmannschaft ohne Torhüter.“[3]
3 Westliche Fehleinschätzungen Russlands
Deutschlands heutige Sichtweise auf und Umgangsweise mit Russland ist eine komplexe Mischung aus kulturellen Vorurteilen, Instinkten und aus Empfindlichkeiten, die im Lauf der jahrhundertelangen Beziehungen zu Russland entstanden sind. Vor allem die traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts mit seinen beiden großen Kriegen haben tiefe Spuren in Deutschlands nationaler Psyche hinterlassen. Hierzu gehört das nicht ausmerzbare Gefühl der Schuld für die unfassbaren Verbrechen, die die Nazis an den Völkern der UdSSR begingen. Aber auch das Gefühl der Erniedrigung und Gefährdung während der 45 Jahre andauernden Konfrontation im Kalten Krieg wirken nach, als Deutsche auf beiden Seiten der Trennlinie lebten und das menschliche Leid groß war.
Im Gegensatz zu den USA und auch einigen seiner europäischen Verbündeten liegt Deutschland das Schicksal Russlands am Herzen. Aufgrund ihrer Geschichte wissen die Deutschen ganz genau um die Bedeutung der Beziehung Europas zu diesem riesigen Land, das in Bezug auf seine Identität, die zum Teil ja auch europäisch geprägt ist, zerrissen ist.[4] Die größte bilaterale Botschaft Deutschlands weltweit befindet sich in Moskau; sie hat große politische und wirtschaftliche Abteilungen und einen umfangreichen Militärattachéstab. Deutschland hat über 35 akkreditierte Journalisten in Moskau,[5] viele mit fundierter Landeserfahrung. Das größte Goethe-Institut der Welt befindet sich in Moskau, und das umfassendste Förderprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes konzentriert sich auf Russland. Auch hat Deutschland eine langjährige Tradition hervorragender Russlandforschung. Doch mehr als zwei Jahrzehnte haben aufeinanderfolgende deutsche Regierungen eine zwar konstante, aber erfolglose Politik gegenüber Moskau betrieben. Diese Politik basierte auf der Überzeugung, erweiterte wirtschaftliche Beziehungen und bestmöglicher Dialog mit der Regierung und der Gesellschaft würden dazu beitragen, Russland auf einen Weg der Reformen zu führen, an dessen Ende es in die Familie geistesverwandter demokratischer europäischer Nationen aufgenommen werde. Geleitet von Wunschdenken wollte Deutschland nicht hören, was liberale Russen und ostmitteleuropäische Regierungen sagten: dass sich Russland in eine Richtung entwickelte, die weit entfernt von dem war, was sich die Deutschen erhofften. In seinem hartnäckigen Bemühen um eine „strategische Partnerschaft“ hat Deutschland unwillentlich dem Aufkommen eines russischen Regimes Vorschub geleistet, das deutschen Interessen und Werten feindlich gegenüber steht. Deutschlands Politik ist nicht nur gescheitert, sie war kontraproduktiv. Sie legitimierte und stärkte ein zutiefst korruptes, zunehmend autoritäres und repressives russisches System, und sie ermunterte Russland indirekt, gewaltsam gegen seine Nachbarn vorzugehen und westliche Institutionen anzugreifen.[6]
Das ist eine unerfreuliche Tatsache für all jene politischen Entscheidungsträger, Geschäftsleute, zivilgesellschaftlichen Führungskräfte und andere in Deutschland, die ernsthaft in Deutschlands und Europas bestem Interesse zu handeln glaubten, wenn sie Verständnis für Russland zeigten und partnerschaftliche Beziehungen zur russischen Regierung pflegten. Der Einfall Russlands in die Ukraine hat dieses Scheitern allen deutlich vor Augen geführt. Deutschland war und ist nicht das einzige Land, das die Entwicklung Russlands falsch einschätzte und ein System förderte, das willens und fähig ist, sich dem Westen entgegenzustellen. Großbritannien zum Beispiel hat ebenfalls erheblich dazu beigetragen, indem es seine Augen vor der Herkunft des Geldes verschloss, das London überschwemmte und half, Mitglieder des neuen russischen Geldadels in den Westen zu integrieren.
In ähnlicher Weise haben US-Behörden den Aufstieg der russischen Mafia in New York und deren Rolle bei umfangreichen Geldwäscheaktivitäten des russischen organisierten Verbrechens ignoriert. Dieses Wegsehen beschleunigte die Kriminalisierung des russischen Staates. Auch die Regierung Obama schätzte Russland falsch ein. Der 2009 angestrebte Neustart (reset) in der Russlandpolitik scheiterte, weil er auf einer Fehlinterpretation russischer Interessen und Motivationen beruhte. Mehrere westliche Regierungen glaubten ebenfalls, in einer „postmodernen Welt“ näherten sich ihre Interessen langfristig denen Russlands an, und Moskau sei der gleichen Meinung. Und damit müssten sie in der Lage sein, Differenzen mit Russland auszuräumen.
Im Fall von Deutschland jedoch hätten die vielfältigen historischen Erfahrungen und Kenntnisse Russlands sowie die Fülle seiner sorgfältig gepflegten Kontakte in vielen verschiedenen Sektoren des russischen Lebens bereits Ende der 1990er-Jahre offenbaren sollen, dass die bisherige Strategie unrealistisch war und sie revidiert werden müsste. In der deutschen Osteuropaforschung wurde diese Entwicklung sorgsam und kritisch registriert. Aber die deutsche Politik verschloss bis zur Annexion der Krim im Jahr 2014 die Augen davor, in welche Richtung sich Russland entwickelte. Die wiederkehrende Beteuerung deutscher Entscheidungsträger, sich über Russland keine Illusionen zu machen, enthebt sie nicht der Verantwortung. Sie haben eine Politik konzipiert und betrieben, die auf einem Russlandbild beruhte, welches nicht der Realität entsprach. Auch deutete nichts darauf hin, dass Russland sich dem deutschen Wunschbild entsprechend verhalten werde. Diesem Russlandbild zufolge wäre das Land offen für westliche Ideen und einen Anschluss an Europa. Auch würde es mit der Tradition des Nullsummenspiel-Denkens in seinen Beziehungen zum Westen brechen, seine imperialen „Gelüste“ verlieren und sich auf eine Erneuerung von innen konzentrieren.
Tatsächlich war das Russland, das aus der Dunkelheit der 1990er-Jahre hervorgegangen war, gekränkt, verbittert und zunehmend entschlossen, sich in Europa wieder als eine traditionelle Großmacht zu etablieren. Die 90er-Jahre waren von tiefgreifendem politischem, sozialem und wirtschaftlichem Wandel geprägt und von dem hastigen, planlosen Übergang vom kommunistischen zu einem kapitalistischen System. Dieses „neue“ Russland nahm keine Rücksicht auf die Empfindlichkeiten der baltischen Staaten und anderer Länder in Ostmitteleuropa, die allesamt triftige historische Gründe hatten, sich vor Russland zu fürchten.[7] Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass es sich den Bemühungen Georgiens und der Ukraine, Sicherheitspartner des Westens zu werden, in den Weg stellen würde. Die Rolle der NATO in der europäischen Sicherheitsordnung wurde zu einem zunehmend neuralgischen Punkt für Moskau. Bemühungen der NATO, Russland zur Teilnahme an ihrem Partnerschaftsprogramm zu bewegen, scheiterten, weil Moskau dies als seinen Interessen abträglich und als Aufwertung der NATO ansah.
4 Russland als Bedrohung der Stabilität Europas
Die hier vorliegende Analyse geht von der Annahme aus, dass Russland in seinem gegenwärtigen Zustand und seiner aktuellen Konfiguration eine ernste Bedrohung für die Stabilität in Europa darstellt. Russlands autoritäres System ist im Inland schwach und doch stark genug, um als revanchistische Macht die Vakuen zu füllen, die durch den Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afrika, Afghanistan, dem Nahen Osten und Teilen Mittelamerikas entstehen. Russland hat sich in dem Maß, in dem es Europa den Rücken kehrte, China angenähert. Dabei ist es offenkundig bereit, sich mit einer Rolle als Juniorpartner abzufinden, da es keine Verbündeten hat, die den Einfluss Chinas ausgleichen könnten. Russlands Staatsführung will vor allem das eigene Überleben sichern. Sie erachtet die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der internationalen Stellung Russlands als unerlässlich, um ihre Herrschaft zu sichern.[8] Diesem Ziel räumt sie den Vorrang ein gegenüber der Notwendigkeit, das Land zu wappnen für ein neues wirtschaftliches und politisches Zeitalter, das von Klimawandel, Digitalisierung und anderen disruptiven Kräften geprägt sein wird. Aus dem Aufstieg Asiens, der Orientierungslosigkeit der USA und ihrer Verbündeten sowie der Diskreditierung westlicher Werte und den Spaltungen innerhalb westlicher Gesellschaften kann die russische Staatsführung tatsächlich kurzfristig Vorteile ziehen. Sie fürchtet Reformen im Innern, bleibt aber von ihrer außenpolitischen Stärke überzeugt. Dies hat sie im Jahr 2014 zu ihrer unbedachten Aggression gegenüber der Ukraine animiert, bei der Russland die Krim annektierte und gezielt den Südosten der Ukraine destabilisierte, was leicht einen größeren europäischen Konflikt hätte auslösen können. 2021, sieben Jahre nachdem Russland einen militärischen Konflikt im Donbass entfacht hatte und aufrechterhielt, hat Russland zweimal Streitkräfte nahe der ukrainischen Grenze zusammengezogen in der Absicht, sowohl die Ukraine als auch ihre westlichen Verbündeten einzuschüchtern. Am 24. Februar 2022 hat Russland dann tatsächlich die umfassende Invasion der Ukraine eingeleitet.
Durch sein Vorgehen hat sich Russland ein Volk zum Feind gemacht, zu dem es eine starke kulturelle Affinität besitzt, und es hat die Ukraine als eine politische Nation gestärkt, die ihre Zukunft nicht mehr in einem engen Bündnis mit Russland sieht. Die „Rückkehr“ der Krim zu Russland ist ein dürftiger Ausgleich dafür, dass es die Ukraine auf einen prowestlichen Entwicklungspfad gezwungen und seine Beziehungen zur EU und zur NATO massiv verschlechtert hat. Dass die Revolution in Belarus im Sommer 2020 Moskau kalt erwischte, war ein weiterer Beleg für dessen mangelhafte Entscheidungsfindung und begrenzte Fähigkeit zur Krisenbewältigung. Schon seit mehreren Jahren war klar, dass die Zeit des Lukaschenko-Regimes in Belarus ablief und Gefahr drohte. Weitere Fehleinschätzungen dieser Art dürften eher zu- als abnehmen mit dem Maß, in dem sich das russische System weiter abschottet, um widerstandsfähiger gegen äußere Bedrohungen zu werden.
In Anbetracht beträchtlicher Devisenreserven, großzügig finanzierter Sicherheitskräfte und keiner ernstzunehmenden Anzeichen für Differenzen innerhalb der Elite ist das gegenwärtige russische System nicht unmittelbar in seiner Existenz bedroht. Die Verfassungsänderung von 2020, die Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglicht, hat vorerst weitgehend die Ungewissheit über die Entwicklung nach Ablauf Putins jetziger Amtszeit 2024 beseitigt. Einige Bereiche der Wirtschaft wie Landwirtschaft, E-Commerce und Informationstechnologie entwickeln sich schnell und bezeugen ein hohes Maß an Innovationskraft. Allerdings verfügen die gegenwärtigen Staatslenker weder über die Weitsicht noch die Fähigkeit, Russlands zunehmende Stagnation zu verhindern. Die Gesamtinvestitionen bleiben niedrig, das Land verliert technologisch immer mehr an Boden, und seine klügsten Köpfe wandern auf der Suche nach besseren Chancen weiterhin ins Ausland ab. Mit der Verhängung massiver Sanktionen der westlichen Welt nach dem Überfall auf die Ukraine werden sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Russland noch erheblich verschlechtern.
Die äußere Ähnlichkeit von Moskau und St. Petersburg mit modernen europäischen Städten ist Russlands neueste Potemkinsche Fassade. Dahinter erstreckt sich nach wie vor dasselbe riesige, marode Land, in dem zahlreiche Regionen in einer anderen historischen Epoche in tiefer Armut, mit schlechter Infrastruktur und einem miserablen öffentlichen Gesundheitssystem leben. Die Begeisterung über die „Rückkehr“ der Krim, die Russlands Bevölkerung 2014 einte und der Regierung Putin den dringend benötigten Popularitätsschub verschaffte, ist heute eine ferne Erinnerung. Eine ähnliche öffentliche Stimmung wird sich in den kommenden Jahren nur schwerlich ein weiteres Mal erzeugen lassen. Vielmehr spricht vieles dafür, dass das schwache Wachstum der russischen Wirtschaft inmitten einer allgemeinen Stagnation anhalten wird, die an die UdSSR in den 1970er-Jahren erinnert. Wichtige Schlüsselakteure des Systems, darunter Putin selbst, klingen zunehmend angestaubt und aus der Zeit gefallen. Die Revolution im Verkehrssektor, die weltweit zusehends an Dynamik gewinnt, stellt eine klare Bedrohung für Russlands Erdöl- und Erdgasexporte dar, die ein Hauptstandbein der Wirtschaft bleiben. Diese Entwicklung macht Russland anfälliger für Schocks, die seine hohlen politischen Institutionen nicht abfedern könnten. Der Wandel könnte plötzlich, unkontrollierbar und gewaltsam eintreten, mit unabsehbaren Folgen für die „geteilte Nachbarschaft“ zwischen Europa und Russland und für Europa selbst.
5 Deutschlands historische Komplexe bezüglich Russland
Tief erschüttert über die Annektierung der Krim und den Überfall auf die Ukraine, werden sich deutsche Entscheidungsträger allmählich dieser Gefahr bewusst. Es fällt ihnen jedoch schwer, eine geeignete Gegenstrategie zu entwickeln. Deutschland hat nicht nur ein Problem mit Russland. Vielmehr hat es ein Russland-Problem, da es deutschen Politikern und Politikerinnen schwerfällt, Russland Entwicklungsrichtung zu erkennen und darauf aufbauend wirksame Gegenmaßnahmen zu konzipieren. Es ist ein Teufelskreis: Deutschlands Russland-Problem verschärft die von Russland ausgehende Herausforderung, weil es die Risikobereitschaft in Moskau erhöht. Das offenbarte sich mit dem russischen Ultimatum vom 15. Dezember 2021 und erst recht mit dem Angriff auf die Ukraine Ende Februar 2022. Die Entscheidungen der Bundesregierung vom 27. Februar 2022, der angegriffenen Ukraine mit Waffen zu helfen, Nord Stream 2 auf Eis zu legen und zusammen mit anderen westlichen Staaten eine Vielzahl tiefgreifender Sanktionen gegen Russland zu verhängen, markieren das Ende der bisherigen deutschen Politik. Allerdings kommen die Maßnahmen mindestens acht, wenn nicht noch viel mehr Jahre zu spät. Daher sollte sich der Blick noch einmal den Ursachen zuwenden, die zu dieser Fehlentwicklung geführt haben.
Für die EU- und die NATO-Verbündeten Berlins ist es derzeit wichtig zu verstehen, wie Deutschlands historische Erfahrungen und seine Einstellungen zu Russland seit 1990 das politisches Denken geprägt haben und es weiterhin tun. Zwar hat Deutschland nach dem russischen Vorgehen im Jahr 2014 eine Kurskorrektur vorgenommen. Doch nun, da Russland ganz Europa mit einem Schatten überzieht, drängen die historischen Komplexe Deutschlands bezüglich Russlands hervor. Deutsche und Russen haben, wie bereits angesprochen, eine von Gegensätzen gekennzeichnete, mehrere Jahrhunderte zurückreichende Beziehung, die friedlichen Austausch ebenso einschloss wie extreme Gewalt. Über 200 Jahre lang waren Deutsche, anders als Briten und Franzosen, Insider in Russland. Sie waren Teil des russischen Lebens und der russischen Kultur.[9] Diese Nähe besteht nicht mehr. Das Bewusstsein aber, dass es sie gab, ist auf beiden Seiten noch immer lebendig. Die Geschichte hat die Deutschen gelehrt, Russland als eine militärische Macht zu respektieren und zu fürchten, während sie seine Kultur und seine Menschen bewundern. Gleichzeitig hat die Niederlage gegen die Rote Armee im Jahr 1945 und die Erfahrung des Kalten Kriegs, als der Kommunismus eine existentielle Bedrohung für die Bundesrepublik darstellte, in den Deutschen tief den Wunsch nach einer dauerhaften Aussöhnung mit Russland verankert, so wie es ihnen mit den westlichen Nachbarn gelungen ist. Nach 1990 führte dieses Verlangen zu einer Politik, die auf russisches Fehlverhalten lieber mit dem Zuckerstück als mit der Peitsche reagierte, da Deutschland eine „Friedensordnung“ in Europa unter Einschluss Russlands anstrebte.[10]
Der Instinkt, der diesem Verhalten zugrunde lag, ist heute noch lebendig. Er inspiriert die Deutschen, einer Konfrontation mit Russland wegen der Gefahr eines Kriegs auszuweichen und russischen Interessen möglichst Rechnung zu tragen. Die Ursprünge diese Einstellung reichen weit zurück. Deutsche Kommentatoren zitieren noch immer regelmäßig Wilhelm I, König von Preußen (1861–71) und Kaiser (1871–1888), der eine respekteinflößende Armee aufbaute, aber einen Krieg vermied und bekanntlich mahnte: „Mit dem russischen Zar sollten Freundschaft und Harmonie angestrebt werden.“ Andernfalls seien die Risiken zu hoch, meinte er, und lasse sich nichts erreichen – und warnte gleichzeitig, man solle den Russen nicht allzu sehr vertrauen.[11]
Für die heutigen deutschen Entscheidungsträger ist Russlands Bereitschaft, eine auf Gegnerschaft beruhende politische Beziehung zu Deutschland zu unterhalten und seine Bündnisse zu torpedieren, während es zugleich weiterhin sein Gas an die Deutschen verkauft und deutsche Waren importiert, auf verstörende Weise kontraintuitiv. Aus ihrer Sicht macht es für Russland keinen Sinn, sich von Europa abzuwenden auf Kosten seiner Beziehung zu Deutschland, die ihm in der Vergangenheit klare Vorteile brachte. Schließlich hatte sich Deutschland für die Aufnahme Russlands in die G7 stark gemacht. Es hat sich in der EU und in der NATO besonders energisch bei seinen Verbündeten um Verständnis für Russland bemüht. Berlin spielte eine Schlüsselrolle, als die NATO im Jahr 2008 Vorschläge der USA blockierte, Georgien und der Ukraine Aktionspläne für die Mitgliedschaft anzubieten. Die Bundesregierung nahm auch die Bürde auf sich, trotz massiver Kritik den Bau der Nord-Stream-Pipelines zu rechtfertigen, die Gas direkt von Russland nach Europa befördern sollen. Dass Moskau die Beschädigung der Beziehungen so offensichtlich in Kauf nimmt, ist für viele Deutsche umso verstörender, die glauben, Putin möge Deutschland und interessiere sich sehr für das Land. Schlimmer noch: Russland greift Deutschland indirekt an, indem es Spaltungen innerhalb der EU und der NATO befeuert und damit seine strategischen Anker schwächt.
Verstehen lässt sich Deutschlands instinktiver Umgang mit Russland tatsächlich nur vor dem Hintergrund der bewegten und dramatischen Geschichte ihrer Beziehungen. Das Verhältnis der beiden Länder ist immer dann sehr produktiv und wechselseitig vorteilhaft gewesen, wenn sich ihre Interessen deckten, und verheerend, wenn sie es nicht taten. Diese Dualität bildet das Fundament ihrer Sonderbeziehung. Deutsche hatten im Lauf der Jahrhunderte einen bemerkenswerten Einfluss auf Russlands kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung, auch in Staatsämtern. Die außergewöhnlich lange Regierungszeit Katharinas der Großen (1762–96) bleibt dafür das beste Beispiel, auch wenn sie erhebliche Anstrengungen unternahm, sich von ihrer deutschen Herkunft zu distanzieren. Über einen noch weit längeren Zeitraum haben Deutsche das Bildungs- und Gesundheitssystem sowie die Armee Russlands maßgeblich beeinflusst, ganz zu schweigen von Literatur und Philosophie.
Der Aufstieg Preußens veränderte die politische Karte Europas auf tiefgreifende Weise und führte dazu, dass es sich Ende des 18. Jahrhunderts mit Russland (und Österreich) zusammentat, um Polen zu teilen. Dieses Muster der Kooperation von Deutschen und Russen wiederholte sich nach dem Ersten Weltkrieg und führte 1939 zum Molotow-Ribbentrop-Pakt. Die diabolische wechselseitige Anziehungskraft zwischen Nazi-Deutschland und der UdSSR mündete unweigerlich in eine Konfrontation zwischen beiden, und zwar in einem unvorstellbaren Ausmaß. Es erstaunt nicht, dass Hitlers Einfall in die UdSSR und die katastrophale Niederlage der Wehrmacht gegen die Rote Armee das deutsche Denken über Russland noch heute stark beeinflussen. Gleiches gilt für die Tatsache, dass viele Russen den Deutschen nach dem Krieg vergeben haben. Deutschlands Teilung in der Nachkriegszeit und die Erfahrung, sich an der Frontlinie des Ost-West-Konflikts zu befinden, hat ebenfalls tiefe Spuren hinterlassen. Viele Deutsche sehen zwischen der Ostpolitik und dem späteren Untergang der UdSSR einen kausalen Zusammenhang. Dies erklärt teilweise die weiterhin dominierende Überzeugung, Handelsbeziehungen könnten als ein Hebel dienen, um Spannungen im Verhältnis zu Russland abzubauen und die Interessen Schritt für Schritt zur Deckung zu bringen.

Hissen der sowjetischen Flagge auf dem Reichstag, Mai 1945
Die turbulenten historischen Erfahrungen haben bei den Deutschen konträre Einstellungen hinterlassen und dazu beigetragen, dass die Beziehungen zu Russland zwiespältig blieben. Das deutsche Russenbild schwankte zwischen zwei Extremen: Bald galten ihnen die Russen als asiatische Barbaren, bald als rein und unverdorben von westlichen Einflüssen. In ähnlicher Weise hielten die Deutschen Russland für kulturlos oder gebildet, für rückwärtsgewandt oder fortschrittlich, für einen Partner oder einen Feind. Bei Nationen wie Großbritannien und Frankreich, die Rationalität hochschätzen, schüren derart miteinander unvereinbare Einstellungen Unbehagen, vor allem, weil sie so tief in der deutschen Psyche verwurzelt sind. Deutschen Entscheidungsträgern fällt es schwerer als ihren britischen oder amerikanischen Kollegen, über den Umgang mit einem konfrontativen Russland zu diskutieren, da sie instinktiv jegliche Konfrontation vermeiden wollen. Ihnen fehlt auch das Verständnis für andere, die keine solch enge Beziehung zu Russland aufweisen und das Land nie in gleicher Weise „romantisch verklärt“ haben.[12]
Deutschlands emotionale Verbundenheit mit Russland steht nur allzu leicht der Rationalität im Wege, die bei der Betrachtung von Russlands Verhalten geboten ist. Dies ist einer der Schwachpunkte Deutschlands – und Moskau ist sich voll und ganz der Möglichkeiten bewusst, die sich damit eröffnen. Die Entschlossenheit beim Bau der Pipeline Nord Stream 2, um so größere Gasmengen auf direktem und sicherem Weg aus Russland zu beziehen, ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, dass Logik bei den Überlegungen deutscher Industrie- und Regierungskreise keine Rolle spielte. Schließlich wäre ein Gastransit durch die Ukraine ohne Umgehungsinfrastruktur, wie die Nord Stream Pipelines sie haben, besser geeignet gewesen, Europas Sicherheit zu schützen. Diese Struktur hätte Russland eher von möglichen Aggressionen gegen die Ukraine abgehalten, da eine größere militärische Konfrontation die Sicherheit des Transits gefährden und so Russlands Risikokalkül beeinflussen könnte.[13] Deutschlands Bestreben hingegen, mittels einer direkten Leitung Gas aus Russland zu beziehen, hat die Sicherheit der Ukraine untergraben, an der Deutschland eigentlich vitales Interesse hat. Es besteht nunmehr die Gefahr, dass der Krieg in der Ukraine auf andere Länder übergreift und große Migrationsströme Richtung Westen auslöst, auch nach Deutschland.
Zu dieser heute noch vorhandenen Irrationalität und Wankelmütigkeit hat auch Deutschlands Wiedervereinigung einen Beitrag geleistet. Dieses wunderbare Ereignis verdankt sich allerdings mehr dem Zufall als einer bewussten russischen Politik des Wohlwollens. Damals schien es, als wäre ein vereinigtes Deutschland mit seinen Nachbarn im Westen und Osten vollständig ausgesöhnt und im Frieden mit Russland. Die Wiedervereinigung war sozusagen eine Luxusausführung des „gemeinsamen europäischen Hauses,“ von dem Michail Gorbatschow gesprochen hatte, mit der unerwarteten „Zugabe“ der NATO-Mitgliedschaft für ganz Deutschland. Historisch betrachtet war dies eine sehr kurze, einmalige Chance: Die UdSSR befand sich auf dem Rückzug, stand kurz vor der Auflösung und war bereit, in ihren Beziehungen zum Westen Opfer zu bringen, um Zeit für den Neuaufbau zu gewinnen. Es war Russlands zweites Brest-Litowsk des 20. Jahrhunderts. Folglich ist die Dankbarkeit der Deutschen gegenüber Moskau für die Wiedervereinigung zwar verständlich, aber übertrieben. Gorbatschows Entscheidung, den Satellitenstaaten der UdSSR zu erlauben, ihren eigenen Weg zu gehen, hatte den Prozess unaufhaltbar gemacht.[14]
Es war für Deutschlands ein Glücksfall, dass sich die Ereignisse derart überschlugen, so dass Moskau nicht mithalten konnte und keine Möglichkeit hatte, militärische Gewalt einzusetzen, um die Sowjetunion zumindest vorübergehend zusammenzuhalten. Zudem akzeptierte Gorbatschow die westlichen Argumente für die Aufnahme eines vereinigten Deutschland in die NATO und setzte sich im Politbüro mit seiner Meinung durch. Die heutige russische Staatsführung würde nicht derselben Logik folgen und Gorbatschow dafür verabscheuen, dass er den Zerfall der UdSSR hingenommen hat – doch es ist ihr mehr als angenehm, dass Deutschland für seine Wiedervereinigung Dankbarkeit gegenüber Moskau empfindet. Denn das und die historische Konditionierung der Deutschen geben Russland bei der Gestaltung seiner Beziehungen zu Deutschland ein Druckmittel an die Hand.
6 Partnerschaft als Ideologie
Ein Überblick über Deutschlands Russlandpolitik zwischen 1990 und 2014 zeigt, dass alle Regierungen an der Vorstellung festhielten, Russland sei ein Partner in Europa. Sie taten das unter Missachtung der Realität und waren bereit, die Rückschritte im Bereich Demokratie und der Menschenrechtsverletzungen zu ignorieren und die Entwicklung einer Form von Kapitalismus zu tolerieren, die mit Rechtsstaatlichkeit unvereinbar ist. Als wichtigster Indikator für Russlands Fortschritt galt hingegen das Wachstum des Handels mit Deutschland. Berlin war überzeugt, mehr Handel fördere wirtschaftliche Entwicklung und damit gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit. Dahinter verbarg sich die Illusion, Russland könnte, so wie Deutschland nach 1945, auf eine frühere Rechtskultur zurückgreifen. Die Wahl eines Deutsch sprechenden Präsidenten im Jahr 2000 verleitete viele in Berlin zu der Annahme, die Beziehungen könnten gar nicht besser sein. Die politische Führung in Deutschland verschloss lange Zeit die Augen davor, dass der Kreml private Medienunternehmen dichtmachte, politische Opposition und Zivilgesellschaft mehr und mehr unterdrückte und das Rechtssystem des Landes zunehmend untergrub, um seine Macht zu festigen und Selbstbereicherung zu erleichtern. Gleichzeitig achteten deutsche Entscheidungsträger nicht auf die Warnzeichen, als hohe Rohstoffpreise die russische Führung animierten, die westliche Politik herauszufordern und zu verlangen, die am Ende des Kalten Kriegs vereinbarten Grundsätze der europäischen Sicherheitsordnung neu auszuhandeln. Auch erkannte Berlin nicht, dass sich Russland im Rahmen der „gemeinsamen Nachbarschaft“ durch die EU provoziert fühlte, was Voraussetzung für die dramatische Verschlechterung der Beziehungen im Zuge des Ukraine-Konflikts Anfang 2014 sein sollte.
Angela Merkels Neuausrichtung der deutschen Russlandpolitik als Reaktion auf das russische Vorgehen in der Ukraine 2014 hat viele überrascht. Die klare Haltung und Entschlossenheit der Kanzlerin, die von der Regierung Obama nur begrenzte Unterstützung erhielt, erlaubte es Deutschland, eine eindrucksvolle Führungsstärke in der EU zu zeigen und über die Notwendigkeit einer kraftvollen politischen Unterstützung für die Ukraine und über Wirtschaftssanktionen gegen Russland Konsens herzustellen. Die Preisgabe ehedem unerschütterlicher Überzeugungen im Umgang mit Russland war für viele Praktiker aus der Ostpolitik-Generation ein Schock, erhielt jedoch breite öffentliche Unterstützung, auch seitens der Wirtschaft. Deutsche Entscheidungsträger erarbeiteten geschickt eine EU-Strategie gegenüber Russland, die den Geist der Harmel-Doktrin der NATO aus den 1960er-Jahren beschwor, der Dialogbereitschaft mit Abschreckung verknüpfte und der Détente den Weg bereitete. Für Zwecke der Präsentation war dies wichtig. Es trug dazu bei, dass der Strategiewechsel in Deutschland und anderen EU-Ländern auf breite Akzeptanz stieß, auch bei denen, die Bedenken hatten, Sanktionen gegen Moskau zu verhängen.
Dieses Vorgehen machte allerdings auch deutlich, dass sich Deutschland nicht in einer umfassenden Konfrontation mit Moskau sah, sondern diese unbedingt vermeiden wollte. Zwar fing die Bundesregierung an, Russland realistischer zu sehen, aber die Grenzen des Erreichbaren zeigten sich ebenfalls recht bald. Deutschlands Bemühungen, einen Friedensprozess in der Ukraine auszuhandeln, waren nur scheinbar erfolgreich. In Wirklichkeit sah Russland keine hinlänglichen Anreize für eine Änderung seiner Strategie. Trotz seiner entschlossenen Befürwortung von Sanktionen wollte Deutschland nicht darauf verzichten, seine Energiebeziehungen zu Russland auszuweiten. Die Unterstützung der Regierung für die zweite Nord Stream Pipeline, die die Kapazität direkter Gaslieferungen nach Deutschland verdoppeln sollte, ließ erkennen, dass die neue Russlandpolitik nicht wirklich mit der früheren brach. Sie räumte dem Interesse der deutschen Industrie an billigem Gas Vorrang ein vor den Sicherheitsinteressen der Ukraine, der die Umleitung des Gases durch die neue Pipeline einen großen Verlust an Sicherheit und Einnahmen einbrachte. Die Bundesregierung ignorierte auch die Energiesicherheitsstrategie der EU sowie die Einwände seiner ostmitteleuropäischen Nachbarn, die sich in ihrem entschlossenen Widerstand gegen das Projekt einig waren.
Deutschland hat sich damit, ohne es zu wollen, zum Komplizen von Moskau gemacht in dessen Bestreben, zusätzlichen Druck auf die Ukraine auszuüben. Es hat auch die Glaubwürdigkeit und Entschlossenheit von EU und NATO in ihrem Vorgehen gegen Russland unterhöhlt. Russlands diplomatische Offensive vom Dezember 2021 (das Ultimatum) hat die neue Bundesregierung in eine unkomfortable Situation manövriert, denn die Verbündeten drängten immer stärker, dem Projekt Nord Stream 2 endlich ein Ende zu setzen. Russland hat inzwischen gezeigt, wie geschickt es Abhängigkeiten im Energiesektor für strategische Zielsetzungen auszunutzen versteht. Mit dem Einmarsch in die Ukraine ist die deutsche Russlandpolitik vollends kollabiert.
In der Rückschau ist es unverständlich, wie sehr sich Deutschland wirtschaftlich von Russland abhängig gemacht hat. Anders als vielfach vermutet, waren die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen schon vor den 2014 verhängten EU-Sanktionen unterentwickelt und in punkto Handelsvolumen für Deutschland weit weniger wichtig als andere Märkte „im Osten.“ Beim Gas hat sich die Lage in den letzten Jahren erheblich gewandelt, weil die EU Gazprom zwingen konnte, sich dem aufsichtsrechtlichen Ordnungsrahmen der EU zu fügen. Das hat auch manchen Geschäftsmodellen deutscher Unternehmen, die russisches Gas importierten und verteilten, den Boden entzogen. Diese regulatorischen Eingriffe haben das Verhältnis der EU zu Russland stark belastet und die Zerrüttung ihrer Russlandbeziehungen im Zuge des Ukraine-Konflikts vorangetrieben. Ungeachtet der beschönigenden Worte Deutschlands über die Förderung guter Regierungsführung durch Ausweitung des Handels, haben sich einige deutsche Großunternehmen mitunter in die systemische Korruption in Russland verwickeln lassen. Für die russische Staatsführung war diese Doppelmoral ein Geschenk, sah sie sich doch in ihrer Auffassung bestätigt, westliche Werte seien bloße Lippenbekenntnisse und deutsche Unternehmen wären bereit, sich darüber hinwegzusetzen, wenn der Preis stimmt. Jenseits der Gaslieferungen, deren Bedeutung nach und nach schwinden wird, beeinflusst aber immer noch die irrige Vorstellung, Russland sei ein wichtiger deutscher Exportmarkt, die Ansichten in Deutschland über die Gestaltung der Beziehungen zu Moskau.
7 Russlands Einfluss in Deutschland
Das Thema der russischen Einflussnahme in Deutschland ist noch immer unzureichend erforscht. Die Bundesrepublik ist seit langem Ziel russischer Soft-Power-Operationen und Spionage und seit 2014 auch neuen, „härteren“ Instrumenten wie Desinformation und Cyberangriffen ausgesetzt. Die „Lisa-Affäre“ im Januar 2016 offenbarte die Fähigkeit russischer Medien, im gesamten Land die russlanddeutsche Gemeinschaft zu mobilisieren. Lisa, ein 13-jähriges russlanddeutsches Mädchen, das in Berlin lebte, verschwand länger als einen Tag und berichtete, drei „südländisch“ aussehende Männer hätten es entführt und mehrfach vergewaltigt. Polizeiliche Ermittlungen deuteten jedoch darauf hin, dass ihre Angaben unglaubwürdig waren. Das hielt eine Menge von 700 Personen jedoch nicht davon ab, vor dem Bundeskanzleramt zu demonstrieren – ein Ereignis, über das im russischen Fernsehen berichtet wurde und das den russischen Außenminister veranlasste, deutschen Behörden vorzuwerfen, in dem Fall nicht mit gebührender Sorgfalt zu ermitteln.[15] 2015 war der Deutsche Bundestag Ziel zweier Cyberangriffe, die mit Russland in Verbindung gebracht wurden. Beim zweiten Angriff brachen Hacker in die Computersysteme von 14 Bundestagsabgeordneten, einschließlich Angela Merkels, ein und stahlen 16 Gigabyte Daten. Dies befeuerte Spekulationen, denen zufolge Russland beabsichtige, sich in die im Herbst stattfindenden Bundestagswahlen einzumischen. Ermittler schrieben den Angriff der Gruppe Fancy Bear, auch APT 28 genannt, zu, die mit dem russischen Militärgeheimdienst in Verbindung stehen soll.
Einstweilen scheint sich Russland mit der erreichten Soft-Power-Infiltration in Deutschland zufriedenzugeben. Die deutsche Diskussion darüber hat der russischen Einflussnahme durch etablierte Netzwerke in den politischen Mainstreamparteien und der Wirtschaft nur wenig Beachtung geschenkt. Das ist nicht weiter verwunderlich, weil die deutschen Nachrichtendienste über dieses äußerst sensible Thema nicht offen diskutieren. Aber die Folgen sind erkennbar. Die linksgerichtete Partei „Die Linke“ mit ihren Wurzeln in der ehemaligen Staatspartei der DDR (der SED) vertritt russlandfreundliche bzw. unkritische Positionen, die erstaunlicherweise denen der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) nahestehen. Die unterschiedlichen ideologischen Sympathien der beiden Parteien mit Russland stellen gemeinsam eine gewichtige Art der Einflussnahme in Deutschland dar. Eine bedeutende Zielgruppe ist und bleibt die große Gruppe der Russlanddeutschen. Bislang hat Russland nur spärlich Gebrauch von Desinformationstaktiken gemacht. Cyberangriffe auf Regierung und Parlament haben Moskaus Fähigkeiten auf diesem Gebiet belegt. Seine Entscheidung, die geraubten Daten bei den Bundestagswahlen 2017 nicht zu verwenden, spricht jedoch dafür, dass es seine bestehenden Einflussmöglichkeiten als ausreichend erachtete und keine Notwendigkeit sah, sich in den Wahlprozess einzumischen, wie es dies in Frankreich, Großbritannien und den USA getan hatte.
8 Die Erschütterung des deutschen Russlandbilds
In den kommenden Jahren wird sich die Russlandfrage für Deutschland zu einer noch größeren Herausforderung entwickeln, da die innenpolitische Lage in Russland komplizierter und das internationale Umfeld turbulenter werden wird. Auch wenn das gegenwärtige russische System unbestritten Schwächen hat, ist es noch in der Lage, die Gesellschaft unter Kontrolle zu halten. Doch stagnierende Lebensstandards und Legitimationsdefizite der Staatsführung können leicht zu Quellen ernstzunehmender Instabilität werden. Vorerst haben die Regierenden in Russland sowohl den Willen als auch die Ressourcen, um die Unterdrückung abweichender Meinungen zu verstärken und, falls nötig, Gewalt anzuwenden, um eine großangelegte Mobilisierung der Gesellschaft gegen ihre Herrschaft zu verhindern. Der Kreml bereitet sich seit langem auf ein solches Szenario vor, nachdem er verfolgt hat, wie Georgien und die Ukraine in den Jahren 2003/04 Revolutionen „von unten“ erlebt haben. Seither lautet seine Botschaft an die Wähler, „Farbrevolutionen“ seien das Machwerk von US-Außenministerium, USAID und anderen ausländischen Agenten in der Absicht, Ähnliches auch in Russland zu inszenieren.
Die russische Staatsführung glaubt ernsthaft, die massiven Proteste in den Jahren 2011–12 gegen Putins dritte Amtszeit als Präsident seien den USA ebenso zuzuschreiben wie der Euromaidan („Revolution der Würde“) im Jahr 2014. Ihrer Logik zufolge hätten die USA kein direktes Interesse an der Ukraine, sondern wollten Russland schwächen. Ebenso kam der Kreml zu dem Schluss, dass die CIA und das Pentagon – neben weiteren US-Behörden – hinter den Ereignissen in Belarus im Jahr 2020 steckten. Wenn die russischen Behörden die bürgerlichen Freiheiten weiterhin einschränken und Menschenrechte missachten, werden sie ihre internationale Isolation verstärken. Dem Muster der letzten Jahre entsprechend wird Moskau dann wahrscheinlich seine Aktivitäten im Ausland intensivieren, um sich nachhaltig bemerkbar zu machen. Es hat ganz in seiner Nähe eine Reihe von „Spielwiesen“, auf denen es sich tummeln kann – auf dem Balkan, im Kaukasus, in Moldawien und der Ukraine sowie, weiter entfernt, in Libyen und Syrien. Und es könnte sich um noch mehr Annäherung an China bemühen, zumal die Spannungen zwischen den USA und China zunehmen. Kurzum, das Risiko von Interessenkollisionen mit westlichen Ländern einschließlich Deutschland dürfte eher zu- als abnehmen.
Vor dem Szenario einer verschärften Konfrontation schreckt die russische Führung nicht zurück. Das ist spätestens seit dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 traurige Gewissheit. Russland hat für eine solche Konfrontationspolitik vier Gründe: Erstens stärkt sie im Inland das Narrativ, „der Westen“ wolle Russland im Rahmen einer Neo-Eindämmungspolitik in seine Schranken verweisen und in eine „belagerte Festung“ verwandeln. Diese angebliche äußere Gefahr für Russland erlaubt der Führungsriege Maßnahmen, um ihre und die Sicherheit des Volkes vor der „wahren“ Bedrohung zu schützen. Zweitens entspricht ein konfrontativer Kurs der Sucht des Kremls, überall im Trüben zu fischen, sei es in Gebieten wie Syrien, aus denen sich die USA zurückgezogen haben, oder in westlichen Ländern selbst durch Einmischung in demokratische Prozesse, um so gesellschaftliche Spaltungen zu verschärfen. Dies ist Teil der Strategie, das russische System zu schützen, indem man das äußere Umfeld zu seinem Vorteil gestaltet. Drittens eröffnet bewusste Konfrontation Chancen, Schwächen von EU und NATO aufzudecken und die Entfremdung zwischen den USA und ihren europäischen Verbündeten zu forcieren. Spaltungen innerhalb der EU in Bezug auf den Umgang mit Russland bieten der russischen Diplomatie potentiell vielfältige Gelegenheiten. Viertens hat Moskau erkannt, dass seine konfrontative Strategie europäische Regierungen einschüchtert und dazu bringt, eher auf den Dialog mit Moskau als auf Abschreckung zu setzen. Dieser letzte Punkt dürfte allerdings nach dem 24. Februar 2022 nicht mehr gelten. Im Gegenteil: die Aggression gegen die Ukraine hat die westliche Gemeinschaft wieder eng zusammengeführt und Deutschland ist mit dabei.
Dass Deutschland nach Ende des Kalten Kriegs nicht in den Erhalt ausreichender Verteidigungsstreitkräfte investiert hat, sagt viel über seine innere Ablehnung strategischen Denkens. Es gab sich der Illusion hin, in einer neuen Ära des Friedens zu leben. Das wurde verstärkt durch die NATO-Erweiterung, die die Deutschen von der 45 Jahre lastenden Bürde einer geteilten Nation beidseits des Eisernen Vorhangs befreite. In diesem scheinbar freundlichen Umfeld bestand vermeintlich kein dringender Bedarf mehr an US-Sicherheitsgarantien, und die deutschen Streitkräfte konzentrierten sich auf Out-of-area-Krisenbewältigung zu Lasten der Bündnisverteidigung. Dies hatte weitreichende Auswirkungen auf Größe, Struktur, Ausrüstung und Ausbildung der Bundeswehr. Im Jahr 2007 verglich ein hoher britischer Offizier die Fähigkeiten der Bundeswehr mit denen eines „aggressiven Campingvereins.“ Seit 2014 ist ein Verteidigungsplanungsprozess in Gang, der die Bündnisverteidigungs- und Abschreckungsfähigkeiten der Streitkräfte wiederherstellen soll. Er wird erst im Jahr 2032 abgeschlossen sein und bis dahin bleibt eine kritische Phase erheblicher Verwundbarkeit bestehen.
Mittlerweile haben sich die Dinge in Berlin unter dem Eindruck der russischen Invasion in der Ukraine aber grundlegend gewandelt. Deutschland will über zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Verteidigung aufwenden und ein Sondervermögen von 100 Mrd. Euro für die Ausrüstung der Bundeswehr einrichten. Eine solche Kehrtwende hätte bis zum 27. Februar 2022 niemand für möglich gehalten und es bleibt zu hoffen, dass sie nicht im politischen Klein-Klein wieder zerredet wird.
Ein erhöhtes militärisches Engagement Deutschlands ist dringend nötig, denn die amerikanische Sicherheitsgarantie ist nicht mehr so sicher wie früher. Im Kalten Krieg war das US-Militär in der Lage, Streitkräfte in zwei größere Einsatzgebiete gleichzeitig zu entsenden, und verfügte selbst dann noch über genügend Reserven, um eine weitere kleinere Krise zu bewältigen. Heute vermag es nur noch auf einen großen Konflikt und einen kleineren Notfall zu reagieren.[16] Sollten die USA also mit einer schwereren Krise in der Region Asien-Pazifik konfrontiert sein, fiele es im Ernstfall den europäischen NATO-Mitgliedern schwer, zusammen mit einer geschrumpften US-Streitmacht Europas Verteidigung zu gewährleisten. Die strategischen Lagebeurteilungen der Bundesregierung nach dem russischen Einmarsch in Georgien im Jahr 2008 und der Annektierung der Krim 2014 ließen keinen Zweifel an der Notwendigkeit, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Die Regierenden wollten diese unpopuläre Botschaft jedoch nicht in die Öffentlichkeit tragen. Die Entscheidungsträger in Berlin redeten bei diesem Punkt viel lieber um den heißen Brei herum. In einer Rede im Oktober 2020 meinte die damalige Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, Deutschland müsse ein „strategischer Geber“ werden, statt ein „Nehmer“ zu bleiben. Das bedeute, man müsse ein „harter machtpolitischer Faktor“ werden.[17] Allerdings erwähnte sie mit keinem Wort, dass der Erwerb dieser Fähigkeit etwas kosten werde. Stattdessen betonte sie, wie wichtig der Erhalt der transatlantischen Verbindung sei, die in den vergangenen zwanzig Jahren und insbesondere unter Präsident Donald Trump erheblich gelitten hatte.
Die Krise der freiheitlichen Demokratie, symbolisiert durch die Wahl Trumps im Jahr 2016, und der Aufstieg populistischer Kräfte in mehreren westlichen Ländern waren Wasser auf die Mühlen des Kremls. Deswegen ist die russische Staatsspitze der Überzeugung, die Geschichte stehe auf ihrer Seite. Putin erklärte 2019 unumwunden, der Liberalismus habe sich überlebt. Russlands überbordendes Selbstbewusstsein rührt zum Teil daher, dass es sich darauf versteht, westliche Schwächen auszunutzen, ohne ernsthafte Vergeltungsmaßnahmen zu provozieren. Westliche Länder haben es eindeutig verabsäumt, Russlands Schwachstellen in gleicher Weise zu analysieren und sich als Teil einer Strategie zur Verteidigung ihrer Interessen zunutze zu machen.
Tatsächlich dienen Putins Beteuerungen, er wolle das internationale System den neuen Realitäten anpassen, lediglich als Deckmantel für eine rückwärtsgewandte Agenda. Mit seiner nostalgischen Beschwörung des Abkommens von Jalta und des Potsdamer Abkommens sucht Putin Zuflucht in der Vergangenheit. Wenn die heutige russische Führung von einer neuen Sicherheitsordnung spricht, denkt sie an eine alte. Im Vorfeld des 75. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs schlug Putin sogar einen Gipfel der fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats vor, auf dem globale Sicherheitsfragen erörtert werden sollten. Absurderweise blieb Deutschland außen vor, das Land mit der größten Bevölkerung in Europa und die viertgrößte Volkswirtschaft weltweit. Die russische Führung ist wie besessen von der Vorstellung, die USA besäßen auf internationale Angelegenheiten einen beherrschenden Einfluss, den das ebenbürtige Russland balancieren müsse. Diese Sichtweise ignoriert nicht nur Russlands wirtschaftliche Schwäche, sondern auch Washingtons derzeit eher abnehmendes Interesse an vielen Regionen, so zum Beispiel am Nahen Osten. Selbstüberschätzung gepaart mit paranoiden Ängsten lässt Moskau mit unveränderter Entschlossenheit sein traditionelles Ziel verfolgen, die transatlantische Verbindung zu schwächen und Europa in einen Zustand zu versetzen, in dem nichts ohne Moskaus Zustimmung geht. Hinsichtlich der transatlantischen Beziehungen wurde Trump durch seine Geringschätzung der NATO, seine Verachtung für die EU und seine Neigung, Deutschland eher als Gegner denn als Verbündeten zu behandeln, zu einem Kompagnon Moskaus. Seine Attacken wegen Deutschlands niedriger Verteidigungsausgaben und seine rigorose Ablehnung von Nord Stream 2 waren für deutsche Verantwortungsträger eine nervenaufreibende Erfahrung, auf die unter Präsident Joe Biden eine gewisse Entspannung folgte. Doch selbst wenn sich die Atmosphäre weiter verbessert, lassen die deutsch-amerikanischen Beziehungen keine Rückkehr zum Status quo vor der Ära Trump erwarten, da sich inzwischen zu viel verändert hat.
Mit seinen Äußerungen zur NATO hat Trump ausgesprochen, was mehrere frühere US-Präsidenten gedacht, aber nicht offen gesagt hatten. Wie Robert Gates, von 2006 bis 2011 unter zwei Regierungen US-Verteidigungsminister, feststellte, haben trotz der 2002 vereinbarten Zusage, jeweils zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) für Verteidigung auszugeben, in den Jahren 2007–08 nur fünf der 28 NATO-Mitgliedstaaten dieses Ziel erreicht. Dazu gehörten Griechenland und Kroatien, nicht aber Deutschland. Gates schrieb, im Anschluss an die Weltfinanzkrise die Europäer zur Aufstockung ihrer Verteidigungsbudgets aufzufordern, sei „ungefähr so sinnvoll, wie einen Brunnen niederbrüllen zu wollen.“[18] 2016 lagen die deutschen Verteidigungsausgaben noch immer bei 1,2 Prozent des BIP. Nunmehr soll sich das endlich ändern.
Obgleich Deutschland bislang die Zwei-Prozent-Zielvorgabe verfehlte, erachtete es anders als Frankreich die NATO als unerlässlich für die Sicherheit Europas. Dies verstärkte in Washington den Eindruck, Deutschland verhalte sich auf Kosten der USA wie ein „Trittbrettfahrer.“ Trumps Entscheidung im Sommer 2020, die US-Militärpräsenz in Deutschland weiter zu verringern, steigerte in Berlin die Angst, die USA hätten immer weniger Scheu, ihre Beziehungen zu Schlüsselalliierten herabzustufen. Vorausgegangen war Trumps Entschluss, aus dem Pariser Klimaabkommen von 2015 auszusteigen und trotz scharfer Ablehnung seitens Frankreich, Deutschland und Großbritannien das Nuklearabkommen mit dem Iran aufzuheben und erneut Sanktionen gegen Teheran zu verhängen. Deutschland betrachtete die zunehmende Auflösung der internationalen Ordnung und die Schwächung des globalen Systems unter Führung der USA mit großer Sorge, hatte seine Wirtschaft doch enorm davon profitiert. Verschlimmert wird die ohnehin schwierige Lage durch die Corona-Epidemie, die erhebliche Folgen für die Zukunft der globalisierten Wirtschaft und Europas Beziehungen zu China haben könnte, während die USA mit verstärktem Druck Chinas globalen Einfluss einzudämmen versuchen. Dadurch gerät Deutschland aufgrund seines hohen Handelsvolumens mit China (10 Prozent der Einfuhren und über 6 Prozent der Ausfuhren entfielen 2019 auf China) in eine unangenehme Lage. All diesen übergeordneten Problemen wird die Regierung viel Zeit und Aufmerksamkeit widmen müssen, womöglich auf Kosten der Wachsamkeit gegenüber Russland und der „geteilten Nachbarschaft.“
Die Lage innerhalb der EU liefert der Schadenfreude des Kremls und Deutschlands Unbehagen weitere Nahrung. Großbritanniens Austritt hat die EU einer gewichtigen Stimme im Verhältnis zu Russland und der Region beraubt. Die Chance ergreifend, Frankreichs Einfluss auszuweiten, befürwortete Präsident Emmanuel Macron einen strategischen Dialog mit Moskau in der Überzeugung, Russland könne noch immer einen konstruktiven Beitrag zur Sicherheit in Europa leisten. Deutschland unterstützte ihn nicht, weil es befürchtet, die französische Position könne die EU in der Russlandfrage spalten. Zudem rütteln Ungarns und Polens Regierungen an den konstitutiven EU-Werten der Rechtsstaatlichkeit, während Mitglieder wie Österreich, Griechenland, Ungarn und Italien den Sinn von Sanktionen gegen Russland in Frage stellen. Nicht zuletzt hat Deutschland selbst mit Die Linke und der AfD zwei populistische Parteien, die im Bundestag und in etlichen Landtagen stark vertreten sind – ein Beleg für das Ausmaß an Enttäuschung im Osten des Landes. Die „blühenden Landschaften“, die Helmut Kohl im Jahr 1990 der Bevölkerung der DDR versprach, sind ausgeblieben. Noch viel schwieriger konnte der Hintergrund der deutschen Russlandpolitik am Ende der Ära Merkel kaum aussehen.
Nach dem Ende der Ära Merkel hat Deutschland nicht länger den Vorteil, eine Russisch sprechende Kanzlerin zu haben, die in der DDR aufgewachsen ist, über profunde Kenntnisse Russlands und der Region verfügt und ein Faible für die russische Kultur hat. Für Deutschland und auch für Europa war das ein großer Pluspunkt. Die Erfahrung, in der DDR aufgewachsen zu sein, gab ihr wichtige Aufschlüsse über die Psychologie Putins und seiner früheren KGB-Kameraden. Nach ihrem ersten Treffen mit Putin soll sie scherzhaft gesagt haben, sie hätte den Test bestanden, indem sie seinem „starren KGB-Blick“ erfolgreich standhielt. Zweifellos ahnte sie nicht, wie lange sie mit ihm als Amtskollegen zu tun haben würde. Sie fand sich damit ab, dass er verspätet zu Treffen erschien, sich taktlos verhielt und unpassend herumwitzelte. So charakterisierte er einmal ihr gegenüber die russische Opposition als „sexuell abartig.“ Selbst nach Annektierung der Krim fand sie tapfer weiterhin die Geduld, mit ihm im Gespräch zu bleiben, ungeachtet der Lügen, die Putin ihr über Russlands (Nicht-)Beteiligung an der Machtergreifung durch die Sezessionisten auftischte. Der Kalender von Ereignissen auf der Webseite des Kremls ist übersät mit Einträgen von Telefonaten zwischen Putin und Merkel, die auf Wunsch der deutschen Seite stattgefunden hätten. Der Kreml stellte klar, Merkel habe Putin anzurufen und nicht umgekehrt.

Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Putin im März 2018
Im Jahr 2018 verriet Putin, die Kanzlerin schicke ihm gelegentlich Flaschen mit sächsischem Bier, das er während seiner Dresdner Zeit schätzen gelernt hatte. Dass Merkels Interesse an Russland aufrichtig war, zeigte ihre Entschlossenheit, mit russischen Menschenrechtsaktivisten und kritischen Journalisten zu sprechen. Anders als jeder andere europäische Regierungschef lud sie diese mitunter sogar zu sich nach Hause ein. Olaf Scholz wird nicht die Fähigkeit besitzen, russisches Verhalten zu interpretieren und Russlands Reaktionen auf sein Handeln vorauszusehen. Er wird stärker auf externe Beratung angewiesen sein und höchstwahrscheinlich einige Zeit brauchen, um eine Beziehung zu Putin aufzubauen. Sein erster Besuch in Moskau im Februar 2022 ließ erkennen, dass er mit vielen Problemen nicht ausreichend vertraut und nicht in der Lage war, auf Behauptungen und Lügen Purins angemessen zu reagieren.
Ungeachtet von Merkels Vorgehensweise und ihrem intuitiven Verständnis der Menschen, die in Russland Macht erlangt hatten, brauchte sie über acht Jahre, um sich klar von der Politik ihres Vorgängers abzusetzen. Dennoch hat sie danach einige der tief verwurzelten Grundeinstellungen zur deutsch-russischen Beziehung nicht in Frage gestellt. Sie nahm Nord Stream 2 hin, weil sowohl die Wirtschaft als auch Teile ihrer eigenen Partei und der SPD das Projekt auf Bundes- wie auf Landesebene unterstützten. Durch einen seltsamen Zufall landet die Pipeline an der Ostseeküste nahe Greifswald an, genau dort, wo Merkel ihren Wahlkreis hatte. Trotz ihres eindrucksvollen Wissens und Verständnisses der Lage im Donbass glaubte die Kanzlerin weiterhin, durch den Minsker Prozess ließen sich mit Russland Kompromisse im Ukraine-Konflikt finden. Als sie Anfang 2020 nach über vier Jahren erstmals wieder Moskau besuchte, kehrte sie zu einem pragmatischeren Ansatz gegenüber Putin zurück. Bestrebt, Russlands Zustimmung zu einer Libyen-Friedenskonferenz unter deutscher Leitung zu erhalten, sprach sie die Ermordung eines tschetschenischen Flüchtlings durch einen mutmaßlichen russischen Geheimdienstagenten in einem Berliner Park 2019 nicht öffentlich an. Einer Darstellung zufolge soll sie Putin dafür gelobt haben, dass er wenige Tage zuvor Syrien besucht hatte. In der gemeinsamen Pressekonferenz nannte sie Nord Stream 2 nun wieder ein Wirtschaftsprojekt. Ganz anders reagierte sie auf die Feststellung eines deutschen Militärlabors im September 2020, der russische Oppositionspolitiker Nawalny sei mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden. Das löste einmal mehr ihre starken moralischen Instinkte im Umgang mit Russland aus, die sich bereits 2014 gezeigt hatten. Unverkennbar erschüttert sagte sie, das Verbrechen an Nawalny verstoße gegen die „Grundwerte und Grundrechte“, die Deutschland und seine Verbündeten hochhielten.
Obgleich Merkel im Mai 2015 neben Putin gestanden und die Annexion der Krim mutig „völkerrechtswidrig“ genannt hatte, schien sie erst jetzt zu begreifen, dass Russland von einem kriminellen Regime regiert wurde. Ihre klare Position zum Giftanschlag auf Nawalny löste in Moskau eine wütende Reaktion aus und den Vorwurf des Außenministers, Berlin wolle Russland international diskreditieren. Sich einer stalinistischen Rhetorik befleißigend, drohte er: Wenn Deutschland die Ergebnisse der Laboruntersuchungen nicht mit russischen Staatsanwälten teile, wäre das eine „grobe, feindselige Provokation Russlands“ mit Folgen für das bilaterale Verhältnis. Seit dem Kalten Krieg hatte Moskau gegenüber keiner deutschen Regierung einen derartigen Tonfall angeschlagen. Der Giftanschlag auf Nawalny ist ein weiterer Beleg dafür, dass Gegner der russischen Staatsführung in höchster Gefahr leben. Die Morde an dem Journalisten Yuri Schtschekotschichin und dem Politiker Sergei Juschenkow im Jahr 2003 dagegen hatten kaum Besorgnis erregt. Gleiches gilt für die Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja 2006, ebenfalls ein beunruhigendes Anzeichen für den Charakter des Systems unter Putins Führung. Auch die tödlichen Schüsse auf den Oppositionspolitiker Boris Nemzow Anfang 2015, in einer Zeit erheblicher Spannungen zwischen Russland und der EU, hatten auf Merkel nicht den starken Effekt wie der Mordversuch an Nawalny. Vermutlich ließen die Häufung dieser Verbrechen sowie Putins Lügen, die persönliche Erfahrung von Cyberangriffen und die trotz Merkels heroischer Anstrengungen verschlechterten Beziehungen schließlich ihren Geduldsfaden reißen.
Während die negative Zuspitzung der Beziehungen im Jahr 2020 Bände über Russlands Verhalten sprach, war sie auch ein Verdikt über Deutschlands Umgang mit Russland unter Merkels Führung. Man kann berechtigterweise fragen, warum man 15 Jahre für die Einsicht brauchte, dass von dem kriminell agierenden russischen Staat ernsthafte Gefahren für seine Bürger, Nachbarn und Europa ausgehen. Deutsche Politiker und Politikerinnen kannten das russische System gut genug, um zu verstehen, wie es funktioniert und wessen Interessen es dient. Die Antwort lautet: Sie wollten und konnten dieses Verständnis aus psychologischen Beweggründen nicht in konkrete politische Maßnahmen umsetzen. Dafür hätten sie die innere Hürde überwinden müssen, die Deutsche davon abhielt, Russlands heutige Regenten als Verbrecher zu bezeichnen – weil die Deutschen selbst schreckliche Verbrechen an Russen und anderen sowjetischen Völkern begangen hatten. Nur wenige deutsche Wissenschaftler und Journalisten haben Bücher über das Thema geschrieben, mit dem sich die verstorbene Karen Dawisha in Putin’s Kleptocracy und Catherine Belton in Putin’s People befasst haben.[19] Beide zeichnen das Entstehen des von KGB-Seilschaften beherrschten Putin’schen Systems von seinen Ursprüngen in der kriminellen Unterwelt von St. Petersburg nach. Zwar gibt es auch deutsche Bücher zu diesem Thema,[20] aber Deutschlands politische Elite hat diesen Aspekt schlichtweg nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Man muss es Merkel allerdings anrechnen, dass sie einen Teil der Schwierigkeiten aus dem Weg räumen konnte, die Deutsche bislang an deutlichen Worten für Russlands Verhalten hinderten. Einen Tag nach dem 70. Jahrestag der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg sprach sie über Russlands völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Im selben Atemzug erinnerte sie an die entsetzlichen Verbrechen der Nazis an den Völkern der UdSSR. Allerdings bewegte dieser Anflug von Mut Deutschland nicht dazu, gegenüber Russland eine Politik zu betreiben, die zwischen der Führungselite mit ihren kriminellen Praktiken und der Gesellschaft klar unterscheidet. Bei einem Land mit solch profunden Kenntnissen über Russland, einer echten Verbundenheit mit seinen Menschen und dem Wunsch, es möge gesunde demokratische Institutionen entwickeln, muss man dieses reflexhafte Entgegenkommen aber dennoch als Flucht aus der Verantwortung bezeichnen.
Als Kanzlerin Merkel sich mit Menschenrechtsaktivisten und anderen Regimekritikern zu treffen begann, waren die Würfel bereits gefallen. Unter Deutschlands Vorsitz waren die EU-Staaten nicht bereit, entschieden Position gegen die Einschränkung demokratischer Freiheiten und die Privatisierung des Staates durch den Kreml zu beziehen. Deutschlands Russland-Problem trat offen zutage, als die oben beschriebenen instinktiven Reflexe das Denkvermögen der Regierenden trübten und ihnen den Mut raubten, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen und die Konsequenzen zu ziehen. Statt seine EU- und NATO-Verbündeten auf die gefährliche Richtung hinzuweisen, die Russland unter Putin eingeschlagen hatte, redete Deutschland unbeirrt lieber über die möglichen wirtschaftlichen Chancen, als wären diese eine Garantie gegen Konfrontation. Es hat die Geschichte des Kalten Kriegs vergessen, als Konfrontation und Handelsbeziehungen nebeneinander existierten, insbesondere Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre. Selbst nach der Krim-Annexion und der Verhängung von Sanktionen schreckten die politischen Parteien immer noch davor zurück, offen über Russland, die deutschen Beziehungen und neue politische Optionen zu debattieren. Das Thema war ihnen zu unangenehm, zu emotional aufgeladen und zu polarisierend, selbst innerhalb der großen Parteien. Erst die Zuspitzung der Ereignisse und die nicht mehr zu überhörende Kritik der Verbündeten bewirkten im Januar 2022 eine vorsichtige, weiterhin zögerliche Infragestellung der deutschen Russlandpolitik, um nach dem Überfall auf die Ukraine eine 180-Grad-Wende auszulösen.
Soll die zukünftige deutsche Russlandpolitik tatsächlich schlagkräftiger werden, muss die neue Regierung eine umfassende Bestandsaufnahme der Politik zwischen 1990 und 2014 durchführen, um die Gründe ihres Scheiterns aufzudecken. Die zentrale Frage lautet: Weshalb hat Deutschland so lange an einem politischen Kurs festgehalten, obwohl bereits klar war, dass dieser nicht die gewünschten Ergebnisse brachte, sondern im Gegenteil die Entwicklung eines russischen Systems beschleunigte, das der EU und der NATO feindlich gesonnen war und deutschen Interessen zuwiderlief? Mit seinem feinen Gespür für die Gefahren des Nationalismus hätte Deutschland als eine der ersten Nationen erkennen müssen, welchen Weg Russland eingeschlagen hatte, dass dieser auf einem synkretistischen Mischmasch beruht, der einen von Intellektuellen wie Iwan Iljin und Alexander Solschenizyn inspirierten Patriotismus mit der Russisch-Orthodoxen Kirche verknüpft, und auch, wohin dieser Weg führt. Es hätte wissen sollen, dass der Westen mit einer Lockerung der Spannungen wie nach dem russischen Einmarsch in Georgien 2008 Moskau eher ermutigen als zügeln würde. Schließlich beinhaltet das Konzept der „souveränen Demokratie“ des Kremls unmissverständlich ein antiwestliches, konfrontatives Element. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Deutschland tatenlos zusah, wie Russland wieder seinen politischen „Sonderweg“ einschlug zu einem eigentlich friedlichen Zeitpunkt, an dem Deutschland seinem Sonderweg abgeschworen hatte. Die deutsche Bundesregierung und die sie tragenden Parteien müssen die Risiken von Russlands Kurs sehr wohl erfasst haben, nahmen diese aber instinktiv stillschweigend hin.
9 Fazit
Die komplexen psychologischen Nachwirkungen seiner Erfahrungen mit Russland im Lauf der Geschichte sind der Schlüssel zum Verständnis von Deutschlands heutiger Russlandpolitik. Erstaunlicherweise hat man bislang weder in Deutschland noch in Russland oder irgendeinem anderen Land dieses Thema wissenschaftlich erforscht, womöglich, weil es eine Herangehensweise erfordert, die traditionelle Fachgebietsgrenzen überwindet und unterschiedliche Disziplinen wie Geschichts- und Kulturwissenschaft sowie zeitgenössische Außenpolitik miteinander verbindet. Den Sprung zu wagen und eine unvoreingenommene Sicht der Dinge zu präsentieren, das fällt vielleicht einem Außenstehenden leichter, der beide Länder kennt. Je mehr sich das mittlerweile zwanzig Jahre alte russische Regime im In- und Ausland verschanzt, um seine Zukunft zu sichern, desto besser müssen sich deutsche Entscheidungsträger für die Zukunft wappnen. Gelingen wird ihnen das nur, wenn sie ihr instinktives Verhalten gegenüber Russland auf den Prüfstand stellen und ihre politischen Einschätzungen hinterfragen. Was nach 1990 als richtiger Kurs erschien, erwies sich bald als mangelhaft, und trotzdem hielt Deutschland weitere zwanzig Jahre an ihm fest. Seine bewundernswerten Erfolge beim Aufbau weitreichender, viele Bereiche des russischen Lebens umfassender Beziehungen vermochten Russland nicht davon abzuhalten, sich gegen Europa zu wenden und von Deutschland zu entfremden. Auch die viel gelobten Wirtschaftsbeziehungen einschließlich erhöhter Gaseinkäufe brachten nichts. Ebenso wenig richteten die Bemühungen aus, Russland mit Hilfe der spezifisch deutschen Soft-Power-Spielart in Europa zu integrieren.

Kanzler Scholz bei seinem vergeblichen Versuch, Putin vom Überfall auf die Ukraine abzuhalten
Deutsche Entscheidungsträger müssen ihre Russlandpolitik daher von Grund auf überdenken und ihre Optionen neu bewerten. Die Hoffnung, Russland werde sich aus eigenem Antrieb wandeln und als kooperativerer Partner mit einer anderen außenpolitischen Agenda erweisen, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unrealistisch. Die Herausforderung besteht darin, ausgehend von einem klaren Verständnis der Interessen Deutschlands und seiner Verbündeten ein politisches Maßnahmenpaket zu konzipieren, das „Zuckerbrot und Peitsche“ umfasst und Russland vom Fehlverhalten abhält. Zugleich muss man Anreize für positive Beiträge bei regionalen und globalen Herausforderungen bieten. Dafür braucht Deutschland eine ganz wichtige Voraussetzung: die Wiederentdeckung der Kunst strategischen Denkens.
Gleichzeitig sollten seine Verbündete realistische Erwartungen bezüglich Deutschlands Leistungsvermögen bei der Gestaltung der EU- und NATO-Strategie gegenüber Russland haben. Deutsche Entscheidungsträger haben sich in den letzten Jahren bereits von einigen ihrer Illusionen über die russischen Absichten verabschiedet, insbesondere seit sich die bilateralen Beziehungen deutlich verschlechtert haben und Russland kein Interesse an ihrer Verbesserung zeigt. Man darf gespannt sein, ob die neue deutsche Regierung willens ist, ihrer verschärften Rhetorik gegenüber Russland Taten folgen zu lassen.
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wissenschaftlicher Mitarbeiter
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Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz
- Deutschlands Russlandproblem
- Was ein Militärbündnis zwischen Russland und China für die NATO bedeuten würde
- Die chinesisch-russische Kooperation im Bereich der nuklearen Abschreckung
- Kurzanalysen und Berichte
- Finnland und Schweden rücken näher an die NATO. Auswirkungen der russischen Kriegspolitik im Hohen Norden
- AUKUS und die strukturellen Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage im indo-pazifischen Raum
- Strategischer Wettbewerb und Systemrivalität: Die US-Chinapolitik unter Präsident Joe Biden im ersten Amtsjahr
- Dokumentation
- Global Review 2014: Warnungen vor Russland gab es zu genüge, sie wurden nur nicht beachtet
- Das Iwaschow Dokument: Appell zum Widerstand gegen Putins Kriegspläne in der Ukraine
- Ergebnisse internationaler strategischer Studien
- Großmachtkonkurrenz – das Dreieck China, Russland, USA
- Andrew Radin/Andrew Scobell/Elina Tryger/J.D. Williams/Logan Ma/Howard J. Schatz/Sean M. Zeigler/Eugeniu Han/Clint Reach: China-Russia Cooperation. Determining Factors, Future Trajectories, Implications for the United States. Research Report. Santa Monica, Calif.: The RAND Corporation, August 2021
- Giulia Neaher/David A. Bray/Julian Mueller-Kaler/Benjamin Schatz: Standardizing the Future. How Can the United States Navigate the Geopolitics of International Technology Standards? Washington, D.C.: The Atlantic Council, Oktober 2021
- Justin Sherman: Cyber Defense across the Ocean Floor. The Geopolitics of Submarine Cable Security. Washington, DC: Atlantic Council, September 2021
- Anthony H. Cordesman (with the Assistance of Grace Huang): Strengthening European Deterrence and Defense: NATO, not European Defense Autonomy, is the Answer – Working Draft. Washington, DC: CSIS, 20. September 2021
- Cybertechnologie und KI
- Jeff Cirillo/Lisa Curtis/Joshua Fitt/Kara Frederick/ Coby Goldberg/Ilan Goldenberg/Andrea Kendall-Taylor/Megan Lamberth/Martijn Rasser/Dania Torres: The Future of the Digital Order. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), November 2021
- Edward Parker: Commercial and Military Applications and Timelines for Quantum Technology. Research Report. Santa Monica, Calif.: The RAND Corporation, 2021
- Peter Schirmer/Jasmin Léveillé: AI Tools for Military Readiness. Santa Monica: Calif.: RAND Corporation, 2021
- Buchbesprechungen
- Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. München: Siedler Verlag, 2022, 240 Seiten
- Kristina Lunz: Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch. Wie globale Krisen gelöst werden müssen. Berlin: Econ/Ullstein Buchverlage, 2022, 448 Seiten
- John Arquilla: Bitskrieg: The New Challenge of Cyberwarfare. London: Polity Press, 2021. 206 Seiten
- Nachruf Hannes Adomeit, PhD
- Bildnachweise
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz
- Deutschlands Russlandproblem
- Was ein Militärbündnis zwischen Russland und China für die NATO bedeuten würde
- Die chinesisch-russische Kooperation im Bereich der nuklearen Abschreckung
- Kurzanalysen und Berichte
- Finnland und Schweden rücken näher an die NATO. Auswirkungen der russischen Kriegspolitik im Hohen Norden
- AUKUS und die strukturellen Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage im indo-pazifischen Raum
- Strategischer Wettbewerb und Systemrivalität: Die US-Chinapolitik unter Präsident Joe Biden im ersten Amtsjahr
- Dokumentation
- Global Review 2014: Warnungen vor Russland gab es zu genüge, sie wurden nur nicht beachtet
- Das Iwaschow Dokument: Appell zum Widerstand gegen Putins Kriegspläne in der Ukraine
- Ergebnisse internationaler strategischer Studien
- Großmachtkonkurrenz – das Dreieck China, Russland, USA
- Andrew Radin/Andrew Scobell/Elina Tryger/J.D. Williams/Logan Ma/Howard J. Schatz/Sean M. Zeigler/Eugeniu Han/Clint Reach: China-Russia Cooperation. Determining Factors, Future Trajectories, Implications for the United States. Research Report. Santa Monica, Calif.: The RAND Corporation, August 2021
- Giulia Neaher/David A. Bray/Julian Mueller-Kaler/Benjamin Schatz: Standardizing the Future. How Can the United States Navigate the Geopolitics of International Technology Standards? Washington, D.C.: The Atlantic Council, Oktober 2021
- Justin Sherman: Cyber Defense across the Ocean Floor. The Geopolitics of Submarine Cable Security. Washington, DC: Atlantic Council, September 2021
- Anthony H. Cordesman (with the Assistance of Grace Huang): Strengthening European Deterrence and Defense: NATO, not European Defense Autonomy, is the Answer – Working Draft. Washington, DC: CSIS, 20. September 2021
- Cybertechnologie und KI
- Jeff Cirillo/Lisa Curtis/Joshua Fitt/Kara Frederick/ Coby Goldberg/Ilan Goldenberg/Andrea Kendall-Taylor/Megan Lamberth/Martijn Rasser/Dania Torres: The Future of the Digital Order. Washington, D.C.: Center for a New American Security (CNAS), November 2021
- Edward Parker: Commercial and Military Applications and Timelines for Quantum Technology. Research Report. Santa Monica, Calif.: The RAND Corporation, 2021
- Peter Schirmer/Jasmin Léveillé: AI Tools for Military Readiness. Santa Monica: Calif.: RAND Corporation, 2021
- Buchbesprechungen
- Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. München: Siedler Verlag, 2022, 240 Seiten
- Kristina Lunz: Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch. Wie globale Krisen gelöst werden müssen. Berlin: Econ/Ullstein Buchverlage, 2022, 448 Seiten
- John Arquilla: Bitskrieg: The New Challenge of Cyberwarfare. London: Polity Press, 2021. 206 Seiten
- Nachruf Hannes Adomeit, PhD
- Bildnachweise