Home Evidenzbasierung im Infektionsschutz
Article Open Access

Evidenzbasierung im Infektionsschutz

  • Thomas Harder , Bernhard Bornhofen and Ute Rexroth EMAIL logo
Published/Copyright: November 28, 2024

Zusammenfassung

Wie das Beispiel der STIKO-Empfehlungen zeigt, sichert ein evidenzbasiertes, transparentes und partizipatives Vorgehen bei der Entwicklung von Empfehlungen die Qualität der Maßnahmen im Infektionsschutz und erhöht deren Akzeptanz bei den Zielgruppen. Neben zeit- und ressourcensparenden Methoden wie Rapid Reviews und KI-Anwendungen braucht der ÖGD jedoch strukturelle Ertüchtigung, um im Infektionsschutz sein wissenschaftliches Selbstverständnis und Evidenzbasierung noch breiter umzusetzen.

Abstract

As the example of the STIKO recommendations shows, an evidence-based, transparent and participatory approach ensures the quality of the infection protection measures and increases their acceptance among the target groups. In addition to time- and resource-saving methods such as rapid reviews and AI applications, Public Health Authorities also need structural empowerment in order to even better include evidence and scientific methods in infection protection.

Evidenzbasierung im Infektionsschutz bedeutet, dass die empfohlenen und umgesetzten Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Infektionskrankheiten auf den besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen, der Expertise relevanter Fachleute sowie den Werten und Präferenzen der Betroffenen beruhen [1]. Ein evidenzbasiertes, transparentes und partizipatives Vorgehen sichert die Qualität der Maßnahme und erhöht die Akzeptanz bei den Zielgruppen.

Beispiele für evidenzbasierte Maßnahmen im Infektionsschutz sind Hygienemaßnahmen wie Händehygiene und Oberflächendesinfektion, das Tragen von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) wie Masken, Kittel, Handschuhen bei möglicher Exposition, die Absonderung von Kranken oder Krankheitsverdächtigen (Isolation und Quarantäne) und Schutzimpfungen.

Je nach Fragestellung, Dringlichkeit und nutzbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen sind unterschiedliche Stufen der Evidenzbasierung möglich. Wenn Zeit, Ressourcen und vorhandene wissenschaftliche Erkenntnisse es zulassen, sollten standardisierte und etablierte Prozesse angewandt werden wie z.B. im Rahmen von Leitlinienprozessen oder der Entwicklung von Impfempfehlungen. Am Beispiel der Impfempfehlungen soll die Evidenzbasierung im Bereich Infektionsschutz im Folgenden näher erläutert werden.

Evidenzbasierung von STIKO-Empfehlungen

Im Bereich der Impfungen ergeben sich für die Erstellung von evidenzbasierten Empfehlungen spezifische Herausforderungen. Bei Markteinführung neuer Impfstoffe stellt sich die Frage, ob der Einsatz für die gesamte Bevölkerung oder einzelne Risikogruppen empfohlen werden soll. In Deutschland gibt die Ständige Impfkommission (STIKO) Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen und anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe übertragbarer Krankheiten; seit 2011 auf der Grundlage einer Standardvorgehensweise (Standard Operating Procedure, SOP) [2]. Hierbei spielen systematische Reviews und die Bewertung ihrer Ergebnisse mit Hilfe der GRADE-Methodik eine zentrale Rolle [3], [4]. Die GRADE-Methodik ist ein systematischer und transparenter Ansatz zur Evidenzbewertung und Erarbeitung von Empfehlungen, der im Bereich der klinischen Medizin etabliert ist (z.B. in den S3-Leitlinien der AWMF) und zunehmend auch auf Public-Health-Fragestellungen angewandt wird [5]. Je höher die Qualität der Evidenz nach GRADE (auf einer vierstufigen Skala von „sehr niedrig“ bis „hoch“) ist, desto sicherer kann man sein, dass die in den zugrundeliegenden Studien berichteten Effekte einer Intervention die „wahren“ Effektstärken abbilden. Abbildung 1 stellt vereinfacht den Ablauf der Erstellung einer evidenzbasierten Impfempfehlung nach der Standardvorgehensweise der STIKO dar. Auch wenn nicht alle Sorgen vor den möglichen Nebenwirkungen von Impfstoffen mit wissenschaftlicher Evidenz ausgeräumt werden können, zeigen die Erfahrungen der STIKO doch, dass das systematische Vorgehen auf der Basis der SOP ein hohes Maß an Transparenz in der Evidenzbewertung und Entscheidungsfindung ermöglicht und hierdurch hilft, Vertrauen in der (Fach-)Öffentlichkeit herzustellen.

Abbildung 1: Vereinfachter Ablauf der Erstellung einer evidenzbasierten Impfempfehlung nach der Standardvorgehensweise der STIKO (Abbildung RKI).
Abbildung 1:

Vereinfachter Ablauf der Erstellung einer evidenzbasierten Impfempfehlung nach der Standardvorgehensweise der STIKO (Abbildung RKI).

Das Vorgehen der STIKO kann damit als Vorbild dienen. Allerdings ist die Implementierung einer evidenzbasierten Vorgehensweise mit einem erheblichen personellen und zeitlichen Aufwand verbunden. Je nach Komplexität der Fragestellung und Umfang der publizierten Evidenz dauert es von der Erstellung des Protokolls bis zum Abschluss der Datenauswertung zwischen 6 und 12 Monate. Kernarbeitsschritte (z.B. Literatur-Screening, Datenabstraktion) werden von mindestens zwei Wissenschaftlern parallel durchgeführt. Mögliche Wege, diesen Prozess zu verkürzen bzw. zu vereinfachen, ohne dass es zu einer Minderung der Ergebnisqualität kommt, sind:

  • Nutzung bereits vorhandener systematischer Reviews: Entscheidend hierbei ist, dass aktuelle und qualitativ hochwertige Reviews vorliegen. Das RKI betreibt im Rahmen des Global Health Protection Programme (GHPP) in Zusammenarbeit mit der WHO ein öffentlich zugängliches Register von publizierten systematischen Reviews zu Impfthemen, welches eine solche gezielte Nachnutzung bereits vorhandener, publizierter Reviews unterstützt [6].

  • Durchführung von Rapid Reviews: Rapid Reviews folgen wie systematische Reviews einer standardisierten systematischen Vorgehensweise bei der Identifikation, Extraktion und Synthese der Evidenz, verkürzen/vereinfachen aber einige Schritte (z.B. Screening von nur einer Datenbank, Datenextraktion durch nur eine Person), so dass innerhalb von kürzerer Zeit Ergebnisse vorliegen, wenn auch mit einer höheren Unsicherheit als nach Durchführung eines „vollwertigen“ systematischen Reviews.

  • Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI): Erste Lösungsansätze lassen erwarten, dass KI-Anwendungen die Durchführung von systematischen Reviews in naher Zukunft erheblich vereinfachen und beschleunigen können [7]. Chancen und Risiken dieser neuen Methoden müssen jedoch noch besser erforscht werden.

Situativ angepasstes Vorgehen bei der Evidenzbasierung

Naturbedingt ist bei Auftreten neuer Infektionskrankheiten zunächst wenig Evidenz vorhanden. Gerade dann ist aber schnelles Handeln gefragt, um die Bevölkerung bestmöglich zu schützen und Gefahren abzuwenden. In solchen Fällen müssen die verantwortlichen Akteure unter Umständen pragmatischer vorgehen und Empfehlungen auf Expertenmeinungen stützen.

Die Gesundheitsämter verantworten weite Teile des Infektionsschutzes im Bereich der Öffentlichen Gesundheit. Sie werden durch die Landesgesundheitsämter (wo vorhanden) und Bundeseinrichtungen wie das Robert Koch-Institut fachlich-wissenschaftlich unterstützt. Bei der Entscheidung zu Public Health-Maßnahmen spielen jedoch nicht nur Evidenz-basierte, sondern auch Werte-basierte Aspekte eine Rolle, da neben fachlichen Fragen nach der Wirksamkeit auch die unerwünschten Wirkungen, Verhältnismäßigkeit und Priorität des Ressourceneinsatzes abgewogen werden müssen. Umso wichtiger ist hier ein möglichst strukturiertes, transparentes und partizipatives Vorgehen, was Unsicherheiten und Interessenkonflikte darlegt [8]. Der Begriff „evidence-informed“ statt „evidence-based“ kann eine stärkere Berücksichtigung von Werten und Präferenzen im Entscheidungsprozess ausdrücken.

Diese Verantwortung für schnelles und exekutives Handeln unterscheidet den öffentlichen Gesundheitsdienst von anderen Public Health-Disziplinen. Dennoch bekennt sich der ÖGD im Selbstverständnis zum evidenzbasierten Arbeiten: Wissenschaftsbasiertes und vernetztes Handeln ist Teil des Leitbildes des ÖGD [9]. Allerdings sind bessere Rahmenbedingungen nötig: Neben der entsprechenden Mandatierung und Personalausstattung braucht der ÖGD leichteren Zugang zu Forschungsförderungen, Literaturdatenbanken und Ethikkommissionen. Der Beirat für den Pakt für den ÖGD hat in seinem 3. Bericht Vorschläge für eine Verbesserung für die wissenschaftliche Arbeit des ÖGD entwickelt [10].

Zusammen mit Rapid Reviews und KI-Anwendungen kann deren Umsetzung die Nutzung von wissenschaftlicher Evidenz im Infektionsschutz fördern.


*Korrespondenz: Dr. Ute Rexroth, Robert Koch-Institut, Abteilung für Infektionsepidemiologie, Seestraße 10, 13353 Berlin, Germany

  1. Autorenerklärung

  2. Autorenbeteiligung: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  3. Author Declaration

  4. Author contributions: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work.

Literatur

1. Von Philipsborn P, Rehfuess E. Evidenzbasierte public health. In: Schmidt-Semisch H, Schorb F, Herausgeber. Public health: Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, 2021:303–29. http://link.springer.com/10.1007/978-3-658-30377-8_17. Zitiert: 14 Aug 2024.10.1007/978-3-658-30377-8_17Search in Google Scholar

2. STIKO. Standardvorgehensweise (SOP) der Ständigen Impfkommission (STIKO) für die systematische Entwicklung von Impfempfehlungen version 3.1, 2018. https://www.rki.de/DE/Content/Kommissionen/STIKO/Aufgaben_Methoden/SOP.pdf. Zitiert: 4 Nov 2024.Search in Google Scholar

3. Higgins JP, Thomas J, Chandler J, Cumpston M, Li T, Page MJ, et al., Herausgeber. Cochrane handbook for systematic reviews of interventions, 1 Aufl. Wiley: Hoboken, NJ, USA, 2019. https://onlinelibrary.wiley.com/doi/book/10.1002/9781119536604. Zitiert: 14 Aug 2024.10.1002/9781119536604Search in Google Scholar

4. Guyatt GH, Oxman AD, Schünemann HJ, Tugwell P, Knottnerus A. GRADE guidelines: a new series of articles in the Journal of Clinical Epidemiology. J Clin Epidemiol 2011;64:380–2.10.1016/j.jclinepi.2010.09.011Search in Google Scholar PubMed

5. Hilton Boon M, Thomson H, Shaw B, Akl EA, Lhachimi SK, López-Alcalde J, et al. Challenges in applying the GRADE approach in public health guidelines and systematic reviews: a concept article from the GRADE Public Health Group. J Clin Epidemiol 2021;135:42–53.10.1016/j.jclinepi.2021.01.001Search in Google Scholar PubMed PubMed Central

6. Pilic A, Reda S, Jo CL, Burchett H, Bastías M, Campbell P, et al. Use of existing systematic reviews for the development of evidence-based vaccination recommendations: guidance from the SYSVAC expert panel. Vaccine 2023;41:1968–78.10.1016/j.vaccine.2023.02.027Search in Google Scholar PubMed PubMed Central

7. Van Dijk SHB, Brusse-Keizer MGJ, Bucsán CC, Van Der Palen J, Doggen CJM, Lenferink A. Artificial intelligence in systematic reviews: promising when appropriately used. BMJ Open 2023;13:e072254.10.1136/bmjopen-2023-072254Search in Google Scholar PubMed PubMed Central

8. Rehfuess EA, Zhelyazkova A, Von Philipsborn P, Griebler U, De Bock F. Evidenzbasierte public health: Perspektiven und spezifische Umsetzungsfaktoren. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021;64:514–23.10.1007/s00103-021-03308-xSearch in Google Scholar PubMed PubMed Central

9. Leitbild für einen modernen Öffentlichen Gesundheitsdienst. https://www.akademie-oegw.de/fileadmin/Die_Akademie/Leitbild_OEGD/Leitbild_final_2018.pdf. Zitiert: 4 Nov 2024.Search in Google Scholar

10. Strukturelle und zukunftsorientierte Weiterentwicklung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Wissenschaft und Forschung im und für Einen Zukunftsfähigen ÖGD. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/O/OEGD/Beirat_POEGD_3_Bericht_Wissensch_Forschung_OEGD_bf.pdf. Zitiert: 4 Nov 2024.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-11-28
Erschienen im Druck: 2024-11-26

©2024 Ute Rexroth et al., published by De Gruyter, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Editorial
  3. Grundlagen und Konzepte der Evidenzbasierung in Public Health und ÖGD
  4. Herausforderungen bei der Entwicklung von Leitlinien für Maßnahmen zur Förderung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Gesundheit
  5. Die Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes bei der Erstellung von evidenzbasierten AWMF-Leitlinien
  6. Öffentliche Gesundheit in Forschung und Lehre: Zur Rolle der neuen Professuren für Öffentliche Gesundheit
  7. Praxisbasierte Evidenz: Wo stehen wir, wo wollen wir hin?
  8. Wissenschafts-Praxis-Transfer: Chancen und Herausforderungen für den ÖGD
  9. Ein Kompetenzportfolio zur Stärkung der evidenzbasierten Praxis im kommunalen ÖGD
  10. Fehlende Evidenz im Öffentlichen Gesundheitsdienst – Von der historischen Entwicklung zur strukturierten Perspektive
  11. Gesundheitsämter als neue Forschungsstandorte
  12. Perspektiven für die Stärkung der Evidenzbasierung im ÖGD
  13. Evidenzbasierung in der Gesundheitsplanung in Baden-Württemberg
  14. Evidenzbasierung kommunaler Steuerungsaufgaben des ÖGD: Evidenzinformiert entscheiden und evidenzbasiert handeln
  15. Sozialpsychiatrische Dienste – vom Chaos zu einheitlichen Standards
  16. Evidenzbasierung für Umwelt und Gesundheit - Grundlagen und Ausblicke für Forschung und Praxis
  17. Zur Bedeutung der Leitlinienerstellung für den Öffentlichen Gesundheitsdienst zur effizienten Überwachung der Trinkwasserversorgung für die Bevölkerung
  18. Evidenzbasierung in der Prävention und Gesundheitsförderung – Ansätze zur Förderung
  19. Übertragbarkeit von kommunalen Präventionsmaßnahmen
  20. Das Verbundvorhaben RESILIENT als Beispiel für Evidenzbasierung im Öffentlichen Gesundheitsdienst
  21. Evidenz im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst
  22. Evidenzbasierung im Zahnärztlichen Dienst
  23. Evidenzbasierung im Infektionsschutz
  24. Zur Rolle der Digitalisierung in der Stärkung der Evidenzbasierung im ÖGD
  25. Stärkung der Evidenzbasierung im ÖGD: Die Rolle der Aus-, Fort- und Weiterbildung
  26. Evidenzbasierung im Amtsärztlichen Dienst
  27. Evidenzbasierte infektionshygienische Überwachung von medizinischen Einrichtungen
  28. Wie wir schnelle Evidenzsynthesen generieren und adaptieren
  29. Grüne Liste Prävention - Ein Beitrag zur Evidenzbasierung
  30. Surveillance schafft Evidenz für die öffentliche Gesundheit
  31. Public Health Infos
  32. Gesundheitsförderung als Demokratieprojekt
Downloaded on 22.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pubhef-2024-0107/html
Scroll to top button