Zusammenfassung
Das Possessivpronomen ahd. sīn bzw. nhd. sein ist in seiner anaphorischen Referenz im Prinzip auf maskuline und neutrale Possessoren beschränkt, doch finden sich seit dem Mittelhochdeutschen Belege, in denen sich dieses Pronomen auf einen femininen Possessor bezieht. Diese genus-insensitive Verwendung von sīn/sein könnte germanische Verhältnisse fortsetzen, allerdings ist sie im älteren Kontinentalwestgermanischen nicht mehr sicher belegt, ihr Auftreten in einer umstrittenen Otfrid-Stelle allerdings wohl nicht ausgeschlossen. Angesichts der Seltenheit der Konstruktion scheint die Annahme einer historischen Kontinuität jedoch wenig wahrscheinlich. Stattdessen bietet sich aufgrund der Markiertheitsverhältnisse eher die Interpretation an, dass es sich bei genus-insensitivem sīn/sein um das gelegentliche Auftreten der unmarkierten im Kontext der markierten Form handelt.
7 Literatur
7.1 Quellen und Korpora
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Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Vorwort
- (Morpho-)Syntax und Sprachgeschichte
- Teil 1 Entwicklungstendenzen der Morphosyntax des Deutschen
- Variation in der mittelniederdeutschen Substantivflexion
- Vergleichskonstruktionen im Mittelniederdeutschen
- Präpositionalphrasen mit duruh bei Otfrid und im Tatian
- ‚Linksversetzungen‘ im Mittelhochdeutschen als Beispiel narrativer Syntax
- Die Hilfsverbselektion in den Schriften Martin Luthers
- Einflussfaktoren der Numeruskongruenz bei koordinierten Subjektsteilen in der Lutherbibel von 1545 und 2017
- Morphosyntax als Beschreibungsgegenstand der frühneuzeitlichen Fremdsprachenlehrwerke
- Entwicklungen in den Formulierungsmustern der Redewiedergabe in der Wiener Zeitung (1740–1835)
- Koordinationsellipsen in Patientenbriefen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts
- Erkläransätze zu Unterschieden in der Verbreitung der tun-Periphrase in extraterritorialen Varietäten des Deutschen
- Normalfall Movierung: Geschichte und Gegenwart des generischen Maskulinums in Prädikativkonstruktionen
- Teil 2 Grammatikographische Aspekte einer Morphosyntax des Deutschen
- Morphologie – Syntax – Morphosyntax: Theoretisch-methodologische Überlegungen am Beispiel der Diachronie von Perfekt- und Plusquamperfektformen im Deutschen
- Das genus-insensitive Possessivpronomen sein in der Geschichte des Deutschen
- Futurkonstruktionen im Wandel: werden + Infinitiv und Konkurrenzmuster aus konstruktionsgrammatischer Perspektive
- Zur Entwicklung der abstraktbildenden Wortbildungsmuster [X-heit], [X-scaf(t)] und [X-tuom] im Alt- und Mittelhochdeutschen
- „Ach [...] was wars so dunkel in dem Wolf seinem Leib!“
- Semantische Faktoren für die Stellung des hochdeutschen Genitivattributs im 17.–19. Jh.
- Die rheinisch-hochdeutsche Pronominalgrenze – vergessene Formen und Systeme
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- Teil 1 Entwicklungstendenzen der Morphosyntax des Deutschen
- Variation in der mittelniederdeutschen Substantivflexion
- Vergleichskonstruktionen im Mittelniederdeutschen
- Präpositionalphrasen mit duruh bei Otfrid und im Tatian
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