Grunzig, Dörte: Pragmatik der Höflichkeitserwartungen. Tübingen: Stauffenburg, 2019 (Stauffenburg Linguistik, 105). -- ISBN 978-3-95809-526-7. 333 Seiten, € 49,80.

Gerhard Jaiser

doi:10.1515/infodaf-2021-0031

Artikel Öffentlich zugänglich

Grunzig, Dörte: Pragmatik der Höflichkeitserwartungen. Tübingen: Stauffenburg, 2019 (Stauffenburg Linguistik, 105). -- ISBN 978-3-95809-526-7. 333 Seiten, € 49,80.

Gerhard Jaiser

Veröffentlicht/Copyright: 9. April 2021

Veröffentlicht von

Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

Informationen für Autor*innen Erkunden Sie dieses Fachgebiet

Aus der Zeitschrift Informationen Deutsch als Fremdsprache Band 48 Heft 2-3

Rezensierte Publikation:

Grunzig, Dörte: Pragmatik der Höflichkeitserwartungen. Tübingen: Stauffenburg, 2019 (Stauffenburg Linguistik, 105). -- ISBN 978-3-95809-526-7. 333 Seiten, € 49,80.

Dass Untersuchungen zur Pragmatik grundsätzlich relevant für den Bereich Deutsch als Fremdsprache sind, bedarf kaum der Erläuterung. Die Verbindung zwischen handlungsorientiertem Unterricht und der sprachwissenschaftlichen Untersuchung sprachlichen Handelns ist unbestritten. Trotzdem besteht ein offensichtliches Defizit bei der Einarbeitung pragmatischer Erkenntnisse in die Curricula des Fremdsprachenunterrichts. Sprachliche Handlungen so zu analysieren und zu strukturieren, dass sie in ein Lehrbuch integriert werden können, stellt weiterhin eine Herausforderung dar, die bei Syntax und Semantik so nicht im gleichen Umfang gegeben ist. Höflichkeit ist einer der zahlreichen Aspekte sprachlichen Handelns, die zwar offenkundig für erfolgreiches sprachliches Handeln enorm wichtig sind, sich aufgrund ihrer Komplexität, insbesondere im interkulturellen Bereich, aber bisher einer wenigstens halbwegs unumstrittenen Einordung entziehen. Dörte Grunzigs Studie über Pragmatik der Höflichkeitserwartungen ist somit hoch willkommen. Dass sich aus der Arbeit am Ende kaum unmittelbare Anwendbarkeit für den Fremdsprachenunterricht ergibt, ist dieser kaum vorzuwerfen. Ein Baustein in der schwierigen und langwierigen Erkundung der Höflichkeit bleibt sie allemal.

Selbstbeschränkung, Gründlichkeit und Genauigkeit -- so lassen sich Vorzüge sowie Grenzen der Arbeit beschreiben. Als theoretische Grundlagen werden bekannte Theorien aus dem Bereich der Pragmatik hinzugezogen. Die Methoden der Konversationsanalyse werden durch pragmatische Analysen ergänzt. Als zentral wird die auf Erving Goffman zurückgehende und von Penelope Brown und Stephen C. Levinson 1987 entscheidend erweiterte Face-Theorie angesehen. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Gesichtswahrung entscheidender Antrieb für Höflichkeit ist. Kritik und Erweiterungen dieses Konzepts, das trotz aller Einwände seit mehr als dreißig Jahren die Höflichkeitsforschung beherrscht, werden von der Autorin ausführlich diskutiert, besonders ausführlich die Erweiterung des Konzepts durch Robert B. Arundale. Die Lösung der Problematik bzw. ihren eigenen Beitrag zur theoretischen Untermauerung ihrer Studie sieht Grunzig in der Kombination des erweiterten Face-Konzepts nach Brown/Levinson und Arundale mit der Implikaturen-Theorie von Grice. Als ein wesentliches Fazit wird am Ende der Arbeit festgestellt: „Durch detailliertere Explikationen und den Einbezug von Inferenzen wie Implikaturen konnte die Methode der Gesprächsforschung gewinnbringend erweitert werden“ (316).

Der Darlegung der theoretischen Grundlagen folgt der Hauptteil der Arbeit, die empirische Untersuchung von Ausschnitten aus fünf universitären Sprechstundengesprächen. Der Auswahl der untersuchten Ausschnitte, zunächst gesprächsanalytisch untersucht und dann gefolgt von pragmatischer Analyse, wird man angesichts der Sorgfalt der Autorin folgen können. Gemäß der Zielsetzung der Arbeit werden höflichkeitsrelevante Elemente wie Gesprächsbrüche im Rahmen der immanent hierarchischen Sprechstundengespräche sehr sorgfältig und detailliert herausgearbeitet -- was die Lektüre gelegentlich etwas anstrengend macht. Die Einbeziehung der Implikatur in die Analyse wird im Fazit herausgestellt: „Häufig sind in den universitären Sprechstundengesprächen potentielle Gesichtsbedrohungen vorhanden, die indirekt per Implikatur als solche interpretierbar sind“ (314). Aus der Perspektive des Fremdsprachenunterrichts ist es allerdings bedauerlich, dass Interkulturalität in der Analyse nur eine geringe Rolle spielt. Lediglich im ersten der fünf Gespräche steht eine deutsch-türkische Studentin einem deutschen Professor gegenüber -- ohne dass daraus jedoch Rückschlüsse auf unterschiedliche Höflichkeitskonzepte gezogen werden könnten.

Bei allem Verständnis für die konsequente und sehr wohl begründete Beschränkung wünscht man sich manchmal doch den Ausblick auf größere Zusammenhänge. Bemerkenswert ist etwa die Diskrepanz zwischen dem von der Autorin beschriebenen ursprünglichen Anlass der Arbeit, einer (Un-)Höflichkeitssituation im privaten Bereich zwischen zwei gleichgestellten Bekannten, und der Konzentration auf universitäre Sprechstundengespräche mit einer immanenten Hierarchie in der vorliegenden Arbeit. Obwohl das hierarchische Ungleichgewicht in den ausführlichen Analysen der Gespräche vielfach hervorgehoben wird, würde man sich eine grundsätzliche Diskussion der Frage wünschen, inwieweit Hierarchie und (Un-)Höflichkeit zusammenhängen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich hier deutliche interkulturelle Unterschiede ergäben. Auch die Frage der Bedeutung des Face-Konzepts in Gesprächen mit mehr als zwei Teilnehmenden wäre von Interesse. Die Autorin wird sich sicherlich derartigen Herausforderungen noch in weiterführenden Forschungen stellen.

Online erschienen: 2021-04-09

Erschienen im Druck: 2021-04-01

Artikel in diesem Heft

https://doi.org/10.1515/infodaf-2021-0031