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Marion Wohlleben (1946–2021)

  • Adrian von Buttlar
Veröffentlicht/Copyright: 28. Januar 2022
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Wir trauern um Marion Wohlleben, die ernsthafte, nachdenkliche, kluge, liebenswerte, engagierte und in ihrem Habitus bescheidene Kollegin aus dem eingeschworenen Kreis von Architekturhistoriker*innen, Bauforscher*innen, Denkmalpfleger*innen und Expert*innen der Erinnerungskultur. Nach der Promotion bei Norbert Huse am Kunsthistorischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität in München 1979 nahm sie ein Stipendienjahr am Zentralinstitut für Kunstgeschichte wahr und arbeitete dann im Bereich der Städtebaulichen Denkmalpflege am Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege – gleichsam dank eines Erweckungserlebnisses doppelter Art: Huse habe, wie sein Nachfolger auf dem TU-Lehrstuhl Dietrich Erben 2013 schrieb, »vor allem die Kunsthistoriker gelehrt, dass sich die [damals noch fast ausschließlich vermittelte] Kennerschaft in der älteren Kunstgeschichte und das Engagement für die Moderne keineswegs auszuschließen brauchen, sondern sich im Gegenteil gegenseitig befördern«. Vor allem entzündete Huses »streitbares Plädoyer für eine vor dem Problemhorizont der Gegenwart erneuerte Denkmalpflege« die Sehnsucht nach einem theoretisch fundierten Fundament und gesellschaftlich relevanten Praxisbezug unseres Fachs.

 
Marion Wohlleben, 2010

Marion Wohlleben, 2010

Bezeichnenderweise trat Wohlleben schon 1975 in der »Kunstchronik« mit einer kritischen Sicht auf die modernefeindliche Bildrhetorik des Europäischen Denkmalschutzjahres auf. Ihr wissenschaftlicher Einstieg in der Dissertation galt der nach der Charta von Venedig (1964) zunehmend wieder relevant werdenden, namentlich von Alois Riegl und Georg Dehio um 1900 diskutierten Ruskinschen Streitthese »Konservieren, nicht Restaurieren«. Ihr wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz schlug sich in zwei viel beachteten Publikationen nieder: Mit ihrem neuen Chef Georg Mörsch – einem wie Huse in erster Linie der Substanzerhaltung verpflichteten Altmeister der deutschsprachigen Denkmallehre – gab sie nach ihrer Einstellung als Oberassistentin am Institut für Denkmalpflege der ETH Zürich 1985 unter diesem berühmten Schlagwort eine kommentierte Anthologie der wichtigsten diesbezüglichen Streitschriften Dehios und Riegls als »Bauwelt-Fundament« heraus (1988) sowie im Folgejahr »Konservieren oder restaurieren? Zur Diskussion über Aufgaben, Ziele und Probleme der Denkmalpflege um die Jahrhundertwende« (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege der ETH Zürich, Bd. 7. Zürich 1989). Dabei bezog sie bereits »die gesellschaftlichen Kräfte und Motivationen, die in denkmalpflegerische Entscheidungen gedanklich wie tatsächlich eingreifen, mit ein, schilderte also den ganzen Tummelplatz der Denkmalpflege« (Gert Mader 1993 in der von Wohlleben herausgegebenen Vortragsreihe an der ETH »Bauforschung und ihr Beitrag zum Entwurf«). Die Spannung zwischen dem Interesse am strittigen denkmalpflegerischen Einzelfall des Umgangs mit der Substanz, etwa in ihrem Beitrag von 1997 zur Denkmalwürdigkeit der »Kölner Domplombe« (jener Reparatur des Kriegsschadens am Nordturm des Domes aus dem Jahre 1944, die schließlich dann doch »historisch« mit Werkstein kaschiert wurde) oder zuletzt zum noch immer offenen Streit um Modernisierung oder gar Abriss des traditionsreichen Zürcher Schauspielhauses 2020/21 einerseits und der methodologischen Wende der Denkmalpflege im Sinne der »lieux de mémoire« Pierre Noras andererseits wird in ihren engagierten Argumenten überzeugend vermittelt. Ingrid Scheurmann hat 2018 im Vorwort ihrer monumentalen Analyse »Konturen und Konjunkturen in der Denkmalpflege« darauf hingewiesen, dass Wohlleben zusammen mit Hans-Rudolf Meier in dem gemeinsam herausgegebenen Band »Bauten und Orte als Träger von Erinnerung – Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege« (Zürich 2000) die Diskussion über die Erinnerungskultur in Deutschland mitinitiiert hatte. Tatsächlich rückt sie in ihrem Plädoyer für die Erhaltung des Schauspielhauses Zürich dessen stadt- und gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung als »lieu de mémoire«, nämlich als Zufluchtsort der verfolgten Künstler im Dritten Reich, in den Vordergrund – Erinnerung, die allerdings nicht zuletzt über die historische Gestalt vermittelt werde: »Es ist ein authentischer Zeuge, der in seiner Materialität Gewissheit als Ort des Geschehens vermittelt […] Die Aura des historischen Orts würde dem Neubau an gleicher Adresse fehlen und weiterem Geschichtsvergessen Vorschub leisten« (Tec 21, 14/14, 2020 und NIKE-Bulletin 2021/3). Von der identitätsstiftenden bzw. -verunsichernden Rolle des Denkmals handelte schon der von ihr herausgegebene Band der Tagung »Fremd, vertraut oder anders? Beiträge zu einem denkmaltheoretischen Diskurs« (München/Berlin 2009). In der Praxis ist die neue Skepsis gegenüber verbindlichen Denkmal-Narrativen nicht immer zielführend: Die »Tücken« des immateriell gedachten Erinnerungskonzepts Noras resümiert Claudia Mäder in der NZZ vom 18.5.2021: »Auch das Zürcher Schauspielhaus sei ein ›lieu de mémoire‹. Das hat der Denkmalschutz festgestellt […] Diese Diskussion könnte interessant sein, gewiss. In der gegenwärtigen Debatte ist sie müßig, denn mit der Um- und Neubaufrage hat sie nichts zu tun. Der Erinnerungsort, wenn er denn existiert, überdauert Veränderungen, die sich im konkreten Raum vollziehen.« Wirklich?

Mehr als zwei Jahrzehnte blieb Marion Wohlleben lehrend und forschend dem renommierten Zürcher Institut für Denkmalpflege als wissenschaftliche Mitarbeiterin verbunden – als Freischaffende im stetigen kreativen Austausch mit dem Arbeitskreis Theorie und Lehre der Denkmalpflege e. V., an dessen diesjähriger Jahrestagung ausgerechnet in ihrer Heimatstadt Zürich unter dem spannenden Titel »Avantgarde oder uncool? Denkmalpflege in der Transformationsgesellschaft« sie nun nicht mehr teilnehmen kann. Wir werden nicht nur ihre sensiblen fachlichen Interventionen, sondern auch die fröhliche musische Zugewandtheit der begeisterten Chorsängerin Marion vermissen.

  1. Abbildungsnachweis

    Thomas Will

Published Online: 2022-01-28

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany

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