wohnen 60 70 80. Junge Denkmäler in Deutschland
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Martin Bredenbeck
Reviewed Publication:
Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): wohnen 60 70 80. Junge Denkmäler in Deutschland Berlin/München (Deutscher Kunstverlag) 2020 224 Seiten, 315 farbige Abbildungen Hardcover, € 39,90, ISBN 978-3-422-98154-6
Als in den 1970er Jahren unter anderem mit den in rascher Folge erlassenen Denkmalschutzgesetzen in den Ländern der alten Bundesrepublik eine Hochzeit der Denkmalpflege begann, wurde die Erstellung der Denkmallisten ein Grundpfeiler für das weitere Handeln. Der Denkmalbestand musste damals natürlich nicht von Null auf Hundert neu entdeckt werden, da Denkmalschutz und Denkmalpflege auf eine lange Geschichte zurückblicken und einen gewaltigen Wissensspeicher geschaffen haben. Doch im Licht der Gesetze wurde der Bestand auf neue, systematische, gattungsmäßig oft geschlossene Weise sichtbar, wobei nicht nur Bauernhäuser oder die historischen Stadt- und Ortskerne in den Blick genommen wurden, sondern beispielsweise auch die Baukunst des Historismus – endlich – gewürdigt wurde. Die in den 1980er Jahren intensiv betriebenen Listenerfassungen nahmen bald auch die Bauten der verschiedenen Reformstile bis zum Ersten Weltkrieg und die Architektur der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts in den Blick.
Seitdem gab es, leider, keine derartig umfangreichen Kampagnen mehr, die in überschaubarer Spanne den mit fortschreitender Zeit eingetretenen Zuwachs an Prüfkandidaten und Denkmalen erfasst hätten. Zwar ist, wie Detlef Knipping in der Einleitung Moderne bewerten! Die Inventarisation der Denkmale der 1960er bis 1980er Jahre in Deutschland (S. 10) hervorhebt, die Erstaufstellung der Denkmallisten bundesweit nahezu abgeschlossen. Doch sei, so fährt er fort, schon die Revision dieser nun teilweise 40 und mehr Jahre alten Listen weitaus weniger fortgeschritten. Bei der Nacherfassung der jüngsten Vergangenheit bestehe schließlich erheblicher Ergänzungsbedarf: »Von fast allen Fachämtern wurde die systematische und flächendeckende Denkmalerfassung von Architektur der 1960er bis 1980er Jahre als großes Desiderat genannt« (ebd.).
Angesichts der zu untersuchenden »ungeheure[n] Baumasse« (S. 11) ist jede Initiative der Aufarbeitung verdienstvoll, seien es einzelne Erfassungskampagnen wie in Nordrhein-Westfalen zum Kirchenbau der Nachkriegszeit oder die fokussierten Erfassungen der 1970er und 1980er Jahre, teils auch schon der 1990er Jahre, etwa in Bayern, Hamburg und Rheinland-Pfalz, um nur wenige Beispiele zu nennen. Das Saarland mit seiner weitgehend abgeschlossenen Erfassung dieser jungen Zeitschicht steht als Vorbild allein da. Viele universitäre Forschungsprojekte und wissenschaftliche Publikationen helfen bei der Erhellung dieses Bestands ebenso wie die – in der Publikation nicht thematisierten – Fangruppen diverser Social-Media-Kanäle, die sich gegenseitig teilweise in echter Jäger- und-Sammler-Manier täglich neue Architekturfunde etwa der 1980er Jahre präsentieren. Egal wie weit vorangeschritten, wie tiefgründig oder wie spielerisch: Alle diese Ansätze und Beiträge helfen dabei, das Architekturerbe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer besser quantitativ zu erfassen sowie qualitativ zu verstehen.
Als Leuchtturm in diesem Bereich ist auch die kontinuierliche Aktivität der Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (VDL), hier im Besonderen deren Arbeitsgruppe Inventarisation, zu würdigen, von der aus regelmäßig Suchscheinwerfer auf das junge bauliche Erbe gerichtet werden. Genannt seien nur zwei Publikationen, das Arbeitsblatt »Kirchenbauten nach 1945 – Bewertung ihrer Denkmaleigenschaft« von 2009 und die umfangreiche Publikation »Zwischen Scheibe und Wabe«, die sich 2012 den »Verwaltungsbauten der Sechzigerjahre als Denkmale[n]« widmete. In beiden Fällen war das zu bewältigende Pensum zweifellos schon sehr groß; da es sich aber um Sonderbauten handelt, wahrscheinlich doch mit bewährten Mitteln erschließbar und letztlich überschaubar.
Der aktuelle Lichtkegel wohnen 60 70 80 trifft auf ein besonders weites Feld, nämlich den bislang viel zu wenig systematisch betrachteten Wohnungsbau, von dem noch Vieles im Dunkeln liegt – und zwangsläufig liegen muss, denn die Beschäftigung damit ist eine wahre Herkulesaufgabe. Die auf Zahlen des Statistischen Bundesamts gestützte Feststellung, dass »in den 20 Jahren von 1960 bis 1980 […] in der Bundesrepublik und DDR insgesamt mehr als 12 Millionen Wohnungen errichtet worden [sind]« (S. 11), führt Knipping zur Leitfrage, wie aus einer solchen Masse überhaupt eine belastbare Auswahl erfolgen kann. Diese wird zum Ausgangspunkt, die Vorgehensweise bei der Denkmalerfassung kurz und prägnant darzulegen und auf ihre beiden Hauptmethoden einzugehen, nämlich »Erfassung nach Bauaufgaben« und »gebietsbezogene Erfassung«.
Bei der Darstellung der inhaltlichen Kriterien, ihrer gegenseitigen Vernetzung und ihrer Abwägung gegeneinander ist der argumentative Umgang mit der Substanz besonders positiv hervorzuheben. Die Integrität des historischen Baubestands bleibt ein wichtiges Kriterium, doch »[k]ommt einem Gebäude der Nachkriegsmoderne hohe Bedeutung zu, können Einbußen an historischer Bausubstanz untergeordnet gewertet werden« (S. 13). Mit dieser Haltung widerfährt den jüngeren Bauten im Vergleich zu älteren Denkmalen die nötige Gerechtigkeit. Denn es entspricht vielfach schlicht der Realität, dass den jüngeren Bauten seit ihrer Errichtung überstrichene Betonoberflächen, neue Fensterrahmen und nicht selten eine veränderte Ausstattung zugemutet wurden: Die untersuchte Epoche war trotz Ölpreisschock und der »Grenzen des Wachstums« eine Zeit wirtschaftlicher Blüte und vielfacher, oft rasch einsetzender Erneuerung, und gerade die Jahre nach 2000 nehmen, getrieben von einem oft aktionistischen Eifer des Dämmens und Modernisierens, immer mehr jüngere Bauten in die Mangel.
Ebenso hervorzuheben ist die knappe Feststellung, dass das traditionelle Instrumentarium auch für die jüngeren Denkmale Gültigkeit besitzt: »Es braucht keine neuen Denkmalschutzgesetze für die Auswahl der jungen Denkmäler« (S. 12). Diese Aussage ist vor dem Hintergrund laufender Novellierungsbestrebungen der Denkmalschutzgesetze in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg besonders wichtig. Die sukzessiv voranschreitende Forschungsarbeit unter anderem der VDL und die daraus hervorgehenden Publikationen zeigen nämlich, worauf es bei einer Reform staatlicher Denkmalpflege wirklich ankäme: auf eine personelle Stärkung der Fachämter, wie es in den 1970er Jahren der Fall war, nicht auf die Überfrachtung der Denkmale mit Belangen, für die andere Gesetze und andere Aushandlungsprozesse zuständig sind. Denn es liegt an den zugewiesenen Ressourcen, dass die Nachkriegsmoderne in vielen Punkten ein so unbekanntes Wesen ist, nicht am fehlenden Willen der Fachämter. Könnten wie um 1980 Denkmalpfleger*innen in namhafter Zahl sich der Fortschreibung der Listenerfassung widmen und hätten darüber hinaus die Zeit, die Ergebnisse aufzuarbeiten, würde aus den bisherigen Suchscheinwerfern schnell eine Flutlichtanlage. Eine Forderung nach derart vergrößerten Ressourcen ist dabei übrigens keinesfalls l’art pour l’art, sondern ein wichtiger Beitrag, das Wissen über den Gebäudebestand zu vertiefen und Klarheit beispielsweise auch über die Bauten, Anlagen und Ensembles zu gewinnen, die für eine energetische Ertüchtigung infrage kommen oder die für die Erzeugung Erneuerbarer Energien aufgerüstet werden könnten.
Stichwort Personal: Das aus meiner Sicht einzige und wahrlich kleine Monitum an diesem Band bezieht sich auf die Methodik der Denkmalerfassung. Wenn dort nämlich zu lesen ist, die gebietsbezogene Erfassung der Denkmale solle sich auf eine »Auswertung der wichtigsten Architekturzeitschriften, der Architekturführer und von Architektenmonografien« (S. 11) stützen, wird ein weiterer denkbarer Ansatzpunkt ausgelassen, nämlich die Erfassung gleichsam nach Art der 1970er und 1980er Jahre, durch Bereisen und striktes topographisches bzw. kartografisches Abarbeiten bestimmter Gebiete. Die aus der damaligen Zeit beispielsweise im LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland überlieferten Reisekarten machen es heute nachvollziehbar, wie die Mitarbeiter*innen des Amts vom damaligen Dienstort Bonn sozusagen ausgeschwärmt sind, um sich durch Bereisungen einen Überblick über den Bestand zu verschaffen. Manche damals auf den Karten ausgestrichenen, also für die Erfassung verworfenen Bereiche sind übrigens heute genau die Orte der Aufmerksamkeit – beispielsweise neu erschlossene Siedlungsgebiete der 1970er Jahre, in denen mit dem damaligen Erkenntnisinteresse natürlich nichts zu erwarten war, was sich jetzt geändert hat.
Auf die Einleitung in der hier rezensierten Publikation folgen sieben Großkapitel, die den Fokus auf jeweils ein Paradigma von Wohnbau richten und so die große Bandbreite vom Privathaus über Wohnanlagen und Großwohnsiedlungen bis hin zu ganzen Altstadtzusammenhängen vorstellen. Dabei wird sowohl jeweils Typisches in der alten Bundesrepublik und in der DDR aufgezeigt wie auch auf die sich entsprechenden, parallelen Entwicklungen hingewiesen. Den Auftakt bilden, jeweils angeordnet auf einer Doppelseite, ein kurz gefasster einführender Text und ein ganzseitiges Foto eines Objektes als ästhetischer Blickfang. Die Kapiteleinteilung ist dabei typologisch bzw. wohn-kulturgeschichtlich vorgenommen, nicht streng chronologisch. Sie sind betitelt: Ich wohne, wie ich sein will – Privathäuser (ab S. 17), Wie die Macht wohnen sollte (ab S. 63), Hoch hinaus (ab S. 73), Zwischen Teppich und Terrasse (ab S. 95), Big is beautiful (ab S. 133), Die Entdeckung der Altstadt (ab S. 155) und – gewissermaßen als Revue außergewöhnlicher Objekte zu verstehen – Experimente (ab S. 193). Diese Kapitelüberschriften sind ebenso flott formuliert wie der Text zu den darunter zusammengeführten Einzelbeispielen, die jeweils auf zwei Doppelseiten präsentiert werden. Der frische Sprachduktus erweist sich als Schlüssel zur Materie: Als Miniaturporträts erfassen diese Titel profund das Wesen des jeweiligen Themenfeldes bzw. des einzelnen Objektes und ermöglichen zugleich einen leichten, spielerischen Zugang auch für diejenigen Leser*innen, deren Begeisterung für Betonwürfel, »Stil-Platte« oder Wohnskulpturen noch nicht in dem Maße geweckt ist wie bei den von Amts wegen zuständigen Kolleg*innen. So leistet die Publikation einen Beitrag zu dem in der Einleitung angesprochenen wichtigen Feld der Vermittlung, beispielsweise an die Eigentümer*innen, aber auch an eine breitere Öffentlichkeit (vgl. S. 14).
Auch die durchweg hervorragenden, reich eingesetzten Farbfotografien sind ein Beitrag zur Vermittlungsarbeit. Gezeigt werden die Objekte selber, von außen und innen, oft auch im größeren Zusammenhang oder durch betonte Hervorhebung prägender Details. Die Häuser sind dabei ästhetisch perfekt inszeniert, aber gerade bei den privaten Wohnräumen geschieht das so sensibel, dass man sich nicht wie in einem Musterhauskatalog wähnt. Jedes Objekt ist glaubhaft bewohnt, nicht »dekoriert«. Auf der Bildebene werden die Häuser, gerade die größeren Anlagen wie Wohngruppen, Siedlungen oder Altstadtbereiche, auch in ihrem stadträumlichen Zusammenhang gewürdigt, oft mit Luftaufnahmen. Das ist nicht nur für das Verständnis dieser Objekte, sondern auch ihrer Einbettung in den Stadtraum sehr aufschlussreich.
Wer sich fachlich intensiver mit den einzelnen Beispielen auseinandersetzen will, bekommt dafür in den informativen Texten und weiteren, individuell beigegebenen Materialien – Grundrisse, Kartenausschnitte, historisches Fotomaterial und mehr – viel Futter geboten. Die am Schluss abgedruckte Auswahlbibliografie führt vor allem Überblickswerke auf und ist daher vergleichsweise knapp, doch finden sich vielfältige Literatur- und Quellenverweise in den Endnoten der einzelnen Objektporträts.
Die vorgestellten Objekte sind repräsentativ für typische Wohn- und Bauformen, für stilistische Erscheinungsformen und für Handschriften von Architekten, für charakteristische Themen ihrer jeweiligen Zeit. Nicht jede Form des Wohnens oder Architekturrichtung ist abgedeckt – das Spektrum der Fertighäuser und das ökologische Bauen bzw. Bauten, bei denen naturbelassene Baumaterialien, Pflanzen, Selbstversorgung und weitere solche Aspekte eine essenzielle Rolle spielen, wären Beispiele für denkbare Vertiefungen. Die reichhaltige und sehr gut aufgearbeitete Auswahl dieses Bandes bringt auf jeden Fall Licht ins Dunkel und wird für die Arbeit der Inventarisation und der praktischen Baudenkmalpflege auf diesem Feld künftig eine überaus wertvolle Hilfe sein. Nicht zuletzt lädt der schöne Band auch einfach zum Blättern und Schmökern ein – und vielleicht weckt er ja sogar hier und da die Lust, sich eines Objektes dieser Zeitstellung als neue*r Eigentümer*in anzunehmen.
© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany
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