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Nachhaltiger Städtebau in der DDR?

Das komplexe Modernisierungsgebiet Auenstraße in Erfurt 1975 –1989
  • Clemens Peterseim
Veröffentlicht/Copyright: 28. Januar 2022
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Entgegen der allgemein zunehmenden Zersiedlung der Städte durch immer neue Großwohnsiedlungen schlug man seit Mitte der 1970er Jahre in der DDR mit der Wende vom extensiven zum intensiven Städtebau neue Wege zur Lösung der Wohnungsfrage ein und sondierte die Möglichkeiten einer Verdichtung der Stadtzentren unter den Gegebenheiten der vorherrschenden Bauproduktion.[1] Neben der Entwicklung von »Altstadtplatten«, die als »unauffällige Platte«[2] den Anforderungen des innerstädtischen Bauens entsprechen sollten, und der Abkehr vom Paradigma der autogerechten Stadt gewann auch die zunehmende, wissenschaftlich begründete Wertschätzung der sogenannten Gründerzeitviertel an Bedeutung. Zwischen 1972 und 1975 wurden vor diesem Hintergrund in zahlreichen Städten Sanierungsprogramme angestoßen, um den Wohnraummangel zu vermindern und die Wohnbedingungen zu verbessern.

In Erfurt wurden zwischen 1970 und 1974 insgesamt 16 Modernisierungsgebiete ausgewiesen, die sich bis auf das »Mustersanierungsgebiet Innere Altstadt« alle entlang des ehemaligen äußeren Befestigungsringes aneinanderreihten. Diese »Komplexstandorte« verfügten über eine »homogene Baustruktur, […] eine geringe Überbauung der Quartierkerne mit Gewerbestätten und wirksame räumlich gestalterische Beziehungen zum Stadtzentrum.«[3] Von den Vorhaben wurde ab 1975 nur das Modernisierungsgebiet Auenstraße realisiert.[4] Anlass waren der geplante Flächenabriss des Andreasviertels und die städtebauliche Anbindung der nördlichen Altstadt an die neuen Wohngebiete im Norden der Stadt (Abb. 1). Dass es sich bei der historischen Bebauung um ein Arbeiterwohngebiet im weiteren Sinne handelte, mag zur positiven Einschätzung der genehmigenden Funktionäre beigetragen haben.

Das Auenviertel erstreckt sich unmittelbar nördlich der Erfurter Altstadt zwischen Nordhäuser Straße, Gera und Auenschanze, einem Relikt der Stadtbefestigung bis 1873. Im Zentrum verläuft von Süden nach Norden die Auenstraße, geprägt von viergeschossigen

1 Erfurt, Modernisierungsgebiet Auenstraße, Übersichtsplan (geostet), 1974
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Erfurt, Modernisierungsgebiet Auenstraße, Übersichtsplan (geostet), 1974

2 Erfurt, Auenstraße, Vorzustand, um 1970
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Erfurt, Auenstraße, Vorzustand, um 1970

Mietshäusern der Jahrhundertwende in geschlossener Blockrandbebauung, deren Klinker- und Werksteinfassaden teils noch Gliederungselemente des Spätklassizismus, teils bereits Jugendstilornamente aufweisen (Abb. 2).

Den jüngsten Abschnitt der Baugeschichte des Viertels bildet das 1975 angestoßene Modernisierungsprogramm mit einer umfassenden Neugestaltung der Freiflächen. Mit diesem wurde im Bezirk Erfurt erstmals die Vernachlässigung von Gründerzeitvierteln infrage gestellt und damit der im Denkmalpflegegesetz vom 19. Juni 1975 schriftlich fixierte Paradigmenwechsel in der Praxis sichtbar.

Während der mehrstufigen Ausführung der Modernisierung sollte mit ökonomisch vertretbarem Aufwand eine höhere Wohnqualität unter Berücksichtigung denkmalpflegerischer Gesichtspunkte erreicht werden. Zugleich sollte eine sozialräumliche Aufwertung des Viertels mit einer starken Vermehrung des Stadtgrüns durch die Einrichtung einer verkehrsberuhigten Zone entlang der historischen Straßenverläufe realisiert werden. Die Begrünung und »einheitliche Gestaltung« der Innenhöfe mit »Komplettierung der gesellschaftlichen Einrichtungen« sollte die Maßnahmen abrunden.[5] Die Folge war eine weitreichende Reduzierung des bauzeitlichen Fassadenschmucks während der »Modernisierungsstufe II«, die neben der Instandsetzung der Wohnungen im Inneren auch die Neugestaltung der Ansichten vorsah. Die örtlichen Planer mussten eine pragmatische Lösung im Umgang mit der historistischen Bebauung entwickeln, indem sie versuchten, ihren wesentlichen Charakter mit den reduzierten Mitteln der Planwirtschaft zu erhalten (Abb. 4).[6]

Von einer denkmalgerechten Instandsetzung der historistischen Fassaden kann nicht gesprochen werden.[7] Die DDR-Wirtschaft war grundlegend damit überfordert, die reich verzierten Fassaden der Jahrhundertwende zu erhalten. Nur das aus Handwerksbetrieben und genossenschaftlich organisierten Bauleuten bestehende »Örtliche Bauen«, hier der VEB Baureparaturen Erfurt, hatte sich mit historischer Substanz zu befassen.[8] Dieser unterstand dem Stadtbauamt, hatte am stärksten unter dem Materialmangel zu leiden und war deshalb auf günstige Reparaturen und Instandsetzungen geeicht, die unter dem Dachbegriff »Modernisierung« firmierten.[9]

Versuchte man bei Neubauten maßstabsfremde Baugruppen durch angepasste Bauhöhe und die Diversifizierung der Fluchten an die Umgebung anzugleichen, wurde im Umgang mit der Altbausubstanz häufig eine ästhetische Staffelung im Stadtraum durch Anpassung des Fassadenschmucks angestrebt.[10] Sie versprach eine rationalere Gestaltung der historistischen, mit überwundenem bürgerlichem Pomp identifizierten Fassaden und half, den ökonomischen Aufwand bei der Instandsetzung der Zierelemente langfristig zu verringern. Eine mit denkmalpflegerischer Intention durchgeführte gestalterische Neuinterpretation des Bestands war das Ergebnis. Das Straßenbild der Auenstraße wurde zu einer egalisierenden, zeittypischen Synthese aus Alt und Neu (Abb. 3).

3 Erfurt, Auenstraße 64 – 68, Blick nach Südosten, 2021
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Erfurt, Auenstraße 64 – 68, Blick nach Südosten, 2021

4 Siegward Schulrabe et al.: Fallbeispiele für Fassadenreduktionen im Modernisierungsgebiet Erfurt, Auenstraße, 1974
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Siegward Schulrabe et al.: Fallbeispiele für Fassadenreduktionen im Modernisierungsgebiet Erfurt, Auenstraße, 1974

5 Erfurt, Auenstraße / Ecke Waldemarstraße, nach Süden, 2021
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Erfurt, Auenstraße / Ecke Waldemarstraße, nach Süden, 2021

Freiflächen

Nach Abschluss der Hochbaumaßnahmen 1979 wurde in der Auenstraße eine starke Vermehrung des Stadtgrüns angestrebt. Durch die Zusammenlegung und Begrünung der Höfe, die bis heute nachhaltig positiv die Wohnqualität prägt,[11] und nach einer ersten Teilrekonstruktion der historischen Grünplanung auf der Ostseite der Straße, die keine nennenswerte Verkehrsberuhigung bewirkte, stimmte die Stadt einem Vorschlag des Büros für Verkehrsplanung zu, die Auenstraße als Experimentierfeld einer Mischverkehrsfläche einzurichten (Abb. 5).

Angeregt von Fallbeispielen aus den Niederlanden (Rotterdam) sowie durch Stadtplaner aus Darmstadt und Graz, mit denen unter anderem auf den jährlichen »Internationalen Budapester Beratungen Stadtverkehr« ein persönlicher Erfahrungsaustausch bestand, wurde das Konzept durch das Büro für Verkehrsplanung bei der Stadt- und Bezirksverwaltung als genuin sozialistische Modellplanung eingebracht und zur Umsetzung empfohlen.[12] Die Ausführung übernahm die PGH[13] Landschaftsgestaltung Erfurt. Allein durch die bauliche Gestaltung des Straßenraums sollte die gewünschte Reduzierung der Fahrgeschwindigkeiten und des Durchgangsverkehrs erreicht werden. Dazu wurde eine verkehrsberuhigende 120 Meter lange, geschwungene Linienführung mit abgesenktem Bord und Verdichtung des Stellplatzangebotes realisiert (Abb. 5).[14] Der Materialaufwand wurde gering gehalten und neben der asphaltierten Fahrgasse wurden Betonsteinpflaster, Gehwegplatten und Kalksteinbossen mit Sandsteinabdeckung für die Einfassung der etwa kniehohen Grünflächen verwendet. Nachträglich wurden zusätzlich Findlinge als Verkehrshindernisse eingebracht, die den LKW-Verkehr gänzlich verdrängen sollten.[15] Die Freiflächengestaltung des Modernisierungsgebiets Auenstraße war eine der ersten Planungen ihrer Art, galt als erfolgreicher »Modellfall« und »Beginn einer ökologisch orientierten Verkehrsplanung in der DDR«.[16]

Außerhalb Erfurts findet sich Vergleichbares am ebenfalls in den 1970er Jahren aufwendig wiederhergestellten bzw. teilweise modernisierten Arnimplatz sowie am Arkonaplatz, beide in Berlin, Prenzlauer Berg.[17] Hier wurden jeweils Platzflächen fußgängergerecht umgestaltet, teils für den öffentlichen Straßenverkehr stillgelegt, Höfe aufgelockert und mit zahlreichen Grün- und Freiflächen versehen. Wiederum wurde der fallweise reiche Fassadenschmuck der historistischen Bebauung bis 1985 stark reduziert. Ein weiteres Beispiel ist die 1982–1985 projektierte Leitplanung Innere Westvorstadt in Leipzig um die Kolonnadenstraße. Hier überwog zwar der Einsatz lückenschließender Neubauten mit 1.200 Wohnungen gegenüber den nur circa 370 modernisierten Altbauwohnungen, die städtebauliche Komposition zwischen Altstadt und Stadtring sowie die Grünflächenbehandlung weisen jedoch markante Ähnlichkeiten zur Erfurter Auenstraße auf.[18] In der Merseburger Straße 33–38 in Leipzig-Plagwitz wurde etwa gleichzeitig in kleinem Maßstab die Verkehrsberuhigung durch Einbringen von Laternen und Stadtgrün erprobt.

Die Auenstraße als Kulturdenkmal

Das Modernisierungsgebiet Auenstraße wurde im Juli 2021 durch das Thüringische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie als geschichtlich, künstlerisch und städtebaulich bedeutend eingestuft und als Denkmalensemble in das Denkmalbuch eingetragen. Es kann als einziges und erstes umfassend realisiertes Modernisierungsprojekt eines historischen Wohngebiets des gründerzeitlichen Massenwohnungsbaus im ehemaligen Bezirk Erfurt gelten. Exemplarisch lässt sich hier nachvollziehen, wie man die Bauten der Jahrhundertwende unter Beibehaltung der baulichen Strukturen an die sanitären und infrastrukturellen Anforderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzuschließen versuchte. Zugleich bildet sich in der Erfurter Auenstraße exemplarisch die Hinwendung zum innerstädtischen Bauen als Lösungsansatz der Wohnungsfrage in der DDR ab, die neben der Verdichtung im Stadtzentrum durch Neubauten auch die »Modernisierung« des Altbestands in Betracht zog. Der gestalterische Umgang mit den Fassaden war ein erster Versuch, mit den objektiv verfügbaren Mitteln die wesentliche Charakteristik der historistischen Architektur zu erhalten. Dass es nicht zur Realisierung weiterer Modernisierungsprojekte für Gründerzeitviertel kam, lag an der vergleichsweise spät einsetzenden Wertschätzung ihrer architektonischen und städtebaulichen Qualitäten ab Mitte der 1970er Jahre, wodurch in der DDR und in der Bundesrepublik Chancen vertan wurden. Gleichzeitig bewegte sich die Umsetzbarkeit derartiger Projekte im Osten »an der oberen Grenze unserer volkswirtschaftlichen Möglichkeiten.«[19]

Vor allem die Freiraumgestaltung, die als planungspolitisches Experiment ein durch westliche Einflüsse begründetes Modellprojekt in der DDR darstellt, sollte als Initialzündung für eine qualitative Aufwertung von Straßenräumen wirken. In ihrer planerischen Qualität gleicht die Ausführung gleichzeitigen Projekten in Polen (Gdańsk, Długi Targ und Ulica Długa) und der Bundesrepublik (Hannover-Linden-Süd, Ricklingerstraße) und reiht sich somit in überregionale Gestaltungstendenzen der 1980er Jahre ein. In ihrer Umsetzung kann sie allerdings die ökonomische Realität ihres bauzeitlichen Kontextes nicht verbergen.

Die denkmalkonstituierenden Eigenschaften des Modernisierungsgebiets Auenstraße gliedern sich in die besondere städtebauliche Situation der Anlage und das funktionale Gestaltungskonzept. Die auf ihre gestalterischen Grundkomponenten reduzierten Fassaden sowie die heterogene Materialität der Freiraumgestaltung lassen bis heute den improvisierten Charakter des Modernisierungsprojektes im Straßenraum erkennen. Das Modernisierungsgebiet Auenstraße ist deshalb ein einzigartiges Zeitzeugnis von städtebaulicher Planung, Bauausführung und Gestaltung der späten 1970er und 1980er Jahre auf dem Gebiet der DDR.

In der Gesamtbetrachtung wird evident, dass der seit Mitte der 1970er Jahre sich vollziehende ideelle Wandel hin zu mehr Denkmalschutz und nachhaltiger Nutzung vorhandener baulicher Strukturen nicht an den Grenzen der DDR Halt machte. Unter den besonderen ökonomischen Bedingungen waren auch hier neue Ideale der Stadtplanung und ein sich wandelnder Umgang der DDR-Planer mit der zuvor oft als bürgerlich verfemten Altbausubstanz der Jahrhundertwende zu beobachten. Inwieweit es sich hierbei um einen Paradigmenwechsel hin zu einer nachhaltigeren Stadtentwicklung handelte oder nur um »experimentelle Unternehmungen«[20], ist unter Einbeziehung der vornehmlich privatwirtschaftlich organisierten Planungskontinuität ab 1990 noch zu untersuchen. Wie die kürzlich erfolgte Unterschutzstellung des Berliner Nikolaiviertels zeigt, rücken verstärkt Prozesse der (städte-)baulichen Rückschau und ihre baulichen Ausprägungen der 1970er und 1980er Jahre in den Fokus der denkmalpflegerischen Arbeit. Auch in Erfurt werden nun Fragen danach aufgeworfen, ob hier eine bis heute anhaltende Tendenz zum Konservativen und Retrospektiven im Städtebau begründet liegt, die sich einer rein funktionalen Moderne entgegenstellt, und ob der bewusste Rückgriff auf das vor Ort Vorgefundene als ästhetischemotionale Reaktion auf Flächenabrisse in den Altstädten zu werten ist. Faktisch war insbesondere die Planung des Modernisierungsgebiets Auenstraße zu Anfang noch eng mit der in den 1960er Jahren geplanten flächendeckenden Neubebauung der Altstadt verbunden und kann nicht pauschal als Gegenentwurf angesehen werden.

Die Erforschung weiterer Vergleichsbeispiele in anderen Städten würde hierbei sicher zur Schärfung des Blicks beitragen. In ihrer Ausführung sind komplexe Modernisierungsgebiete wie die Auenstraße Abbilder des unter der Last ökonomischer Tatsachen stehenden pragmatischen Bewusstseins der späten DDR-Zeit. Sicher auch im Verständnis für die Vorteile nachhaltiger Stadtentwicklung waren es schlichtweg sozioökonomische Notwendigkeiten, die zu einer werterhaltenden Stadtentwicklung zwangen. Die eigentliche Umsetzung in der Fläche oblag dann ab 1990 einer neuen Epoche.

  1. Abbildungsnachweis

    1, 2, 4: Architektur der DDR 9 (1974), Dipl.-Ing. Siegward Schulrabe — 3, 5: Clemens Peterseim, Erfurt

Published Online: 2022-01-28

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston, Germany

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