Rezensierte Publikation:
Franz Schultheis / Stepahn Egger / Charlotte Hüser, Geschlechterverhältnisse: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 299 S., eBook, 69,99 €
Bei dem von den Autor:innen Franz Schultheis, Stephan Egger (†2021) und Charlotte Hüser vorgelegten deutschsprachigen Band Geschlechterverhältnisse: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie, 2022 erschienen, handelt es sich um eine ausführlich eingeleitete und kommentierte Bild-Text-Anthologie, die ausgewählte Passagen aus Veröffentlichungen (1961–2008) Bourdieus mit im Rahmen seiner Feldforschungen in Algerien, genauer in der Kabylei, und in seiner südfranzösischen Heimatregion, dem Béarn, entstandenen Fotografien (1959–1962) dialogisiert.
Die Autor:innen, an der Zeppelin Universität Friedrichshafen wirkend, traten durch etliche Forschungs-, Publikations-, Ausstellungs- und Übersetzungstätigkeiten im Bereich der „Bourdieu-Studien“ (so der Titel einer jetzt eingestellten, maßgeblich von Egger mitbetriebenen Reihe) hervor, wobei die Bedeutung Schultheis‘, der sich bei Bourdieu habilitierte und heute Präsident der Fondation Bourdieu ist, in diesem Feld kaum überschätzt werden kann. Das Trio lässt sich im Bereich jenes Zweigs der Sozialwissenschaften lokalisieren, der in der Nachfolge Bourdieus aus der Perspektive einer weit gefassten, anthropologischen Ökonomie, die materielle und symbolische Dimensionen integriert, mithin auf eine allgemeine Praxis zielt, so verschiedenen gesellschaftlichen Ausprägungen im europäisch-globalisierten Raum des 20. und 21. Jahrhunderts nachgeht wie Armut, Arbeit und Kunstmärkte (vgl. Bourdieu, 1983, S. 196).
Neben der Visuellen Soziologie, die als von Bourdieu ausgehender Ansatz ausdrücklich etabliert werden soll, können auch Gender Studies und Dekolonisierungsanalysen als weitere Forschungsgebiete des Bandes gelten, dessen Material auf Bourdieus genaue Beobachtungen inmitten des algerischen Unabhängigkeitskriegs (1954–1962) zurückgeht.
Der Band, dessen 1. von insgesamt sieben großen Kapiteln eine knapp gehaltene Einführung darstellt, strebt den Autor:innen zufolge an, zu rekonstruieren, dass Bourdieus Habitus-Konzept auf seiner dichten, auch visuellen, fotografisch festgehaltenen Beschreibung des kabylischen Lebens beruhe. Sein systematischer Einsatz der „Fotografie als Instrument, Methode und Erkenntnismittel” (S. 2) liege einem Konvolut von noch rund 1.200 objektivierten Beobachtungen zugrunde, welches Bourdieu jahrzehntelang als Quelle diente, seine laufenden Schriften zu befruchten. Bourdieus so skizzierte empirische Forschung habe die Geschlechterverhältnisse als „Leitdifferenz der kabylischen Gesellschaft“ (S. 2) erkannt.
Das 2. Kapitel resümiert die „Geschlechterverhältnisse im Werk Pierre Bourdieus“ aus Sicht der Autor:innen und benötigt kaum Originalauszüge. Neben der Kooperation Bourdieus mit Abdelmalek Sayad, „ethnografischer Informant“ (S. 5) und algerischer Forscher (S. 9), sowie der „mediterranen Kultur“(S. 11–12), die Bourdieu in der Kabylei und im Béarn entlang von Kontinuitäten, an denen die gesamte „europäische Kultur“ teilhabe, zu entdecken vermochte, heben die Autor:-innen „Die männliche Herrschaft“ als Vorgänger zum gleichnamigen Buch hervor, der 1990 in „Bourdieus Hauszeitschrift“ (S. 191) Actes de la recherche en sciences sociales erschien: Es handelt sich um einen für die visuelle Soziologie als programmatisch einzustufenden Bild-Text-Essay (S. 13–16). Abgedruckt sind drei mises en page, darunter der Titel mit der Schlüsselfotografie einer „unter der Last eines schweren Tongefäßes für den Wassertransport gebeugten Kabylin“ (S. 14). Die Fotos gelten den Autor:innen als „eindrückliche Illustration und ein starkes visuelles ‚Argument‘ für die präsentierten Thesen zur geschlechtsspezifischen Hexis als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaft“ (S. 15). Das Kapitel bildet einige Buchdeckel ab und versammelt die zentralen Referenzen des Bandes: Sociologie de l’Algérie, 1961, „The Sentiment of Honour in Kabyle Society“, 1965 (vgl. Kap. 4), „La maison kabyle ou le monde renversé“, 1970 (vgl. Kap. 5) sowie Travail et travailleurs en Algérie, 1963 mit dem INSEE und Le déracinement, 1964 mit Abdelmalek Sayad (S. 20) (vgl. Kap. 6); als Exkurse die Béarn-Studien (S. 20).
Die im 3. Kapitel betrachtete „Anthropologie männlicher Herrschaft“ zielt auf das Erbrecht, das, so die Autor:innen mit Bourdieu, von „unglaublichem Einfluss auf den Gesellschaftszustand“ (de Tocqueville) (S. 24) sei. Dieses Fundament differenzieren sie für die Kabylei (agnatisches Prinzip) und das Béarn (Primogenitur) (S. 41). Kabylische Reproduktionsregeln gälten dem Erhalt der Gruppe; der „sakrale Wert“ (S. 30) des Familienkollektivs sei allesbeherrschend. Die Gruppe, deren „verwundbaren Teil“ (S. 31) Frauen ausmachten, sei frei vom Affektiven zu verteidigen. Nach Bourdieus Bericht wurde so eine „schuldige Tochter getötet“ (S. 31), dem Vater Ehre zugesprochen. Dagegen stehe der „Niedergang der bäuerlichen Welt“ (S. 35), hier durch Zwangsumsiedlung, dort durch Landflucht, welche Erstgeborene unverheiratet zurücklässt. Durchzogen ist das Kapitel von unkommentierten Bildern, offenbar traditionelle Dörfer beider Regionen; kabylische Familien-, Gruppen- und Doppelporträts; Béarnaiser Szenen des Junggesellenballs und der Feldarbeit.
„Ehrenmänner und Tugendfrauen“, so das 4. Kapitel, zitiert Bourdieus Forschungsbericht von 1960: Der „Habitus“ findet hier bereits als „kultivierte Disposition“ Erwähnung (S. 45). Nif, das symbolische Kapital der Ehre, widerspreche ähnlich Webers Klassenstand der ökonomischen Logik (Klassenlage) und stehe, zur exklusiv männlichen „Ur-illusio“ (S. 50–51) verknappt, als rechtes dem linken Sakralen, h‘aram, gegenüber (S. 60–61). Tradiert werde die kabylische soziale Leitdifferenz – ähnlich wie Norbert Elias über die Höfische Gesellschaft von einer „Verinnerlichung der Fremdkontrolle“ geschrieben habe (S. 54) – in einer oralen, aber auch materiellen Kultur, in Körpertechniken, Raum- und Zeit-Ordnungen (S. 56–58). Die „Arbeitsteilung der Geschlechter“ verlaufe entlang der weiblich-männlich assoziierten, homologen Hauptgegensätze drinnen-draußen, feucht-trocken, stetig-kurz (S. 78), wie die Autor:innen anhand von Fotos, tabellarischen Notizen und Textauszügen Bourdieus zeigen. Kosmologisch eingebettet (S. 67), fungiere sie als „Institution“ zweier „Naturen“, wie das biologische Geschlecht (sexe) sich in ein soziales (genre) verwandle, welches, in die Hexis vorgedrungen, als „naturalisiertes“ auftrete (S. 82). Tatsächlich liege Arbeitsteilung und Geschlechterdichotomie indes ein Herrschaftsverhältnis zugrunde (S. 71).
Im 5. Kapitel wenden sich die Autor:innen der „Sozialräumlichen Ordnung der Geschlechter“ zu. Das „Habitat als Miniaturversion des Kosmos“ (S. 88) hege objektivierte „Erzeugungsschemata“ (S. 92), aus welchen wiederum der Habitus als „Metapher der Objektwelt“ (S. 92) hervorgehe. So materialisieren sich nif und h’aram im Gegensatz von Markt als Versammlungsort und Haus als Refugium. Das Rauminnere übersetzen fotografisch-textuelle und schematische Visualisierungen; dort stehen der „männlichen Welt des Trockenen, des Feuers, [...] des Tags“ die weibliche „Welt des Feuchten, des Wassers, [...] der Nacht“ gegenüber (S. 92). Ausdrücklich tabuisiert, sei eine „symbolische Omnipräsenz“ der Sexualität erkennbar (S. 95, 118): der obenliegende, männlich assoziierte Hauptbalken sei in die Gabelform des untenstehenden, weiblich konnotierten Mittelpfeilers eingelassen (S. 98, Foto S. 96). „(Ehe-)Frauen“ würden als gebändigte, dank ihrer Domestizierung durch „Männer“ kultivierte Natur begriffen (S. 101). Als soziale „Unterscheidungsoperationen“ (S. 140) stellen die Autor:innen „actes d’institution“ vor, die Bourdieu begrifflich gegen van Genneps Konzeption gerichtet habe (S. 134): die Beschneidung des Knaben und sein erster Marktgang als Einsetzung in die höhere Statusgruppe der Männer, zugleich weiblicher Ausschluss von Lebenschancen. Beides, Beschneidungsexposition (S. 135) und Marktszene, dokumentierte Bourdieu, wie betont wird auf Bitten des Vaters (S. 17), einschließlich der Feinheit, den Blick des Jungen im Spiegel, symbolisch hoch aufgeladener „Operator der Umkehrung“ (S. 140), einzufangen (S. 137). Schließlich thematisieren die Autor:innen ein Sujet, auf das nur Bourdieus Feldnotizen, nicht seine Publikationen, eingehen würden. Die „Homosexualität unter Knaben“ sei eine unter Hirten verbreitete Praxis, bei der Knaben „die Rolle der Frau“ einnähmen (S. 117–118).
Das 6. Kapitel verzeichnet „Gender trouble und Anomie“, wo sich die unter „kolonialer Gewalt“ erzwungene Transformation kabylischer „Totalität“ in Habitat und Habitus als doppelte „Entwurzelung“ (S. 149–150) vollziehe. Fotografien eines Umsiedlungslagers, „Gefängnis aus Schilfrohr“ (S. 178), sprechen vom Ortsverlust weiblichen „Gemeinschaftslebens“ (S. 153). Der Schleier sei erst sein Ergebnis, eine „zynische List der Kolonialgeschichte“ (S. 152). Es sind die Autor:innen, die einen „clash of civilizations“ (S. 163) bezeichnen, der den „Zerfall“ (S. 166) der traditionellen kabylischen Kollektive (S. 170) durch Individualisierung (S. 167), Männern vorbehaltene Lohnarbeit (S. 174–175), schließlich Verstädterung und Subproletarisierung (S. 162) nach sich ziehe. „Urbanisierung“ fördere teils die „Emanzipation“, doch an neuen „hybriden Formen des Wirtschaftens“ (S. 175–176) lässt Bourdieu keinen Zweifel. Zählt nur Geldeinkommen, würden Frauen „auf noch brutalere und fatalere Weise auf einen niedrigeren gesellschaftlichen Rang verwiesen“ (S. 176). Das Experiment, eine seitens Bourdieu „wortlos da(stehende)“ Serie von Fotografien zu zeigen, gehen die Autor:innen abschließend ein. Es sind sprechende Aufnahmen aus der urbanen Kulisse Blidas, darunter eine Motorroller-Fahrerin in wehendem Schleier (S. 187).
Der Band endet im 7. Kapitel mit Abbildungen von Archivdokumenten, die neben Fotos „ethnografische Notizzettel, Transkriptionen, Skizzen [...], Lochkarten [...], Briefwechsel“ etc. als „Zeugnisse ethnografischer Forschungspraxis“ umfassen. Als nennenswerte Addenda sind ein „Index der arabischen und berberischen Begriffe“ (S. 207–209) sowie ein Literaturverzeichnis, das einschlägige international publizierte Schriften Bourdieus jeweils zu Algerien und zum Béarn versammelt (S. 213–216), aufzuführen.
Der vorgelegte Band löst ein, was er verspricht, und geht stellenweise darüber hinaus. Seine Rahmung verdeutlichen die Autor:innen eingangs. In Bourdieus Forschungsprozess gehen der Sichtbarmachung „soziale(r) ‚Wirklichkeit‘“ (S. V) seine empirischen Studien voraus, von denen die „Beobachtung“ (S. 2) ein relevanter Teil ist. So eingerahmt, rekonstruieren sie seine verschriftlichten Feldforschungen und ergänzen sie um ausgewählte visuelle Zeugnisse, die „zusätzliche sinnliche Plausibilität“ (S. 111) verleihen. Es erscheint klug, das visuelle Argument nicht zu überhöhen: im „Dialog [...] von diskursiven und bildlichen Repräsentationen“ (S. 146) machen letztere Bourdieus Überlegungen „besser greifbar und nachvollziehbar“ (S. 111). Sie „ergänzen“ seine „dichte Beschreibung“ (S. 3), ja „illustrieren“ sie (S. 2, 14, 122, 134, 183). So schildert der Band die zwischen Tradition und Moderne gebrochenen Geschlechterverhältnisse anhand tief eindrücklicher Zeugnisse (v. a. Kap. 6) sowie die Textpassagen bekräftigender Fotografien.
Mit der Schlüssel-Quelle, die Bourdieus in Actes publizierter Foto-Essay ist, vermitteln die Autor:innen zudem eine überzeugende und inspirierende Vorstellung davon, wie visuelle soziologische Argumentation aussehen könnte. Was dem Band darüber hinaus gelingt, ist die Konstruktion genuin visueller Erkenntnisse, mithin die Fotografien entlang der Textpassagen sprechen zu lassen: Wo Bilder aus dem Béarn ausschließlich „Männer“ am Pflug zeigen, wissen Leser:innen dies nicht nur als mögliche Manifestation der von Bourdieu beschriebenen Méditerranée zu erkennen, sondern auch als poetisches Kippbild, als eigene „Konversion des Blicks“ (S. 5–6), in dem „beide Seiten des Mittelmeers“ (S. 11) verschwimmen. So schreibt sich der Band erfolgreich in den „pictorial turn“ als Methode ein (vgl. von Bismarck et al., 2008, S. 20). Zurecht widerspricht dagegen eine zeitgenössische realpolitische Betrachtung der kulturellen Konstruktion einer „wider Mediterranean“ und verweist vielmehr auf den „divide that marks the world’s deadliest border“ (El-Tayeb, 2023).[1]
Diskursiv bleibt durch den Band eine gewisse Unschärfe bestehen zwischen drei Dimensionen einer visuellen Soziologie, die sich herausarbeiten lassen. Dem 1) Rekonstruktionsvorhaben des „spezifischen Anteils“ (S. 7, 182) der Fotografien an Bourdieus empirischen Forschungen stehen 2) ihre Einschätzung als „Illustrationen seiner wichtigsten Gedanken“ (S. 2) einerseits und 3) ihr Einsatz als „visuelles ‚Argument‘“ (S. 15) andererseits gegenüber. Diese drei Dimensionen – Forschungselement, Sinnlichkeit und Argumentation – schließen einander keineswegs aus, doch harren ihrer expliziten Entwicklung. Zusammenfassend lässt sich auf die kabylische Metaphorik anspielend formulieren, dass der „trockene“ Diskurs erst durch die eingehegte „Quelle“ der Fotografie befruchtet wird, um so die reifen Früchte Bourdieus zu kultivieren und zu ernten.
Eine weitere Stärke Bourdieus, die der Band hervorragend wiedergibt, ist die Herausarbeitung der Ambivalenz von Machtverhältnissen (vgl. S. 170–171) nicht nur hinsichtlich „Frauen“ zwischen „Haus als Grab“ (vgl. S. 106) und „Gefängnis aus Schilfrohr“ (S. 151). „Männliche Herrschaft“ ist Bourdieu immer auch ein „[R]egieren[m]üssen“ (S. 16), ja „eine Falle“ (S. 49). „Ohne Widerspruchsrecht“ müssen sich „Männer“ (S. 39) z. B. dem Primat des Kollektivs oder gerontokratischen Strukturen unterwerfen.
Was der Band nicht vorgibt zu leisten, ist eine Diskussion, die mit oder über Bourdieu hinaus erkenntnistheoretische (z. B. arbiträr–universell), anthropologische (z. B. Tabu) oder zeitgenössische Fragen von Gender Studies und Dekolonisierungstheorien debattiert. Der Band beansprucht nicht, sich unmittelbar in einen lebendigen Diskurs einzuschreiben, sondern scheint vielmehr diesem vorgelagert zu sein und ihn (mit) ermöglichen zu wollen.
Verdienstvoll ist die Offenheit des Bandes an einigen vulnerablen Punkten, die auch auf die „übermächtigen“ Bedingungen des Bildermachens deuten: Die Autor:innen vorenthalten nicht, wenn auch nur in einer Fußnote, die Kritik algerischer Intellektueller an Bourdieus Fotografien; ebenso wenig die Kritik der Genderforschung an seinen Überlegungen (S. 7–8) oder seinen zurückhaltenden Umgang mit einer die binäre Geschlechterordnung querenden „Homosexualität“ (S. 117) einschließlich der im Buchkontext daran gekoppelten „Knaben“. Rechtfertigende Sätze die visualisierte Beschneidungsszene betreffend, nimmt deren Hinterfragung vorweg. Die Autor:innen lassen Bourdieu, er die Kabyl:innen hinsichtlich des Gemeinschaftsgebots sprechen: „[D]ie Versammlung (thajma‘th) ist die Versammlung; nur der Jude ist allein“ (S. 53). Was hat es mit diesem antisemitischen Wort in der Kabylei um 1960 auf sich? Genügt es, die Aussage unkommentiert zu lassen? Wird der exponierte Junge nicht vom Vater und beide von Bourdieu zumindest objektiviert? In einer anderen Veröffentlichung von Schultheis ausgeführt, bleibt hier unerwähnt, dass es der erzwungene Abbau kabylischer Häuser war, der die Fotografien der traditionellen Balkenkonstruktion ermöglichte. Bourdieu: „Obwohl die Situation so traurig war, war ich glücklich, fotografieren zu können – es war alles sehr widersprüchlich“ (Schultheis, 2008, S. 40). Sein Möglichkeitsraum entsprach bei aller zurückhaltenden Sensibilität und Selbst-Kritik, ja homologen Position dem eines Franzosen und wäre heute im komplexen postkolonialen Beziehungsgeflecht genauer zu verorten (vgl. auch von Bismarck, Kaufmann & Wuggenig, 2008, S. 16). Es ist dem Band hoch anzurechnen, wo er Leser:innen die Eröffnung dieser Fragen – und damit den Anschluss Bourdieus an gegenwärtige Diskurse – erlaubt.
Verbesserungen des Bandes würden, besonders im ersten Teil, weitere Korrektorate einschließen (S. 16–17, 31, 171). Das auf S. 87 gezeigte Schaubild hätte von der originalen Bezeichnung und Berichtigung eines vermutlich alten Übertragungsfehlers (das „Linke Sakrale“ erscheint doppelt) profitiert. Ein Brief Bourdieus an Jean Piaget wäre ohne einen in der Übersetzung kaum zu entschlüsselnden Satz umfassender zu würdigen (S. 121). Der Band platziert Rekurse sparsam; allein zum konnotierten Begriff „clash of civilizations“ wären Ausführungen wünschenswert gewesen.
Es war Bourdieu, der sich in die Nähe der Künste gebracht hat (Flaubert, Proust, Manet) (vgl. von Bismarck et al., 2008, S. 13). So scheint der Band eine zugeneigte und distanzierte Trauerarbeit an einer „verlorenen Zeit“ auf verschiedenen Ebenen – der Zerfall alter Communities, das Vermächtnis einer Schriftenreihe – zu leisten. Gerade im Chor der Bourdieu-Publikationen, um die sich die Autor:innen hoch verdient gemacht haben, einschließlich der Website zum Fotoarchiv (www.bourdieu-photo-archive.com), vermag es diese immer wieder schöne und kenntnisreich kommentierte Bild-Text-Anthologie nicht nur, teils unbekannte Feldnotizen und bislang unveröffentlichte Dokumente zu zeigen, sondern auch neue Einsichten über die von ihr argumentierte Visualität zu schöpfen.
Literatur
Bourdieu, P. (1983). Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In R. Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2 (S. 183–198). Otto Schwartz & Co.Suche in Google Scholar
El-Tayeb, F. (2023). “Reclaiming Nefertiti”. C&10. https://contemporaryand.com/magazines/fatima-el-tayeb-reclaiming-nefertiti.Suche in Google Scholar
Schultheis, F. (2008). Spurensicherung. Vom fotografischen Zeugnis zur dichten Beschreibung im Werk Pierre Bourdieus. In von Bismarck, B., Kaufmann, T. & Wuggenig, U. (Hrsg.), Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik (S. 33–51). Turia + Kant.Suche in Google Scholar
von Bismarck, B., Kaufmann, T. & Wuggenig, U. (2008). Nach Bourdieu. In dies. (Hrsg.), Nach Bourdieu. Visualität, Kunst, Politik (S. 7–29). Turia + Kant.Suche in Google Scholar
© 2023 #Autor1#, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Essay
- Macht Kommunikation Macht?
- Über Sinngebung und Sinnentleerung. Neues aus dem Nachlass von Norbert Elias
- Themenessay
- Diesseits und jenseits der Apokalypse. Offenbarung als implizites Deutungsmuster der soziologischen ‚Bewältigung‘ der Corona-Pandemie
- Sammelbesprechung
- (Re-)Politisierung der subjektorientierten Arbeitssoziologie: Suchbewegungen aus der aktuellen Forschung
- Einzelbesprechung Bildungssoziologie
- Hinrich Wildfang, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern? Eine multiskalare Analyse von Effekten der sozialen Komposition auf die Bildungswahlentscheidung am Ende der Grundschulzeit. Baden-Baden: Nomos 2022, 281 S., kt., 59,00 €
- Einzelbesprechung Digitale Gewalt
- bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe / Nivedita Prasad (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 334 S., kt., 35,00 €
- Einzelbesprechung Ethnomethodologie
- Jörg R. Bergmann / Christian Meyer (Hrsg.), Ethnomethodologie reloaded: Neue Werkinterpretationen und Theoriebeiträge zu Harold Garfinkels Programm. Bielefeld: transcript 2021, 430 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Kultur
- Christian Stegbauer, Superschwache Beziehungen: Was unsere Gesellschaft kulturell zusammenhält. Wiesbaden: Springer VS 2023, 207 S., eBook, 22,99 €
- Einzelbesprechung Materielle Kultur
- Gerd Spittler, Leben mit wenigen Dingen: Der Umgang der Kel Ewey Tuareg mit ihren Requisiten. Tübingen: Mohr Siebeck 2023, 371 S., gb., 69,00 €
- Einzelbesprechung Raumsoziologie
- Melanie Rühmling, Bleiben in ländlichen Räumen: Wohnbiographien und Bleibenslebensweisen von Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern. Bielefeld: transcript 2023, 252 S., kt., 50,00 €
- Einzelbesprechung Resilienz
- Martin Endreß / Benjamin Rampp (Hrsg.), Resilienz als Prozess: Beiträge zu einer Soziologie von Resilienz. Wiesbaden: Springer VS 2022, 360 S., kt., 39,99 €
- Einzelbesprechung Visuelle Soziologie
- Franz Schultheis / Stepahn Egger / Charlotte Hüser, Geschlechterverhältnisse: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 299 S., eBook, 69,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 4. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
- Gesamtverzeichnis 2023 der besprochenen Bücher
- Gesamtverzeichnis 2023 der eingegangenen Bücher
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- Einzelbesprechung Bildungssoziologie
- Hinrich Wildfang, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern? Eine multiskalare Analyse von Effekten der sozialen Komposition auf die Bildungswahlentscheidung am Ende der Grundschulzeit. Baden-Baden: Nomos 2022, 281 S., kt., 59,00 €
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