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Martin Endreß / Benjamin Rampp (Hrsg.), Resilienz als Prozess: Beiträge zu einer Soziologie von Resilienz. Wiesbaden: Springer VS 2022, 360 S., kt., 39,99 €

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Published/Copyright: December 2, 2023
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Martin Endreß / Benjamin Rampp (Hrsg.), Resilienz als Prozess: Beiträge zu einer Soziologie von Resilienz. Wiesbaden: Springer VS 2022, 360 S., kt., 39,99 €


In den letzten zwei Jahrzehnten ist Resilienz zu einem viel zitierten Etikett geworden. Ursprünglich in den Ingenieurswissenschaften und in der Entwicklungspsychologie entstanden, ist das Konzept 1973 zunächst auf ökologische Systeme angewandt worden, um deren Stabilität und Veränderung angesichts unerwarteter Bedrohungen zu erklären. Zu einer Ausweitung der Debatten hat nicht zuletzt der Angriff auf das World Trade Center in New York geführt. Seither wird verstärkt über die Verwundbarkeit („Vulnerabilität“) und Widerstandsfähigkeit komplexer Systeme diskutiert. Denn verletzbar sind nicht nur Hochhäuser, sondern alle möglichen Systeme. Werden diese, sei es deskriptiv oder normativ, als „resilient“ bezeichnet, dann wird letztlich zweierlei behauptet: Zum einen, dass besagte Systeme in ihrer Stabilität dauerhaft bedroht sind, und zwar von innen wie von außen, zum anderen, dass sie Strategien zum Umgang mit diesen ebenso diffusen wie dauerhaften Bedrohungen entwickeln müssen, und zwar gleichermaßen reaktiv wie präventiv.

Auf die Frage, wie dies geschehen kann, gibt es nach wie vor unterschiedliche Antworten. Eine Lesart liefert der vorliegende Band aus dem Kontext der Trierer DFG-Forschungsgruppe 2539 „Resilienz – Gesellschaftliche Umbruchphasen im Dialog zwischen Mediävistik und Soziologie". Diese seit 2016 geförderte Gruppe untersucht, „wie soziale Einheiten und Akteure auf tiefgreifende, existenzgefährdende gesellschaftliche Umbrüche und Herausforderungen reagieren [...] [und] inwiefern sich das [...] Konzept der Resilienz [...] für die Erforschung von historischen Umbruchsituationen [...] eignet“ (Universität Trier, 2019). Hiermit verknüpft ist nicht nur eine interdisziplinäre Perspektive, sondern auch eine explizite Abgrenzung von der zeitdiagnostischen Kritik des Resilienzbegriffs, wie sie sich im letzten Jahrzehnt entwickelt hat. Ob letztere notwendig ist, lässt sich allerdings bezweifeln. Denn die zeitdiagnostische Kritik bezieht sich nicht unbedingt auf Resilienz als analytisches Konzept, sondern eher auf dessen politische Funktionalisierung.

Wie dem auch sei: Für die Autor:innen des vorliegenden Bandes steht Resilienz als ein analytisches Konzept im Zentrum, und dieses, so die Ausgangsthese, lässt sich nicht nur auf moderne Gesellschaften anwenden, sondern ebenso auf vormoderne. Zugleich wird Resilienz aus einer „sozialkonstruktive[n] Perspektive“ (S. 7) gesehen: Sie verweist nicht auf eine (essentielle) Eigenschaft von Subjekten, Gruppen oder Gesellschaften, sondern auf einen aktiven Prozess der Bewältigung von Herausforderungen im (strukturellen) Spannungsfeld von Beharrung und Veränderung. So gesehen ist Resilienz auch mehr als ein schlichter Anpassungsprozess; sie ist eher als „ein grundsätzlicher Zustand ins Offene zu charakterisieren“ (S. 8), nämlich ein Transformationsprozess, der zwar in bestimmten Bahnen, aber keineswegs determiniert und mit einem absehbaren Ende verläuft.

Zur Explikation dieses Resilienzverständnisses versammelt der Band jenseits der Einleitung fünf „theoretisch-konzeptionelle Beiträge“ und „sechs empirische Studien“. Den Auftakt der theoretischen Beiträge bildet eine vergleichende Analyse von Resilienz- und Transitionskonzepten von Thorsten Schilling. Ausgehend von einer „sozio-technologische[n] Definition“ (S. 20) bestimmt dieser Transitionen als den „Übergang von einem Systemzustand zu einem anderen“ (S. 20) und erläutert dies unter Bezug auf innovations- und techniksoziologische Ansätze. Diese beschreiben die Entstehung und Durchsetzung neuer Technologien als eine Co-Evolution zwischen Technologie und Gesellschaft, die auf verschiedenen Ebenen verläuft (Micro-, Meso-, Macro-Level, S. 24). Dies verweist auf eine Multi-Level-Perspektive, deren Weiterentwicklung zur Unterscheidung verschiedener „Transition Pathways“ (S. 30) geführt hat. Eine ähnliche Perspektive auf Veränderungsprozesse findet sich in der (sozial-)ökologischen Resilienzforschung, die für Schilling letztlich auf Malthus, Darwin und Spencer zurückgeht. Zwar kannten diese weder den Begriff des Systems noch den der Resilienz. Aber schon ihnen ging es um die Erhaltung und Veränderung von Systemen, wie sie heute in den verschiedenen Varianten der (sozial-)ökologischen Resilienzforschung zum Thema wird. Ins Zentrum seiner Darstellung der Resilienz stellt Schilling die Konzepte des „adaptive cycle“ und der „Panarchie“. Während das Stichwort des „adaptive cycle“ besagt, dass Ökosysteme in ihrer Entwicklung zwischen Anpassung und Veränderung vier Phasen durchlaufen (exploitation, conservation, release, reorganisation), verweist die Metapher der „Panarchie“ darauf, dass die einzelnen „adaptive cycles“ in einem mehrdimensionalen Raum verlaufen, wobei die unterschiedlichen Ebenen durch funktionale Interaktionen und wechselseitige Beeinflussungen zu einem Gesamtsystem verbunden sind. Zwar sind Transitions- und Resilienzkonzepte keineswegs deckungsgleich. Aber sie lassen sich aufeinander beziehen und können beitragen zu einer „Verständniserleichterung bei der konkreten Bearbeitung von Projekten, die sich mit komplexen adaptiven Systemen beschäftigen“ (S. 50).

Eine ganz andere Akzentsetzung kennzeichnet den Beitrag von Hendrik Vollmer. Dieser beschäftigt sich mit zwei Autoren, bei denen ich nicht sicher bin, ob sie selbst den Begriff der Resilienz überhaupt jemals genutzt haben, nämlich Peter Sloterdijk und Bruno Latour. Aber die Sphärologie von Sloterdijk sowie seine „philosophische Theorie der Globalisierung“ lassen sich ebenso als ein Beitrag zu Resilienzdiskurs begreifen wie die Überlegungen von Latour zur Moderne, zum „Parlament der Dinge“ oder zur „Soziologie für eine neue Gesellschaft“. Dies zumindest dann, wenn man Resilienz in den aktuellen gesellschaftlichen Krisendiskurs stellt und als eine „Kombination von Innen- und Außenweltproblemen“ (S. 56) begreift, auf die im Spannungsfeld von „Abwehr- und Einbindungsstrategien“ (S. 58) reagiert wird. Denn Resilienz changiert zwischen Widerständigkeit und Integration von Neuem, die von Sloterdijk und Latour unterschiedlich beschrieben wird. Bei Sloterdijk stellt sich Resilienz als Grenzsicherung auf allen Ebenen dar, als eine universelle „Selbstimmunisierung menschlicher Kollektive“ (S. 60); sie wird als eine soziale Immunologie gefasst, wobei Sloterdijk für die Moderne davon ausgeht, „dass sie ihre Immunitäten technisch reproduziert“ (S. 66). Latour hingegen sieht die Entwicklung keineswegs so linear: Sofern die für die Moderne behauptete Trennung von Natur und Gesellschaft nie recht gestimmt hat, scheint ihm die These der zunehmend technisch produzierten Grenzziehung nicht überzeugend. Erfolgreiche Resilienzstrategien werden für ihn, im Gegenteil, „zu einer Frage der experimentellen Grenzüberschreitung“ (S. 75) und zu einer „grenzöffnenden Neuverfassung“ (S. 60) von Mensch und Technik bzw. Wissenschaft und Gesellschaft.

Auch die nachfolgenden Beiträge von Stefan Schreiber und Benjamin Rampp versuchen eher „resilienzunverdächtige“ Autoren für den Resilienzdiskurs nutzbar zu machen. Schreiber steht in diesem Zusammenhang für einen „affekttheoretischen Blick auf ein psycho-sozio-archäologisches Forschungsfeld“ (S. 81). Er bezieht sich auf die psychologische Resilienzforschung in Anschluss an Emmy Werner und Anton Antonovsky, versucht Resilienz als ein „conceptual framework“ (S. 88) zu entwickeln und stellt einen Bezug zu Hartmut Rosas Resonanzkonzept her, um so Resilienz als „Resonanzfähigkeit“ (S. 108) zu entfalten. Benjamin Rempp wiederum diskutiert das analytische Potential des Resilienzkonzeptes „aus der Perspektive einer Elias’schen Figurations- und Prozesssoziologie“ (S. 123). Elias’ Theorie sozialer Prozesse beschäftigt sich mit der Erklärung der langfristigen und ungeplanten, aber gleichwohl strukturierten Trends in der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese vollziehen sich im Spannungsfeld von „Notwendigkeit und Kontingenz“ sowie „Kontinuität und Diskontinuität“ (S. 132) und verweisen auf das Problem einer dynamischen Stabilität, das auch in Resilienzdebatten zum Thema wird. Wie schon zuvor Thorsten Schilling greift Rempp bei seinen Erläuterungen auf die Konzepte des „adaptive circle“ und der „Panarchie“ zurück, die aus einer prozess- und figurationstheoretischen Perspektive rekonstruiert werden. Hierbei ergeben sich für Rempp durchaus wechselseitige Anknüpfungspunkte, die allerdings nur dann aussichtsreich erscheinen, wenn „adaptive circle“ und „Panarchie“ unter den Gesichtspunkten Konstruktionalität, Prozessualität und Relationalität reformuliert werden. Der Beitrag von Martin Endreß schließlich kann als Fortsetzung der Remppschen Analyse gelesen werden. Unter dem Titel „Zur Analytik von Prozessualität“ beschäftigt er sich mit dem Kernthema des Bandes, nämlich mit „Resilienz als Prozess“. Vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Prozessen (i. S. von Zusammenhang von Ereignissen) und Prozessualität (i. S. der Logik des Zusammenhangs dieser Ereignisse) geht es ihm um die Fruchtbarmachung des Resilienzkonzeptes für die Analyse eigenlogischer Strukturdynamiken.

Die fünf empirischen Arbeiten beleuchten unterschiedliche Gebiete und sind auch nicht immer dominant empirisch geprägt. Dies gilt insbesondere für die Abhandlung von Tjorven Harmsen, die am Beispiel von Umweltkrisen Resilienz als Reaktion auf „Krisen“ beschreibt, wobei „Krise“ auf Öffnungen verweist, „Resilienz“ hingegen als Bereich der (erneuten) Schließung, der Selbstreferenz und der Rekursivität gefasst wird. Am Beispiel der EU-Chemikalienverordnung REACH einerseits und der kommunalen Daseinsvorsorge andererseits untersuchen Stefan Böschen, Stefan May und Roman Thurn „die Produktivität institutioneller Mechanismen der Selbstbindung“ (S. 219), die in dem Maße steigt, wie die „Eigenresilienz“ der handelnden Akteure von einer „Kontextresilienz“ der beteiligten Umwelten begleitet wird. Roman Thurn steuert noch eine weitere rechtssoziologische Analyse bei, die deutlich macht, dass Resilienz im Recht häufig verflacht und unter prekär hierarchischen Perspektiven verwandt wird. Der Beitrag von Rüdiger Wink führt in die Resilienz in den Wirtschaftswissenschaften und in die regionalökonomische Resilienzforschung ein. Jens Hälterlein und Stefan Kaufmann analysieren die mögliche Resilienzsteigerung durch Integration freiwilliger Helfer:innen in den Katastrophenschutz, und der abschließende Beitrag von Sindy Müller über die „Resilienzressource Fastnachtsspiel“, der sich mit dem Fastnachtsspiel in Nürnberg im 15./16. Jh. befasst, ist ein Beispiel für die historische Perspektive der Forschungsgruppe.

Insgesamt eignet sich der Band weniger als eine Einführung in das breite Feld der Resilienzforschung – hierfür ist etwa die Publikation von Wink (2016) besser geeignet. Aber er verdeutlicht eine spezifische „Prozessperspektive“ zum Resilienzkonzept und überzeugt vor allem mit dem Versuch, Verbindungen zu anderen soziologischen Theorietraditionen herzustellen. Fraglich erscheint allerdings, was eine „Soziologie von Resilienz“ bedeuten soll – müsste es nicht „Soziologie der Resilienz“ heißen?

Literatur

Universität Trier. (2019, 20. Mai). DFG-Forschungsgruppe 2539: Resilienz. Gesellschaftliche Umbruchphasen im Dialog zwischen Mediävistik und Soziologie. Forschungszentrum Europa. Strukturen langer Dauer und Gegenwartsprobleme. https://fze.uni-trier.de/forschungsprojekte/for-2539-resilienz-gesellschaftliche-umbruchsphasen-im-dialog-zwischen-mediaevistik-und-soziologie-2/Search in Google Scholar

Wink, R. (Hrsg.) (2016). Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung. Springer VS.10.1007/978-3-658-09623-6Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-12-02
Erschienen im Druck: 2023-11-28

© 2023 #Autor1#, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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