In ihrem Nachruf auf Heinz Hartmann, den Gründer der Soziologischen Revue, rekapitulieren Matthias Grundmann und Dieter Hoffmeister im letzten Heft die Motivation, die der Gründung der Besprechungszeitschrift im Jahr 1978 zu Grunde lag. Die Aufgabe der Soziologischen Revue, so beschreibt es Heinz Hartmann im Editorial zum ersten Heft der Zeitschrift, solle sein, „Überblick über deutschsprachige Neuerscheinungen im Fach Soziologie anzubieten und zur kritischen Beschäftigung mit ihnen anzuhalten.“ Diese doppelte Aufgabenbeschreibung findet sich in den Hinweisen zu den einzelnen Besprechungsformaten wieder, die wir unseren Rezensent:innen als Handreichung geben. So wird etwa in den Hinweisen für Einzel- und Sammelbesprechungen darauf hingewiesen, dass es um Inhaltsangabe und Bewertung der zu besprechenden Bücher gehen solle. Diese doppelte Aufgabenbeschreibung kommt aber auch in der Ausdifferenzierung der verschiedenen Besprechungsformate der Soziologischen Revue zum Ausdruck. Neben Besprechungsformaten, bei denen die Informationsfunktion im Vordergrund steht, wie die Einzel-, Doppel- und Sammelbesprechung, gibt es auch Besprechungsformate, die wesentlich der kritischen Auseinandersetzung mit den Neuerscheinungen dienen. Dies sind neben dem Symposium der Essay und der Themenessay. In diesem Heft finden sich besonders viele Besprechungen dieser letzten beiden Formate – zwei Essays und ein Themenessay – und bieten den Anlass, die Besprechungsformate des Essays in einem Editorial zu beleuchten.
Für beide Essayformate (so wie auch für das Format des Symposium) heißt es in den Hinweisen für Autor:innen, dass es um eine Auseinandersetzung in zuspitzender und essayistischer Form geht. In beiden Fällen betonen die Hinweise ausdrücklich, dass „keine kleinschrittige Inhaltsangabe“ der zu besprechenden Bücher vorgenommen werden solle. Die beiden Formate unterscheiden sich darin, dass es beim Essay wie bei der Einzelbesprechung um die Besprechung eines Buches geht und beim Themenessay wie bei der Sammelbesprechung um die Besprechung mehrerer, thematisch zusammengehöriger Neuerscheinungen. Auch die Gründe für die zuspitzende und essayistische Auseinandersetzung sind unterschiedlich. Im Fall des Themenessays sollen aktuelle oder im Entstehen begriffene Forschungsfelder kommentiert werden. Die zuspitzende Auseinandersetzung soll hier dazu dienen, relevante Kontexte aktueller Debatten aufzuzeigen und gegebenenfalls bestimmte thematische Konjunkturen oder Moden kritisch zu befragen. Der Essay ist für Neuerscheinungen vorgesehen, „die einen wesentlichen, womöglich kontroversen, in jedem Fall herausfordernden Beitrag zum jeweiligen Forschungsfeld liefern“, so der Hinweistext. Hier ergibt sich der Fokus auf die zuspitzende Auseinandersetzung direkt aus der Charakterisierung der betreffenden Neuerscheinungen.
Der Essay von Michael Corsten über den Sammelband „Facetten der Kommunikationsmacht: Stellungnahmen, Illustrationen, Anregungen“, herausgegeben von Norbert Schröer, Oliver Bidlo, Verena Keysers und Michael Roslon, ist eine gelungene Interpretation des Ansinnens, mit einem Essay den zugleich wesentlichen und herausfordernden Beitrag des besprochenen Buches herauszustellen. Der Gegenstand der kritischen Auseinandersetzung ist in diesem Fall das Konzept der Kommunikationsmacht von Jo Reichertz, dem der besprochene Sammelband gewidmet ist. Der Angelpunkt, den Michael Corsten wählt, um in eine kontroverse Diskussion mit diesem Konzept und dessen Rezeption in dem Sammelband einzutreten, ist Reichertz’ Bestimmung der Kommunikationsmacht als Durchsetzungsmacht im Sinne Max Webers. Diesem Verständnis setzt Michael Corsten ein Verständnis von Kommunikationsmacht als Deutungsmacht entgegen, als Macht über die Geltung von Rahmungen der Kommunikation, wie er es fasst. Dieses Verständnis der Machtwirkungen von Kommunikation nutzt Michael Corsten in seinem Essay dann als Gegenhorizont, um Reichertz’ Unterscheidung zwischen Kommunikationsmacht, Körpermacht und sozialer Macht kritisch zu hinterfragen.
Der herausfordernde Charakter eines Werkes, den es in einem Essay herauszustellen gilt, kann aber auch in etwas anderem bestehen als in der – hoffentlich produktiven – Spannung zu anderen Konzepten und Befunden. Dies zeigt sich deutlich in Matthias Meitzlers Essay über eine nachgelassene Schrift von Norbert Elias, die unter dem Titel „Sozialer Kanon, soziale Existenz und das Problem der Sinngebung“ von Christoph Egen herausgegeben worden ist. Was hier zur Diskussion steht ist weniger die kritische Auseinandersetzung mit dem Beitrag des Buchs zu aktuellen Fachdiskursen, sondern dessen Bedeutung für ein umfassenderes Verständnis des Werkes von Elias. Dementsprechend verzichtet Matthias Meitzler zwar nicht ganz auf die kritische Auseinandersetzung. So meldet er Zweifel an, ob das für das Buch zentrale Konzept des sozialen Kanons „tatsächlich einen signifikanten Mehrwert gegenüber anderen terminologischen Neuerungen erzielt hätte“. Viel wichtiger aber ist es ihm aufzuzeigen, welche Aufschlüsse diese Schrift über die Grundlinien des Denkens im Werk von Elias bietet.
Michael Ernst-Heidenreichs Themenessay ist ein Musterbeispiel für die Auseinandersetzung mit einer Mehrzahl von Publikationen unter einer zuspitzenden Perspektive. Gegenstand des Themenessays sind vier Publikationen zur „Corona-Soziologie“, wie es der Autor nennt. Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die soziologische Forschung die Corona-Pandemie häufig als „Offenbarungsmoment“ begreife, d. h. als Krisensituation, die deutlicher zu Tage treten lässt, was im normalen Alltag als Gegebenheit stillschweigend vorausgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Michael Ernst-Heidenreich zwei Formen der Nutzung der Pandemie für soziologische Offenbarungen: Den Beiträger:innen eines der besprochenen Bücher attestiert er, die Sondersituation der Pandemie facettenreich, wenn auch vielstimmig zu nutzen, um Muster zu erkennen und die Brauchbarkeit soziologischer Theorieangebote zu überprüfen. Zwei andere Bücher kritisiert er dagegen dafür, dass sie die Pandemie als Offenbarung mit Blick auf vorgängige eigene Forschungsfragen nutzen, sie also als Gelegenheit ergreifen, um „etwas zu erkennen, was den Autor:innen auch ohne die Pandemie ein Anliegen wäre“. Dementsprechend müssen sich, so Michael Ernst-Heidenreich, „beide Schriften den Vorwurf gefallen lassen, die Pandemie vor den Karren ihrer intellektuellen Programme zu spannen und gleichsam für ihre Sache zu instrumentalisieren.“
Neben den beiden Essays und dem Themenessay enthält das Heft eine arbeitssoziologische Sammelbesprechung von Heike Jacobsen und Knut Laaser, der es unter der Überschrift „(Re-)Politisierung der subjektorientierten Arbeitssoziologie“ um die Frage des Wiedererwachens gesellschaftsdiagnostischer Erklärungsansprüche in der Arbeitssoziologie geht. Acht Einzelbesprechungen zu Neuerscheinungen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Soziologie von Bildungssoziologie über Digitale Gewalt bis hin zu Resilienz und Visuelle Soziologie vervollständigen dieses Heft. Doch lesen Sie selbst!
© 2023 #Autor1#, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Essay
- Macht Kommunikation Macht?
- Über Sinngebung und Sinnentleerung. Neues aus dem Nachlass von Norbert Elias
- Themenessay
- Diesseits und jenseits der Apokalypse. Offenbarung als implizites Deutungsmuster der soziologischen ‚Bewältigung‘ der Corona-Pandemie
- Sammelbesprechung
- (Re-)Politisierung der subjektorientierten Arbeitssoziologie: Suchbewegungen aus der aktuellen Forschung
- Einzelbesprechung Bildungssoziologie
- Hinrich Wildfang, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern? Eine multiskalare Analyse von Effekten der sozialen Komposition auf die Bildungswahlentscheidung am Ende der Grundschulzeit. Baden-Baden: Nomos 2022, 281 S., kt., 59,00 €
- Einzelbesprechung Digitale Gewalt
- bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe / Nivedita Prasad (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 334 S., kt., 35,00 €
- Einzelbesprechung Ethnomethodologie
- Jörg R. Bergmann / Christian Meyer (Hrsg.), Ethnomethodologie reloaded: Neue Werkinterpretationen und Theoriebeiträge zu Harold Garfinkels Programm. Bielefeld: transcript 2021, 430 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Kultur
- Christian Stegbauer, Superschwache Beziehungen: Was unsere Gesellschaft kulturell zusammenhält. Wiesbaden: Springer VS 2023, 207 S., eBook, 22,99 €
- Einzelbesprechung Materielle Kultur
- Gerd Spittler, Leben mit wenigen Dingen: Der Umgang der Kel Ewey Tuareg mit ihren Requisiten. Tübingen: Mohr Siebeck 2023, 371 S., gb., 69,00 €
- Einzelbesprechung Raumsoziologie
- Melanie Rühmling, Bleiben in ländlichen Räumen: Wohnbiographien und Bleibenslebensweisen von Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern. Bielefeld: transcript 2023, 252 S., kt., 50,00 €
- Einzelbesprechung Resilienz
- Martin Endreß / Benjamin Rampp (Hrsg.), Resilienz als Prozess: Beiträge zu einer Soziologie von Resilienz. Wiesbaden: Springer VS 2022, 360 S., kt., 39,99 €
- Einzelbesprechung Visuelle Soziologie
- Franz Schultheis / Stepahn Egger / Charlotte Hüser, Geschlechterverhältnisse: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 299 S., eBook, 69,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 4. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
- Gesamtverzeichnis 2023 der besprochenen Bücher
- Gesamtverzeichnis 2023 der eingegangenen Bücher
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Essay
- Macht Kommunikation Macht?
- Über Sinngebung und Sinnentleerung. Neues aus dem Nachlass von Norbert Elias
- Themenessay
- Diesseits und jenseits der Apokalypse. Offenbarung als implizites Deutungsmuster der soziologischen ‚Bewältigung‘ der Corona-Pandemie
- Sammelbesprechung
- (Re-)Politisierung der subjektorientierten Arbeitssoziologie: Suchbewegungen aus der aktuellen Forschung
- Einzelbesprechung Bildungssoziologie
- Hinrich Wildfang, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern? Eine multiskalare Analyse von Effekten der sozialen Komposition auf die Bildungswahlentscheidung am Ende der Grundschulzeit. Baden-Baden: Nomos 2022, 281 S., kt., 59,00 €
- Einzelbesprechung Digitale Gewalt
- bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe / Nivedita Prasad (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 334 S., kt., 35,00 €
- Einzelbesprechung Ethnomethodologie
- Jörg R. Bergmann / Christian Meyer (Hrsg.), Ethnomethodologie reloaded: Neue Werkinterpretationen und Theoriebeiträge zu Harold Garfinkels Programm. Bielefeld: transcript 2021, 430 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Kultur
- Christian Stegbauer, Superschwache Beziehungen: Was unsere Gesellschaft kulturell zusammenhält. Wiesbaden: Springer VS 2023, 207 S., eBook, 22,99 €
- Einzelbesprechung Materielle Kultur
- Gerd Spittler, Leben mit wenigen Dingen: Der Umgang der Kel Ewey Tuareg mit ihren Requisiten. Tübingen: Mohr Siebeck 2023, 371 S., gb., 69,00 €
- Einzelbesprechung Raumsoziologie
- Melanie Rühmling, Bleiben in ländlichen Räumen: Wohnbiographien und Bleibenslebensweisen von Frauen aus Mecklenburg-Vorpommern. Bielefeld: transcript 2023, 252 S., kt., 50,00 €
- Einzelbesprechung Resilienz
- Martin Endreß / Benjamin Rampp (Hrsg.), Resilienz als Prozess: Beiträge zu einer Soziologie von Resilienz. Wiesbaden: Springer VS 2022, 360 S., kt., 39,99 €
- Einzelbesprechung Visuelle Soziologie
- Franz Schultheis / Stepahn Egger / Charlotte Hüser, Geschlechterverhältnisse: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 299 S., eBook, 69,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 4. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
- Gesamtverzeichnis 2023 der besprochenen Bücher
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