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Jörg R. Bergmann / Christian Meyer (Hrsg.), Ethnomethodologie reloaded: Neue Werkinterpretationen und Theoriebeiträge zu Harold Garfinkels Programm. Bielefeld: transcript 2021, 430 S., kt., 40,00 €

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Published/Copyright: December 2, 2023
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Rezensierte Publikation:

Jörg R. Bergmann / Christian Meyer (Hrsg.), Ethnomethodologie reloaded: Neue Werkinterpretationen und Theoriebeiträge zu Harold Garfinkels Programm. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 430 S., kt., 40,00 €


Entstehungshintergrund und Thema

Im Jahr 2017, zum 50. Jubiläum der „Studies in Ethnomethodology“ (Garfinkel, 1967), organisierten die Herausgeber des Sammelbands gemeinsam mit Erhard Schüttpelz eine Tagung mit dem Titel „Harold Garfinkel’s ›Studies in Ethnomethodology‹ – Fifty Years After“, aus der der Band hervorgegangen ist. Er widmet sich in 19 Beiträgen hauptsächlich der Entschlüsselung und Neuentdeckung des Bestsellers von Harold Garfinkel, der sich nicht zuletzt durch die „Sperrigkeit der Begriffswahl im Originaltext“ (Schüttpelz & Thielmann, 2020, S. 19) auszeichnet.

Aufbau und Inhalt

Neben dem Vorwort (Bergmann & Meyer, S. 9–12) zum Entstehungshintergrund wird der Band durch einen Text der Herausgeber zur „Vorgeschichte der Studies in Ethnomethodology“ (Meyer & Bergmann, S. 16–31) eingeleitet. Wie eine Reihe weiterer Autor:innen des Bands, beziehen sie sich auf Materialien im Garfinkel-Archiv (Newburyport, Massachusetts), wodurch ein intimer Einblick in die langjährige Produktionsgeschichte der „Studies“ gelingt, vom ersten Entwurf im Jahr 1955 bis zur Publikation des Buchs (im Grunde eine Aufsatzsammlung) im Jahr 1967. Es folgen im ersten Abschnitt des Bands („Neue Perspektiven auf die einzelnen Studies in Ethnomethodology“) zehn Texte verschiedener Autor:innen, die sich jeweils mit einem der acht Kapitel der „Studies“ auseinandersetzen. Im zweiten Abschnitt („Zur Aktualität, Neuentdeckung und Weiterentwicklung der Ethnomethodologie“) folgen acht Texte, die in ihrem Bezug auf Garfinkels Programm teilweise über die „Studies“ hinausreichen und z. B. die „Ethnomethodological Studies of Work“ (Garfinkel, 1986) fokussieren. Aus Platzgründen können im Folgenden nicht alle Beiträge besprochen werden.

Mit Bezug auf das erste Kapitel der „Studies“ erläutern Bergmann & Meyer (S. 38–53) zunächst eine Reihe ethnomethodologischer Hauptbegriffe, deren exakte Bedeutung bei Garfinkel selbst noch weit weniger konkret hervortritt. Mit verbreiteten Missverständnissen in der Rezeption von Garfinkels „breaching procedures“ räumt anschließend Ruth Ayaß (S. 57–77) in ihrem Beitrag zum zweiten Kapitel der „Studies“ auf. Sie verdeutlicht, dass es sich bei diesen nicht um „Demonstrationen von Regelbrüchen oder abweichendem Verhalten“, auch nicht um eine „Methode“ handele und dass sie „als didaktisches ›tool‹ für soziologische Lehrveranstaltungen nur bedingt geeignet“ seien (S. 72–75). Vielmehr stellten sie einen „Kunstgriff“ dar, der dazu diene, zu zeigen, „dass die soziale Wirklichkeit [...] intersubjektiv hergestellt wird“ (S. 75). Eingebettet in eine Gesamtschau des Aufbaus der „Studies“ analysiert Erhard Schüttpelz (S. 81–97) mit Bezug auf das dritte Kapitel die Dokumentarische Methode, die Garfinkel als alltägliches Verfahren der Herstellung von Sinn konzipiert, das auf Verallgemeinerung basiert und dessen sich, was von Garfinkel durchaus als Kritik zu verstehen ist, auch professionelle Soziolog:innen bedienten. Schüttpelz fragt, ob es der Ethnomethodologie nach Garfinkel gelungen sei, ohne Dokumentarische Methode auszukommen und verknüpft diese Frage mit der berechtigten Diskussion, inwieweit die Ethnomethodologie als Soziologie zu begreifen sei, insofern sie sich der Verallgemeinerung enthielte (und umgekehrt: ob es sich noch um Ethnomethodologie handele, falls eine solche doch vorgenommen werde) (S. 94–95). Thomas S. Eberles Beitrag (S. 101–118) wird von einem lesenswerten forschungsbiographischen Abriss eingeleitet. Im Hauptteil erläutert er die vor allem auf Alfred Schütz zurückgehenden phänomenologischen Grundlagen der Ethnomethodologie, bevor er sich Garfinkels Studie zu Entscheidungsprozessen von Juror:innen zuwendet. Während man hier zunächst interessante Hintergrundinformationen über das Zustandekommen der Studie erhält, die dem vierten Kapitel der „Studies“ zugrunde liegt, betont Eberle abschließend insbesondere die zeitgenössische Neuartigkeit der Entscheidungstheorie, die Garfinkel anhand seiner Studie entwickelte und die besagt, dass sich Entscheidung im Alltag eher als retrospektive Legitimation als durch prospektive Planung charakterisieren lässt. Der Beitrag zum fünften Kapitel der „Studies“, Garfinkels berühmte Arbeit über die trans*Frau Agnes, stammt von Stefan Hirschauer (S. 133–146). Sein Beitrag erläutert einleitend, dass Garfinkel seine Agnes-Studie mit vier verschiedenen Handlungstheorien (Parsons, Schütz, Goffman und Spieltheorie) unterlegte. Nach einer Zusammenfassung der Studienergebnisse entwickelt Hirschauer eine kurze Rezeptionsgeschichte und ordnet „Agnes“ in den Kontext der späteren Gender-Studies ein. Schließlich weist er anhand der Studie auf, dass der „methodologische Situationalismus“ der Ethnomethodologie in einen „ontologischen“ kippe (S. 143) und plädiert für eine „Post-Ethnomethodologie“ (S. 144). Andrea Ploder und Tristan Thielmann (S. 190–226) wenden sich in ihrem Beitrag zum siebten Kapitel der „Studies“, das in der Garfinkel-Rezeption weitgehend vernachlässigt wird, vor allem medien- und wissenschaftstheoretischen Aspekten zu. Als Quintessenz des überaus komplexen Originaltexts, den sie im Lichte der zeitgenössisch dominanten Standardisierung der Sozialwissenschaften betrachten (S. 207), resümieren sie, „dass statistische Berechnungsformeln, Tabellen und Diagramme niemals neutral sein können und darüber hinaus, noch nicht einmal vorgeben können, etwas zu plausibilisieren, was in vermeintlichen ›Rohdaten‹ steckt“ (S. 221).

Im zweiten Teil des Bands beschäftigt sich Dirk vom Lehn in seinem Beitrag (S. 295–313) mit den Verdiensten einer ethnomethodologischen Sensibilisierung für die Interaktionsforschung. Dabei nimmt er auf die aus der Konversationsanalyse hervorgegangene ethnomethodologische Interaktionsanalyse Bezug, die, wie er an Datenbeispielen illustriert, auf Grundlage von audio-visuellen Daten, eine interaktionsanalytische Mikroanalyse anzuleiten vermag. Jürgen Streeck (S. 315–329) erläutert in seinem Beitrag die Weiterentwicklung des Konzepts der Indexikalität zur körperlich-mimetischen indexikalischen Kommunikation in der Multimodalitätsforschung. Ebenfalls an Datenbeispielen erläutert er, wie körperlich-mimetische Indexikalität in der Kommunikation am Anfang des Prozesses der Entstehung einer auf konventionellem Symbolgebrauch basierenden Sprache steht. Wo sich vomLehn,Streeck und weitere Beiträge auf die Fortentwicklung ethnomethodologischer Konzepte in späterer Forschung und Theorieentwicklung beziehen, nehmen Christian Greiffenhagen und Wes Sharrock in ihrem Beitrag (S. 331–359; aus dem Englischen übersetzt von Clemens Eisenmann) eine kritische Position zu den „Ethnomethodological Studies of Work“ (Garfinkel, 1986) ein. Dabei konzentrieren sie sich auf Eric Livingstons Arbeit „The Ethnomethodological Foundations of Mathematics“ (1986), die Garfinkel als „exemplarisch“ (Greiffenhagen & Sharrock, S. 331) für seine „Studies of Work“ betrachtet habe. Greiffenhagen und Sharrock argumentieren, in Widerspruch zu Livingstons Arbeit (und Garfinkels Einschätzung), dass mathematische Beweise keine Accounts darstellten, dass Livingstons Ergebnisse keineswegs als mathematische Ergebnisse zu verstehen seien und schließlich, dass der ‚Studies of Work‘-Anspruch, wonach entsprechende Studien sowohl für Sozialwissenschaftler:innen als auch für die beforschten Felder von Relevanz sein sollen, bei Livingston unerfüllt bliebe. Der achte und letzte Beitrag des zweiten Abschnitts stammt von Karin Knorr Cetinaund Niklas Woermann (S. 405–420). Die Autor:innen beschäftigen sich mit gegenwärtigen bzw. zukünftigen Herausforderungen für die ethnomethodologische Forschung („Die nächsten 50 Jahre.“). Anhand zahlreicher Beispiele aus den Bereichen Devisenhandel und Online-Gaming verdeutlichen sie maßgebliche, im Zuge der Digitalisierung zu verzeichnende, gesellschaftliche Entwicklungen seit der Entstehung der Ethnomethodologie, die aktuell in der Globalisierung sowie der Synthetisierung von sozialen Settings und der Einbindung von „synthetischen Akteure[n]“ (S. 415) in soziale Situationen kulminieren. Die Autor:innen resümieren vor diesem Hintergrund, dass „die pragmatischen Methoden der ethnomethodologischen Forschung viel Anlass zum Überdenken und zur eventuellen Anpassung bieten“ (S. 419).

Diskussion und Fazit

Mögliche Kritikpunkte können sich auf die inhaltliche Ebene einzelner Beiträge, die uneinheitliche formale Gestaltung der Texte sowie das teilweise mangelhafte Lektorat beziehen. Es gelingt insbesondere im ersten Teil des Bands nicht allen Beiträgen, die schwere Lektüre des Originaltexts durch erhellende Erläuterung zu entlasten. So scheint z. B. der Beitrag von Ploder und Thielmann angetan, Leser:innen des komplexen siebten Kapitels der „Studies“ noch weiter zu verwirren.[1] Andere Beiträge scheinen im Rahmen des Bands (z. B. Meyer & Meier zu Verl) oder im Kontext des selbst gesteckten Ziels (z. B. Knorr Cetina & Woermann) die geweckten Erwartungen nicht vollständig zu erfüllen. Etwas überraschend wirkt, dass im Band mit verschiedenen Übersetzungen der „Studies“ ins Deutsche (zum Teil mit eigenen, zum Teil auf Grundlage der vollständigen Übersetzung (Garfinkel, 2020)) gearbeitet wurde. Auch wurden einigen Beiträgen Abstracts und Schlüsselwörter vorangestellt, anderen nicht. Insgesamt wurde auf eine einheitliche gendergerechte Schreibweise im Band keinen Wert gelegt. Hier überrascht insbesondere, dass ein Beitrag in den Druck gelangt ist, der auf den ersten Seiten einheitlich gendergerecht formuliert und im Folgenden gänzlich auf gendergerechte Sprache verzichtet. Ein etwas sorgfältigeres Lektorat wäre sicher von großem Nutzen gewesen.

Der deutschsprachige Band von 2021 stellt insgesamt dennoch einen wertvollen Beitrag zur gegenwärtigen und zukünftigen Auseinandersetzung mit Garfinkels Werk in Forschung und Lehre im deutschen Sprachraum dar. Insbesondere fördert eine Reihe von Beiträgen des Bands eine informierte Rezeption der „Studies“ und ihrer Fortentwicklung in unterschiedlichen Forschungsfeldern. Hervorzuheben sind hier die Texte von Schüttpelz, Eberle, Hirschauer und Streeck. Viele Bezüge auf bislang nicht im Druck publizierte Quellen aus dem Garfinkel-Archiv machen das Buch außerdem besonders lesenswert. Der Band ergänzt die ein Jahr zuvor erschienene, erste vollständige Übersetzung der „Studies“ ins Deutsche (Garfinkel, 2020) und ermöglicht so nicht zuletzt in der Lehre eine neue Tiefe in der Auseinandersetzung mit Garfinkels Programm.

Literatur

Garfinkel, H. (2020/1967). Studien zur Ethnomethodologie. Herausgegeben von E. Schüttpelz, A. Warfield Rawls und T. Thielmann. Campus.Search in Google Scholar

Garfinkel. H. (Ed.). (1986). Ethnomethodological Studies of Work. Routledge & Kegan Paul.Search in Google Scholar

Garfinkel H. (1967). Studies in Ethnomethodology. Prentice Hall. Search in Google Scholar

Livingston, E. (1986): The Ethnomethodological Foundations of Mathematics. Routledge & Kegan Paul.Search in Google Scholar

Schüttpelz, E. & Thielmann, T. (2020). Notiz zur Übersetzung. In H. Garfinkel, Studien zur Ethnomethodologie. Herausgegeben von E. Schüttpelz, A. Warfield Rawls und T. Thielmann, (S. 19–21). Campus.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-12-02
Erschienen im Druck: 2023-11-28

© 2023 #Autor1#, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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