Home bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe / Nivedita Prasad (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 334 S., kt., 35,00 €
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bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe / Nivedita Prasad (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 334 S., kt., 35,00 €

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Published/Copyright: December 2, 2023
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Rezensierte Publikation:

bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe / Nivedita Prasad (Hrsg.), Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung. Formen und Interventionsstrategien. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 334 S., kt., 35,00 €


Die erste und bis heute größte Repräsentativstudie zum Thema Partnerschaftsgewalt in Deutschland beruht auf Interviewdaten aus den Jahren 2002 bis 2004: Ein Viertel der über zehntausend im Auftrag des Familienministeriums befragten Frauen berichtete hier, in ihrem bisherigen Leben mindestens einmal körperliche und/oder sexualisierte Partnerschaftsgewalt erlebt zu haben (Müller & Schröttle, 2004). Etwa sechs Prozent der Frauen gaben weiterhin an, in ihrer aktuellen Paarbeziehung „schweren Formen körperlicher in Kombination mit psychischer und teilweise sexueller Gewalt“ (Schröttle & Ansorge, 2008, S. 95) ausgesetzt zu sein. Dieser Typus von Partnerschaftsgewalt, der regelmäßige Prügel und anhaltende psychische Bedrohung verknüpft und von Randall Collins (2011, S. 214) als „terroristisches Folterregime“ beschrieben wird, tritt demnach in Deutschland wenigstens in einer von zwanzig Paarbeziehungen auf. Dabei sind die entsprechenden Daten allerdings zwanzig Jahre alt – was auch erklärt, weshalb digitale Formen der Partnerschaftsgewalt in der Erhebung gar keine Rolle spielen. Aber auch die einzige aktuelle Repräsentativstudie zur Partnerschaftsgewalt in Deutschland (Jud et al., 2023) thematisiert digitale Gewaltformen nicht. Dafür soll die in diesem Jahr unter dem Titel „Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag“ angelaufene, von BMFSFJ, BMI und BKA gemeinsam initiierte Bevölkerungsbefragung künftig „einen sensibilisierenden Beitrag in den Bereichen Partnerschaftsgewalt, sexualisierte Gewalt, Stalking und digitale Gewalt leisten“ (www.bka.de/lesubia) – wobei erste Ergebnisse frühestens 2025 zu erwarten sind.

Somit liegen für Deutschland zur digitalen Partnerschaftsgewalt lediglich Daten aus der Polizeistatistik vor, die ein nur sehr unvollständiges Bild zeichnen. Generell wurden im Jahr 2022 in Deutschland über 125.000 Fälle polizeilich registriert, in denen ein Mann mit Gewalt gegen seine (ehemalige) Lebenspartnerin vorgegangen ist (BKA, 2023). Gewalt gegen Frauen wird allgemein – anders als jene gegen Männer – in einem hohen Maße von Tätern aus dem sozialen Nahraum verübt. So gehen laut Polizeibericht beispielsweise über 40 Prozent aller einfachen Körperverletzungen an Frauen vom eigenen (Ex-)Partner aus, was nur auf acht Prozent der Körperverletzungen an Männern zutrifft (BKA, 2023, S. 15). Neben physischen Gewaltakten – wie Körperverletzung, sexuellem Übergriff, Vergewaltigung, Totschlag und Mord – werden jedenfalls in der kriminalstatistischen Erhebung auch Bedrohung, Stalking und Nötigung in Paarbeziehungen erfasst. Für die drei letztgenannten Delikte wird dann nochmals spezifiziert, ob hier zur „Tatbestandsverwirklichung das Medium Internet als Tatmittel verwendet wird“ (BKA, 2023, S. 26), was beispielsweise auf 13,5 Prozent der polizeilich erfassten Stalkingfälle durch (Ex-)Partner:innen zutrifft, wobei knapp neunzig Prozent der Opfer weiblich sind (BKA, 2023, S. 27). Frauenberatungsstellen machen schon seit Jahren auf das wachsende Problem digitaler Gewaltformen im sozialen Nahraum aufmerksam. Untersuchungen aus Australien, Großbritannien, Kanada und den USA zeigen zudem eindrücklich, dass die Verfügbarkeit von Digitaltechnologien das Problem der Partnerschaftsgewalt weiter verschärft (Afrouz, 2023; Rogers et al, 2022).

Vor diesem Hintergrund leistet das Überblickswerk „Geschlechtsspezifische Gewalt in Zeiten der Digitalisierung“ im deutschen Kontext Pionierarbeit: Der gemeinsam von Nivedita Prasad, Professorin für Handlungsmethoden und genderspezifische Soziale Arbeit, und dem Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) herausgegebene Sammelband widmet sich den Formen und Auswirkungen der digitalen Partnerschaftsgewalt gegen Frauen. Die analysierten Varianten der digitalen Partnerschaftsgewalt reichen vom heimlichen Ausspionieren des Smartphones über das Kontrollieren des Aufenthaltsortes und das ungewollte Verbreiten von Bildmaterial bis hin zur missbräuchlichen Nutzung sogenannter Smart-Home-Geräte. Im letztgenannten Fall dienen beispielsweise heimische Kameras und Smart Speaker der alltäglichen Überwachung der Partnerin, die externe Steuerungsmöglichkeit von Heizung, Lichtanlage oder Rollläden wird missbräuchlich eingesetzt oder durch digitale Türschlösser wird das Nachhausekommen kontrolliert. In den Blick genommen werden „alle Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt, die sich technischer Hilfsmittel und digitaler Medien (Handy, Apps, Internetanwendungen, Mails etc.) bedienen und/oder geschlechtsspezifische Gewalt, die im digitalen Raum, z. B. auf Online-Portalen oder sozialen Plattformen stattfindet“ (S. 21).

Der interdisziplinäre Sammelband kombiniert dabei Überblicksartikel mit Handreichungen für die Soziale Arbeit, liefert Ausführungen aus juristischer und informationstechnischer Perspektive und besteht nicht zuletzt aus aktivistischen Interventionen und Erfahrungen aus der Beratungspraxis. Im ersten Buchabschnitt „Digitalisierung geschlechtsspezifischer Gewalt als Diskussionsgegenstand“ wird einführend der Forschungsstand zur digitalen Gewalt skizziert, dann eine Einordnung aus menschenrechtlicher Perspektive vorgenommen sowie eine Kategorisierung digitaler Gewaltformen vorgeschlagen. Der zweite Abschnitt widmet sich den Spezifika der geschlechtsspezifischen Gewalt unter digitalem Vorzeichen, während der dritte aus der Perspektive von Strafrecht, Zivilrecht und Öffentlichem Recht juristische Handlungsoptionen bei dem Vorkommen von digitaler Gewalt untersucht. Der vierte Abschnitt weiterhin versammelt Beiträge zu Erfahrungen aus der Beratungspraxis, schildert Strategien im Umgang mit digitaler Gewalt und enthält fundierte Überblicksarbeiten zur missbräuchlichen Verwendung spezifischer Digitaltechnologien wie Smart-Home-Geräten oder Spy-Software auf dem Smartphone. In einem fünften Abschnitt führt der Sammelband mit Blick auf die Zielgruppe der Berater:innen und frauenspezifischen Einrichtungen aus, welche Sicherheitsmaßnahmen anzuempfehlen sind. Der Ausblick macht abschließend auf die Dringlichkeit politischer Maßnahmen und einen umfassenden Forschungsbedarf aufmerksam.

Insgesamt wendet sich die auch Open Access verfügbare Publikation primär an die Beratungspraxis. Auch wenn im ganzen Band kein dezidiert soziologischer Beitrag enthalten ist, wird die gewalt-, medien- oder geschlechtersoziologische Relevanz des behandelten Themas mehr als deutlich. Im englischsprachigen Kontext formiert sich entsprechend seit etwa einem Jahrzehnt ein Forschungsfeld, das sich unter den Schlagworten „technology-facilitated abuse in intimate relationships“, „digital coercive control“ oder auch „tech abuse“ der Prävalenz, den Dynamiken und Effekten der digitalen Partnerschaftsgewalt widmet. Die internationalen Studien zeigen, dass Täterpraktiken wie Kontroll- und Überwachungsverhalten sowie systematische Beschämung unter Rückgriff auf digitale Technologien räumlich und zeitlich ausgeweitet sowie automatisiert werden können (Afrouz, 2023; Rogers et al., 2022). So ist beispielsweise anzunehmen, dass sich existierende „Folterregime“ durch den Einsatz von Digitaltechnologien in perfider Weise raffinieren lassen.

Ein Verdienst des vorgelegten Bandes ist es, in grundlegender Weise zur digitalen Partnerschaftsgewalt aufzuklären und darauf hinzuweisen, dass das Thema auch in Deutschland auf die Forschungsagenda gehört. Die Lektüre der augenöffnenden Schrift kann deshalb nicht nur den an Gewalt, Digitalisierung oder Geschlechterverhältnissen interessierten Soziolog:innen unbedingt empfohlen werden.

Literatur

Afrouz, R. (2023). The Nature, Patterns and Consequences of Technology-Facilitated Domestic Abuse: A Scoping Review. Trauma, Violence & Abuse, 24(2), 913–927.10.1177/15248380211046752Search in Google Scholar

Bundeskriminalamt. (2022). Partnerschaftsgewalt: Kriminalstatistische Auswertung. Berichtsjahr 2021. Search in Google Scholar

Bundeskriminalamt. (2023). Häusliche Gewalt. Bundeslagebild 2022. Search in Google Scholar

Collins, R. (2011). Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie. Hamburger Edition.Search in Google Scholar

Jud, A., Grafe, B., Meshkova, K., Kavemann, B., Meysen, T., Hoffmann, U., Ziegenhain, U., Fegert, J. (2023). Prevalence and Predictors of Affirmations of Intimate Partner Violence in Germany: A First Nationwide Study on Victimization in Women and Men. Journal of Interpersonal Violence,38(1–2), 1473–1493.10.1177/08862605221092066Search in Google Scholar

Müller, U. & Schröttle, M. (2004). Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. BMFSFJ.Search in Google Scholar

Rogers, M., Fisher, C., Ali, P., Allmark, P., Fontes, L. (2022): Technology-Facilitated Abuse in Intimate Relationships: A Scoping Review. Trauma, Violence & Abuse, 0(0), 1–17.Search in Google Scholar

Schröttle, M. & Ansorge, N. (2008). Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen – eine sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung nach erlebter Gewalt. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. BMFSFJ.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-12-02
Erschienen im Druck: 2023-11-28

© 2023 #Autor1#, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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