Rezensierte Publikation:
Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand. Zürich: Unionsverlag 2024, 379 S.

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist mit dem Überfall der radikalislamischen Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel, bei dem mehr als 1.000 Menschen starben, und den Vergeltungsschlägen der Gegenseite in eine neue Phase getreten. Eine realistische Chance für eine friedliche Beilegung der jahrzehntelangen Kämpfe in absehbarer Zeit erkennt wohl niemand. Das Buch von Rashid Khalidi, für die palästinensische Seite eine wissenschaftliche Autorität dank seiner PLO-Nähe, stößt auf beträchtliches Interesse, da es nach den historischen Ursachen für diesen Großkonflikt fragt. Der US-amerikanisch-palästinensische Historiker, geboren 1948 in New York, lehrte zunächst in Beirut, später an der New Yorker Columbia University. Von ihm stammen zahlreiche Werke zum arabischen Nationalismus sowie zum Mittleren und Nahen Osten.
Der Autor fängt mit Persönlichem an. Zitiert wird aus einem Brief seines Ur-Ur-Großonkels Yusuf Diva al-Din Pascha al-Khalidi an Theodor Herzl, den Begründer des politischen Zionismus. Der polyglotte islamische Gelehrte schreibt einerseits, den Juden sei das Recht auf Palästina nicht zu nehmen, und andererseits, dies sei eine „reine Verrücktheit“ (S. 13), da dort bereits Palästinenser lebten. Die Antwort Herzls, die jüdische Einwanderung komme der einheimischen Bevölkerung zugute, empfindet der Ur-Ur-Großneffe als herablassend. Diese Form des Kolonialismus sei bis heute spürbar. Der Verfasser zeichnet den israelisch-palästinensischen Konflikt anhand von sechs Etappen nach, für ihn stets „Kriegserklärungen“ des Zionismus. Zwar verleiht der erzählerische Charakter mit der häufigen Bezugnahme auf Erlebnisse und Anekdoten seiner Familienmitglieder dem Werk Anschaulichkeit, aber die nüchterne Analyse der komplexen historischen Vorgänge leidet darunter.
Die Erklärung des britischen Außenministers Arthur J. Balfour vom 2. November 1917 ist für den Autor der Beginn der ersten Etappe, die bis 1939 währt. In der Deklaration plädierte Balfour für eine „nationale Heimstätte“ des jüdischen Volkes in Palästina. Dieses gehörte bis 1917 zum Osmanischen Reich, danach etablierte sich dort Großbritannien als Mandatsmacht. Laut Khalidi unterstützte es massiv die Einwanderung jüdischer Siedler zu Lasten der arabischen Bevölkerung, der Verbündete fehlten. Die zweite Phase (1947–1948) betrifft den UN-Teilungsbeschluss, den Palästinakrieg mit dem Sieg Israels, dessen Staatsgründung sowie die Vertreibung der Palästinenser („Nakba“, arabisch für Katastrophe). „Die Nakba ist ein Wendepunkt in der Geschichte Palästinas und des Nahen Ostens. Sie verwandelte den größten Teil Palästinas von dem, was es weit über ein Jahrtausend lang gewesen war – ein mehrheitlich arabisches Land – in einen neuen Staat mit einer deutlichen jüdischen Mehrheit“ (S. 94). Der Verfasser berücksichtigt bei seiner Kritik an den Zionisten zu wenig das UN-Votum für eine israelische Staatsgründung nicht zuletzt aufgrund des Holocaust.
Eine Gefahr habe für Israel in der Folge nicht bestanden. Insofern war der von den USA verteidigte Sechstagekrieg des Jahres 1967, er steht für die dritte Phase, laut Khalidi kein wirklicher Präventivkrieg und nicht zu rechtfertigen. Zur vierten „Kriegserklärung“ zählt die Intervention Israels 1982 im Libanon. Das Ziel: die Zerschlagung der PLO. Der palästinensische Aufstand 1987, die Intifada, der Beginn der fünften Phase, gilt als „ein perfektes Beispiel für das Gesetz der unbeabsichtigten Folgen“ (S. 203). Durch die israelische Aggression sei „ungewollt eine neue Welle des Widerstands gegen den Kolonialisierungsprozess“ (S. 204) ausgelöst worden. Diese habe zwar vorübergehend die Situation der Palästinenser diplomatisch verbessert, aber Khalid beklagt die Zustimmung der palästinensischen Führung zu dem Osloer Vertragswerk, das „Israels Kolonialisierung von ganz Palästina“ (S. 248) vorantrieb. Die sechste Phase (2000–2014) umfasst die zweite Intifada, den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen, sowie die dortige Kontrolle durch die Hamas.
Der Autor wirft den USA vor, die Hamas nicht in die Verhandlungsprozesse einbezogen zu haben. „Als sich der Krieg um Palästina zum hundertsten Mal jährte, war Washington dem zionistischen Kolonialprojekt im gleichem Grade verpflichtet wie hundert Jahre zuvor London unter Lord Balfour“ (S. 282 f.). Doch der Vorwurf des Kolonialismus trifft so wohl nicht zu. Denn der Zionismus meldete Anspruch auf das „gelobte Land“ an, aus dem er zu Römerzeiten vertrieben worden war. Und von Ausbeutung im Interesse imperialistischer Mächte kann keine Rede sein. Khalidi ist im Gefolge des oft zitierten Edward Said ein Repräsentant des postkolonialistischen Diskurses.
Wer von sechs „Kriegserklärungen“ spricht, muss den Vorwurf des selektiven Verständnisses hinnehmen. Zum einen stimmt es keineswegs, Israel sei in den genannten Etappen beständig in der (kriegerischen) Offensive gewesen, zum anderen fallen weitere Zäsuren unter den Tisch, so der von Ägypten und Syrien ausgelöste Jom-Kippur-Krieg 1973. Zudem geraten die vielfältigen Friedensprozesse in den Hintergrund. Für Khalidi agiert Israel, und die palästinensische Seite reagiert. Dieses Schwarz-Weiß-Bild entspricht nicht der komplexen historischen Realität wie die folgende Sichtweise: Einerseits wird die beständige militärische und politische Übermacht Israels betont (und damit, nur umgekehrt, dem israelischen „David gegen Goliath“-Mythos gehuldigt), andererseits der aufopferungsvolle Kampf der Palästinenser gewürdigt. Beide Ziele unter einen Hut zu bringen, provoziert zuweilen Widersprüchlichkeiten.
Gewiss, der Autor präsentiert mitunter unerschlossenes Archivmaterial und gibt einen in allen Details so nicht bekannten historischen Abriss. Aber neben der historischen Bestandsaufnahme kommt die politikwissenschaftliche Analyse zu kurz. Ungeachtet aller Kritik: Der Verlag hat es der deutschsprachigen Leserschaft ermöglicht, die Position eines Fürsprechers der Palästinenser zu erfahren. Wie die Lektüre des griffig formulierten Werkes verdeutlicht, entsagt selbst ein bedeutender Gelehrter einer fairen Sichtweise: Die Kritik am Verhalten der Palästinenser fällt halbherzig aus, die an dem der Israelis meist vollmundig. Und was stört, sind verschwörungsmythische Untertöne. So gelten Großbritannien und die USA stets als Verbündete Israels, nicht als „ehrliche Makler“ (S. 218, S. 310).
Für die deutsche Ausgabe des bereits 2020 in englischer Sprache publizierten Werkes steuert Khalidi, Verfechter einer Zweistaatenlösung, ein ausführliches Nachwort bei. Seine Stellungnahme zum Angriff der Hamas am 7. Oktober und zur militärischen Reaktion Israels verurteilt zwar das Leid auf beiden Seiten. Der Verfasser spricht aber von Israels militärischem Versagen. Liegt durch diese Interpretation nicht eine Täter-Opfer-Umkehr vor? Die israelische und die US-amerikanische Politik seien unversöhnlicher geworden. Der Versuch der Israelis, die Hamas als politische Kraft zu zerstören, werde wegen ihres Einflusses in ganz Palästina nicht glücken. Khalidi wendet sich entschieden gegen die These, Opposition gegen den Zionismus als antisemitisch zu klassifizieren. Wenn er von einem „Doppelstandard“ (S. 321) bei der Bewertung der Opfer spricht, fällt dieser Vorwurf auf ihn zurück. Insgesamt enttäuscht das Nachwort, wobei der Rezensent die resignative Auffassung teilt, ein Frieden sei nicht in Sicht, keineswegs jedoch die Ursachen Khalidis für die Skepsis.
Bekanntlich endete der (erste) „Hundertjährige Krieg“ im 14. und 15. Jahrhundert trotz verschiedener Rückschläge mit einem Sieg Frankreichs, das die Engländer aus den heimischen Gefilden vertreiben konnte. Ob der Titel deswegen so suggestiv gewählt wurde? Wie damals geht es um die Herausbildung zweier Staatswesen. Das klingt manchmal an. Eine derartige Lesart ist weit treffender als der beständige Verweis auf den zionistischen Kolonialismus.
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Editorial
- Aufsätze
- Quellen des Nahöstlichen Antisemitismus
- Der Informationskrieg des Irans
- Chinas Fähigkeiten im Bereich der Unterwasser-Seekriegsführung: Technologische Aspekte
- Kritische Rohstoffabhängigkeiten und Lieferketten-Resilienz – ein Fall für die geheimen Nachrichtendienste?
- Kurzanalyse
- Vorschläge für eine neue Russland-Strategie der NATO
- Ergebnisse internationaler strategischer Studien
- Naher Osten
- Jack Watling/Nick Reynolds: Tactical Lessons from Israel Defense Forces Operations in Gaza, 2023. London: Royal United Services Institute (RUSI), Juli 2024
- Hassan Alhasan/Camille Lons: Gulf Bailout Diplomacy: Aid as Economic Statecraft in a Turbulent Region. London: IISS, Oktober 2023
- Brian Katulis, with Benjamin Freedman and Sydney Taylor: The Limits of Biden’s Middle East Diplomacy. An Assessment of US Policy. Washington, D.C.: The Middle East Institute, Juli 2024
- Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine
- Samual Charap/Khrystyna Holynska: Russia’s War Aims in Ukraine. Objective-Setting and the Kremlin’s Use of Force Abroad. St. Monica, Cal.: The RAND Corporation, August 2024
- Dara Massicot: Russian Military Wartime Personnel Recruiting and Retention 2022–2023. St. Monica: The RAND Corporation, Juli 2024
- Dapo Akande/Olivier Corten/Shotaro Hamamoto/Pierre Klein/Harold Hongju Koh/Paul Reichler/Hélène Ruiz Fabri/Philippe Sands/Nico Schrijver/Christian J. Tams/Philip Zelikow: On Proposed Countermeasures Against Russia to Compensate Injured States for Losses Caused by Russia’s War of Aggression Against Ukraine. London: International Institute for Strategic Studies, Mai 2024
- Lt. General (Ret.) Keith Kellogg/Fred Fleitz: America First, Russia, & Ukraine. Washington, D.C.: America First Policy Institute – Center for American Security, April 2024
- Militärrivalität USA-China
- Katherine L. Kuzminski/Taren Sylvester: Back to the Drafting Board. U.S. Draft Mobilization Capability for Modern Operational Requirements. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Juni 2024
- Stacie Pettyjohn/Hannah Dennis/Molly Campbell: Swarms over the Strait. Drone Warfare in a Future Fight to Defend Taiwan. Washington, D.C.: CNAS
- Markus Schiller: Der große Sprung. Chinas ballistisches Raketenprogramm. Ein technischer Bericht. Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Mai 2024
- Buchbesprechungen
- Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand. Zürich: Unionsverlag 2024, 379 S.
- Henry Farrell/ Abraham Newman: Underground Empire. How America Weaponized the World Economy. London: Allen Lane 2023, 278 Seiten
- Boris Bondarew: Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands. München: Wilhelm Heyne Verlag 2023, 255 Seiten
- Frank Bösch: Deals mit Diktaturen. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. C.H. Beck: München 2024, 622 Seiten
- Antje Nötzold/ Enrico Fels/ Andrea Rotter/ Moritz Brake (Hrsg.): Strategischer Wettbewerb im Weltraum. Politik, Recht, Sicherheit und Wirtschaft im All. Wiesbaden: Springer Nature, 2024, 883 Seiten
- Bildnachweise
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Editorial
- Aufsätze
- Quellen des Nahöstlichen Antisemitismus
- Der Informationskrieg des Irans
- Chinas Fähigkeiten im Bereich der Unterwasser-Seekriegsführung: Technologische Aspekte
- Kritische Rohstoffabhängigkeiten und Lieferketten-Resilienz – ein Fall für die geheimen Nachrichtendienste?
- Kurzanalyse
- Vorschläge für eine neue Russland-Strategie der NATO
- Ergebnisse internationaler strategischer Studien
- Naher Osten
- Jack Watling/Nick Reynolds: Tactical Lessons from Israel Defense Forces Operations in Gaza, 2023. London: Royal United Services Institute (RUSI), Juli 2024
- Hassan Alhasan/Camille Lons: Gulf Bailout Diplomacy: Aid as Economic Statecraft in a Turbulent Region. London: IISS, Oktober 2023
- Brian Katulis, with Benjamin Freedman and Sydney Taylor: The Limits of Biden’s Middle East Diplomacy. An Assessment of US Policy. Washington, D.C.: The Middle East Institute, Juli 2024
- Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine
- Samual Charap/Khrystyna Holynska: Russia’s War Aims in Ukraine. Objective-Setting and the Kremlin’s Use of Force Abroad. St. Monica, Cal.: The RAND Corporation, August 2024
- Dara Massicot: Russian Military Wartime Personnel Recruiting and Retention 2022–2023. St. Monica: The RAND Corporation, Juli 2024
- Dapo Akande/Olivier Corten/Shotaro Hamamoto/Pierre Klein/Harold Hongju Koh/Paul Reichler/Hélène Ruiz Fabri/Philippe Sands/Nico Schrijver/Christian J. Tams/Philip Zelikow: On Proposed Countermeasures Against Russia to Compensate Injured States for Losses Caused by Russia’s War of Aggression Against Ukraine. London: International Institute for Strategic Studies, Mai 2024
- Lt. General (Ret.) Keith Kellogg/Fred Fleitz: America First, Russia, & Ukraine. Washington, D.C.: America First Policy Institute – Center for American Security, April 2024
- Militärrivalität USA-China
- Katherine L. Kuzminski/Taren Sylvester: Back to the Drafting Board. U.S. Draft Mobilization Capability for Modern Operational Requirements. Washington, D.C.: Center for a New American Security, Juni 2024
- Stacie Pettyjohn/Hannah Dennis/Molly Campbell: Swarms over the Strait. Drone Warfare in a Future Fight to Defend Taiwan. Washington, D.C.: CNAS
- Markus Schiller: Der große Sprung. Chinas ballistisches Raketenprogramm. Ein technischer Bericht. Hamburg: Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Mai 2024
- Buchbesprechungen
- Rashid Khalidi: Der Hundertjährige Krieg um Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolonialismus und Widerstand. Zürich: Unionsverlag 2024, 379 S.
- Henry Farrell/ Abraham Newman: Underground Empire. How America Weaponized the World Economy. London: Allen Lane 2023, 278 Seiten
- Boris Bondarew: Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands. München: Wilhelm Heyne Verlag 2023, 255 Seiten
- Frank Bösch: Deals mit Diktaturen. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik. C.H. Beck: München 2024, 622 Seiten
- Antje Nötzold/ Enrico Fels/ Andrea Rotter/ Moritz Brake (Hrsg.): Strategischer Wettbewerb im Weltraum. Politik, Recht, Sicherheit und Wirtschaft im All. Wiesbaden: Springer Nature, 2024, 883 Seiten
- Bildnachweise