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Peter Rudolf: Deutschland, die NATO und die nukleare Abschreckung. Berlin: SWP, Mai 2020

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Veröffentlicht/Copyright: 27. November 2020

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Rudolf Peter Deutschland, die NATO und die nukleare Abschreckung Berlin SWP Mai 2020


Die letzte umfassende Betrachtung der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zur nuklearen Abschreckung von 1989 umfasste 890 Seiten, die hier zu besprechende Studie 24 Seiten. Reicht dies, um der Bedeutung des Themas gerecht zu werden, oder ist es Spiegelbild einer Minimalbedeutung, die dem Thema politisch beigemessen wird?

Das Jahr 2019 brachte die Kündigung des INF-Vertrages mit Russland und des Nuklearabkommens mit dem Iran durch die USA. Eine dringend erforderliche Verlängerung des START-Vertrages mit Russland ist im Oktober 2020 noch nicht in Sicht. In diese Phase fällt nun die Absicht der USA, ihr nukleares Waffenarsenal zu modernisieren und zu miniaturisieren. Für Deutschland, das in der Zeit des Ost-West-Konflikts der nuklearen Teilhabe einen sehr hohen Stellenwert beimaß, geht es heute nicht nur um die dringend erforderliche Entscheidung zur Ablösung des veralteten TORNADO und dessen Ersatz durch ein modernes Kampfflugzeug, sondern auch um eine ernsthafte Beteiligung an einer nuklearen Debatte, die bereits heute von den USA in die NATO ausstrahlt.

Peter Rudolf von der SWP greift diese sicherheitspolitische Gemengelage in seiner jüngst veröffentlichten Studie auf und versucht, die für Deutschland wichtigen Positionsbestimmungen und Handlungsoptionen herauszuarbeiten. Er will „historisch grundiertes Orientierungswissen zu Fragen der nuklearen Abschreckung vermitteln, denen sich Deutschland aufgrund seiner Mitgliedschaft in der NATO stellen muss.“

Im ersten Kapitel analysiert Rudolf, warum die NATO sich als „nukleares Bündnis“ verstand und weiter versteht. Sie hat dies auf dem Gipfeltreffen 2010 in ihrem verabschiedeten strategischen Konzept erneut dezidiert festgestellt. Damit legitimieren alle NATO Staaten die Politik der nuklearen Abschreckung. Am Beispiel der einzelnen Bündnispartner erklärt er den Unterschied zwischen einer nuklearen Teilhabe und dem konventionellen Schutz bei nuklearen Einsätzen. Er beschreibt die Rolle der Nuklearen Planungsgruppe (NPG), aber auch die Sonderrolle Großbritanniens und Frankreichs mit deren Konzept der Minimalabschreckung im Kontext der Abschreckung der NATO. Das Kapitel endet mit der Feststellung, dass Nichtkernwaffenstaaten – wenn es hart auf hart kommt – preisgegeben werden könnten.

Nachfolgend geht Rudolf den Besonderheiten Deutschlands und den Fragen seiner nuklearen Teilhabe nach. Dabei stellt er fest, dass Deutschland kaum ein Mitspracherecht bei der Einsatzplanung von Nuklearwaffen habe. Es könne zwar den Einsatz deutscher Jagdbomber verweigern, nicht aber den US-Präsidenten von einem möglichen Einsatz abhalten. Auch die in Deutschland stets betonte Funktion der Nuklearwaffen als rein politische Waffen zur Abschreckung halte einer Überprüfung amerikanischer operativer Planungen in 2020 kaum Stand.

Damit leitet Rudolf zum Kapitel „Erweiterte nukleare Abschreckung heute“ über und beginnt dieses mit der Feststellung, dass für amerikanische Nuklearplaner mit Blick auf mögliche Konfrontation in Europa atomwaffenfähige Flugzeuge keine nennenswerte Rolle spielten. Vielmehr suchten diese, nukleare Optionen unterhalb der Schwelle eines strategischen Nuklearkrieges zu entwickeln, um einen auf das europäische Gefechtsfeld begrenzbaren nuklearen Krieg führen zu können. Kleinere Sprengköpfe, seegestützte Marschflugkörper mit nuklearem Gefechtskopf seien hier die Stichworte.

Im abschließenden Fazit stellt Rudolf fest, dass die NATO – anders als zu Zeiten des Kalten Krieges – keine öffentlich auch nur ansatzweise zu erkennende Nuklearstrategie habe. Er leitet hieraus die Notwendigkeit ab, dass – will man nicht nur Status und Symbolik erhalten – eine nukleare Debatte mit den USA geführt werden müsse; denn Nuklearwaffen wirkten nicht abschreckend durch ihre bloße Existenz, sondern weil der potentielle Gegner mit ihrem Einsatz rechnen müsse.

In Fußnoten verweist Rudolf zu Recht auf ein 1981 in der damaligen SWP-Reihe „Internationale Politik und Sicherheit“ bei NOMOS erschienenes Buch von K.-Peter Stratmann – „NATO-Strategie in der Krise? Militärische Optionen von NATO und Warschauer Pakt in Mitteleuropa“. Empfehlenswert bleibt dessen Lektüre (insbesondere des Teil III: Zur Begrenzbarkeit nuklear geführter Kriegshandlungen in Mitteleuropa) für politische wie militärische Entscheider, um die von Rudolf geforderte Diskussion mit amerikanischen Nuklearplanern ernsthaft und in der Sache führen zu können.

Offen bleibt für den Rezensenten die Frage, warum der Autor nicht auch den 1989 erschienenen Band 25 der SWP-Reihe mit dem Titel „Nukleare Abschreckung – Politische und ethische Interpretationen einer neuen Realität“ und dessen Herausgeber Uwe Nerlich/Trutz Rendtorff erwähnt hat. Schrecken hier die 890 Seiten möglicher Lektüre ab? Kann man Politiker nur noch mit Kurznachrichten und kurzen Studien erreichen? Wird dies der erforderlichen Debatte eines sehr schwierigen Themas gerecht? Reicht die mehrfach erwähnte deutsche Friedenspolitik mit ihrem Ansatz auch mit Blick auf jüngste Entwicklungen neuer Nuklearwaffen in Russland aus?

https://www.swp-berlin.org/10.18449/2020S11/

Published Online: 2020-11-27
Published in Print: 2020-11-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Die (unvollkommene) Rückkehr der Abschreckung
  6. Auf der Suche nach politischer Rationalität nuklearer Abschreckung
  7. Neue Herausforderungen erfordern neue Ideen: Elemente einer Theorie des Sieges in modernen strategischen Konflikten
  8. Zur Bedeutung von Kernwaffen unter Bedingungen strategischer Rivalität – analytische Denkanstöße
  9. Iran und Israel: Ist ein Krieg unvermeidlich?
  10. Kurzanalysen und Berichte
  11. Erdogan schafft im Windschatten von Corona in Libyen Fakten!
  12. Geopolitische Folgen und Herausforderungen der Coronakrise für die Ukraine
  13. Forum – welche Politik ist angesagt gegenüber China und Russland?
  14. Anregungen zu einer neuen transatlantischen China-Politik
  15. Russlandpolitik in der Kontroverse
  16. Russlandpolitik in der Kontroverse
  17. Ergebnisse strategischer Studien
  18. Russland
  19. Sergey Sukhankin: Instruments of Russian Foreign Policy: Special Troops, Militias, Volunteers, and Private Military Enterprises. Washington, D.C.: The Jamestown Foundation, 2019
  20. Richard Sokolsky/Eugene Rumer: U.S.-Russian Relations in 2030. Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, Juni 2020
  21. Mathieu Boulègue/Orysia Lutsevych: Resilient Ukraine. Safeguarding Society from Russian Aggression. London: Chatham House, Juni 2020
  22. Naher Osten
  23. Peter Salisbury: Risk Perception and Appetite in UAE Foreign and National Security Policy. London: Chatham House, Juli 2020
  24. Ilan Goldenberg/Elisa Catalano Ewers/Kaleigh Thomas: Reengaging Iran. A New Strategy for the United States. Washington D.C.: CNAS, August 2020
  25. International Crisis Group: Taking Stock of the Taliban’s Perspectives on Peace. Brüssel, August 2020
  26. Europäische Sicherheit
  27. Peter Rudolf: Deutschland, die NATO und die nukleare Abschreckung. Berlin: SWP, Mai 2020
  28. Jana Puglierin/Ulrike Esther Franke: The big engine that might: How France and Germany can build a geopolitical Europe. Berlin/London: European Council on Foreign Relations, Juli 2020
  29. Digitale Sicherheit
  30. Kenneth Geers: Alliance Power for Cyber Security. Washington, D.C.: The Atlantic Council, August 2020
  31. Daniel Kliman/Andrea Kendall-Taylor/Kristine Lee/Joshua Fitt/Carisa Nietsche: Dangerous Synergies. Countering Chinese and Russian Digital Influence Operations. Washington, D.C.: Centers for a New American Security, Juni 2020
  32. JD Work/Richard Harknett: Troubled vision: Understanding recent Israeli-Iranian offensive cyber exchanges. Washington D.C.: The Atlantic Council, Juli 2020
  33. Ökonomische Aspekte des internationalen Wandels
  34. Bayern LB Research/Prognos: Das Ende der Globalisierung – braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell? Wie Unternehmen jetzt die Weichen richtig stellen. München: Prognos, Juni 2020
  35. Buchbesprechungen
  36. David Shambaugh (Hg.): China and the World. New York: Oxford University Press 2020, 394 Seiten
  37. Tingyang Zhao: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2020, 266 Seiten
  38. Campbell Craig/Frederik Logevall: America’s Cold War. The Politics of Insecurity. Second Edition. Cambridge, MA und London: Harvard University Press 2020, 443 Seiten
  39. Christopher Hill: The Future of British Foreign Policy. Security and Diplomacy in a World after Brexit, London: Polity Press 2019, 238 Seiten
  40. Jason Lyall: Divided Armies. Inequality & Battlefield Performance in Modern War. Princeton und Oxford: Princeton University Press 2020, 528 Seiten
  41. Ben Saul/Dapo Akande: The Oxford Guide to International Humanitarian Law. Oxford: Oxford University Press 2020, 480 Seiten
  42. James D. Bindenagel: Germany from Peace to Power. Can Germany lead in Europe without dominating? Bonn: Bonn University Press 2020, 223 Seiten
  43. Bildnachweise
  44. Iran and Israel: The Inevitable War?
Heruntergeladen am 10.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2020-4018/html?lang=de
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