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Auf der Suche nach politischer Rationalität nuklearer Abschreckung

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Published/Copyright: November 27, 2020

Zusammenfassung

Derzeit endet eine Ära, in der nukleare Waffen ihre politische Wirkung verloren haben. Das Management nuklearer Risiken muss daher neu gedacht werden. Ausgangspunkt sind die diesbezüglichen Erfahrungen der beiden großen nuklearen Mächte. Dass es keinen Kernwaffenkrieg zwischen 1949 und 1990 gab, war ein Erfolg erlangter Stabilität, verstärkt durch Gewöhnung und Generationswechsel. Jede Seite nahm die Kompetenz der anderen wahr und respektierte diese. Nukleare Arsenale werden unter den heutigen Bedingungen auf längere Sicht weiterbestehen. Damit können sich neue Formen der Stabilisierung ergeben, aber auch das Risiko von Katastrophen. Es ist denkbar, dass zwischen den USA und China eine lang dauernde politisch-strategische Konkurrenz ansteht, in der nukleare Waffen eine politische Funktion bekommen. Dennoch ist diese geopolitische Situation grundlegend verschieden im Vergleich zum europäischen Kontext zwischen 1945 und 1990. Das neue Nuklearzeitalter ist zudem durch eine höhere Zahl von Akteuren geprägt. Sie sind zum großen Teil Nachbarn, bei denen sich Vorwarnzeiten in Minuten bemessen, und die nicht über Fähigkeiten verfügen, die jene gegenseitige Verständigung und Respektierung ermöglichen, die in zurückliegenden Zeiten zur Verhinderung von Nuklearkriegen beigetragen haben.

Abstract

Currently an era is ending, during which nuclear weapons had lost their political relevance. The management of nuclear risks has to be re-established on a new basis. In the period between 1949 and 1990, nuclear war could be avoided because a common model of stability was developed, which was supported by generational and societal change. Each side was acknowledging and respecting the competence of the other side. Nuclear weapons will continue to exist. In some cases they might contribute to a stabilization, in other contexts we might see catastrophic developments. It is imaginable that the US and China are entering a period of long-term rivalry, in which nuclear weapons might assume a political function. However, the evolving strategic constellation between the US and China is fundamentally different from the one that emerged in Europe between 1945 and 1990. The new nuclear era is also characterized by a larger number of actors. They are often neighbours. Warning times might be a few minutes and they often lack that kind of nuclear competence and respect that was a major factor in preventing nuclear war.

1 Eine politische Rückkehr nuklearer Strategien?

75 Jahre nach Hiroshima und 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges endet offenkundig eine Ära, in der nukleare Waffen ihre politische Wirkung verloren haben und wo deren strukturelle Folgen in weitem Maße an Bedeutung einbüßen. Mit Trumps Diplomatie des maximalen Drucks, mit Russlands Versuch, als Nuklearmacht eine Position als Weltmacht zurückzugewinnen, mit Chinas systematischem Ausbau seiner nuklearen Fähigkeiten, mit der regionalen Konfrontation zweier nuklear bewaffneter Staaten in Südasien, mit der israelischen „Bombe im Keller“ als ultimativem Rückhalt regionaler Selbstbehauptung, mit dem drohenden Zuwachs an Nuklearstaaten, zumal mit regionalen Revisionszielen, mit der möglichen Aktivierung weiterer Proliferation und mit den latenten Risiken nicht-staatlicher nuklearfähiger Akteure geraten nukleare Fähigkeiten zunehmend wieder auf die globale Agenda.

Das Management nuklearer Risiken muss daher neu gedacht werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich die diesbezüglichen Erfahrungen der beiden großen nuklearen Mächte vor Augen zu führen. Dass es keinen Kernwaffenkrieg gab, ist ein Erfolg erlangter Stabilität, verstärkt durch Gewöhnung, Generationswechsel und die relativierende Wirkung der Unterhaltungsindustrie. Nukleare Abschreckung wird im Rückblick auf gut 40 Jahre strategischer Konkurrenz zwischen den USA und der Sowjetunion in ihrer Wirkung zunehmend als Basis der Stabilität unter Bedingungen beispielloser Rivalität gesehen. Das ist im Prinzip richtig, nur wird diese Stabilität in ihrer politischen Wirkungsweise und ihrer Dynamik bis heute kaum verstanden. Viele glauben, es gäbe Doktrinen, Verfahren und Instrumente, die sich auf nachfolgende Konstellationen übertragen ließen. Andere meinen, man könne sich einfach auf die existentielle Abschreckung aufgrund des bloßen Vorhandenseins nuklearer Waffen oder auf die Vernunft und Selbstbeschränkung der Politik verlassen. Aber 30 Jahre nach Ende des Kalten Krieges gibt es noch große nukleare Arsenale auf Seiten der USA wie Russlands. Und der Schatten von Hiroshima beginnt zu schwinden.

Nicht zuletzt wird von Vielen verkannt, wie entscheidend es auf beiden Seiten war, dass sie Frieden erhielten, weil sie inmitten geopolitischer Konkurrenz die Kompetenz auf der anderen Seite wahrgenommen und respektiert haben. Es wird daher, in den Worten von Thérèse Delpech, zunehmend und unter weitgehend anderen Bedingungen darum gehen, in der gegenwärtigen „thinking crisis“ zuallererst ein neues „intellectual framework of things to come on nuclear matters“ zu schaffen.[1] Und da gilt, was McGeorge Bundy im Rückblick auf die ersten 50 Jahre der nuklearen Ära resümiert hat: Der Besitz nuklearer Waffen bedeute „harte Arbeit“.[2]

2 Die nukleare Revolution

In wechselnden globalen Konstellationen hat die Vernichtungskapazität, die mit nuklearen Waffen in die Welt kam, eine beispiellose Qualität erlangt. Mit der Bombe auf Hiroshima fand nicht nur ein blutiger Krieg im Pazifik ein Ende. Mit dem Bild der Explosion hat sich eine apokalyptische Vision realisiert, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Wie Spencer Weart in seiner kenntnisreichen Studie „Nuclear Fear“ aufgezeigt hat, ist die unmittelbare Wirkung der Hiroshima-Bombe nicht nur mit ihrer physischen Wirkung zu erklären – die Angriffe auf Tokio mit konventioneller Bombardierung waren weit verheerender. Vielmehr hat die Wirkung auch entscheidend damit zu tun, dass „thinking has less to do with current physical reality than with old, autonomous features of our society, our culture, and our psychology.“[3]

Dass mit Hiroshima eine neue Norm des Nichteinsatzes entstand,[4] die ihre globale Wirkung gerade durch den möglichen Schrecken eines Einsatzes gewann, ist letztlich allein in diesen Dimensionen nachzuvollziehen. Aber diese Wirkung resultiert zugleich daraus, dass, wie Daniel Boorstin, der Doyen der amerikanischen Geschichtsschreibung erkannt hat, „a tantalizing, exhilarating fact about great technological changes seems to be a law unto itself. Each grand change brings into being a whole new world. We cannot forecast the rules of any particular new world until after it has been discovered.“[5]

Der bislang einzige Einsatz nuklearer Waffen beendete den zerstörerischsten Krieg der Geschichte. Er verhütete dessen Steigerung im Pazifik. Und das Ende der europäischen Katastrophe vier Monate zuvor bewahrte Europa vor einem Einsatz gegen Hitlers Deutschland, der eigentliche Antrieb des Manhattan-Projekts in der Erwartung eines möglichen deutschen Zuvorkommens. Hiroshima (und Nagasaki) wurden so zur Zäsur in der Weltgeschichte – als Demonstration ultimativer Macht und als Beginn einer neuen Norm des Nichteinsatzes. Sie wirkte vor allem in den nachfolgenden Jahren extremer strategischer Unsicherheit. Mit der nachfolgenden sowjetischen Atomwaffe entstand eine Weltlage, auf die keine Seite vorbereitet war: nicht konzeptionell oder organisatorisch, nicht in Bezug auf die Kommunikationsfähigkeit in extremen Konfrontationen und auch nicht strategisch oder gar im Hinblick auf die Kontrolle der eigenen Fähigkeiten.

Es war eine Revolution. Daniel Boorstin hat in diesem Kontext technologische von politischen Revolutionen unterschieden: Im Unterschied zu letzteren wirken technologische Revolutionen, wie die nukleare, mit dem Entstehen völlig neuer Weltbezüge und Handlungsbedingungen, zumal wenn sie politische Revolutionen überlagern und in ihrer Unumkehrbarkeit verstärken. Kissinger hat in den 50er-Jahren früh die Koinzidenz dieser nuklearen Revolution mit dem Entstehen einer globalen Systemkonkurrenz und einer direkten militärischen Konfrontation der beiden neuen Globalmächte in der Mitte Europas erkannt. Die Erfahrung des Ersteinsatzes und der entstehenden Norm des Nichteinsatzes verband sich so mit politischer Konkurrenz und militärischer Ambivalenz – der Gefahr begrenzter Konflikte unter Bedingungen extremer gegenseitiger Vernichtungsmöglichkeiten, die zugleich der Abschreckung ebendieser Steigerungsmöglichkeit dienen sollte, also insoweit quasi Mittel der Politik und damit selbst Gegenstand politischer Konkurrenz wurde.[6]

Abb 1: Kontrollraum für eine Minuteman 3 Rakete
Abb 1:

Kontrollraum für eine Minuteman 3 Rakete

3 Die beispiellose nukleare Konkurrenz

Der gut 40-jährige Prozess des Kalten Krieges mit der zentralen Rolle der nuklearen Konkurrenz ist historisch ohne Beispiel. Er entstand aus einer Nachkriegssituation, in der die Vereinigten Staaten sich als dominierende Macht etablierten, die Sowjetunion aus einem Krieg mit 20 Mio. Toten als zweite Weltmacht hervorging und beide angesichts eines weitgehend zerstörten Europas mit konkurrierenden Zielen einen europäischen Wiederaufbau anstrebten. Die amerikanische Atombombe, die in Erwartung eines deutschen Zuvorkommens gebaut worden war, beendete den Pazifikkrieg, bevor die Sowjetunion dort eingreifen konnte. Stalin hatte sofort erkannt, dass die Atombombe der USA die globale Balance verändern würde, versuchte das aber herunterzuspielen als Waffe, die keinen Krieg entscheiden könne, gleichwohl er nach Hiroshima das sowjetische Atomprogramm forcierte.[7]

Dieser Prozess mit seiner Komplexität und der Dauer seiner Risiken, der einzigartigen Kombination von Konflikt und Kooperation zwischen den Antagonisten und der evolutionären Art der Konfliktentwicklung ist in allen seinen unterschiedlichen Phasen durch Theorie- und Analyseabhängigkeit bestimmt gewesen. Andererseits war die reale Entwicklung der nuklearen Konkurrenz auch das Agens für die Entwicklung von Theorien und Analyse, die so den Prozess der Konkurrenz beherrschbar und zum Gegenstand konkurrierender Bewertungen seitens der Antagonisten und innerhalb der Fraktionen beider Seiten machten. Letzteres führte wiederum zu neuen Formen der Institutionalisierung und Kommunikation. Wie Thérèse Delpech resümiert hat, die so sehr um Lehren für die künftige Rolle nuklearer Abschreckung bemüht war, blieb dieser Prozess so rational geprägt, weil „jede Seite die Kompetenz der anderen wahrgenommen und respektiert hat“.[8] Dies gilt nicht nur für die USA und die Sowjetunion, sondern auch für die Länder, die sich unter dem Schutz einer auf sie erweiterten Abschreckung sahen, in erster Linie Deutschland und Westeuropa.

Die Komplexität des Prozesses wuchs mit den völlig neuen Herausforderungen, die mit der nuklearen Dimension auf die Politik aller Seiten zukamen. Sie ließ auch Strukturen und Obligationen zwischen Verbündeten entstehen, für die es vorab keine Erfahrungen und Modelle gab. Da für Verbündete der USA ein Schutz mit nuklearen Waffen vor militärischen Gefährdungen gesucht wurde, im Fall eines Versagens der Abschreckung aber totale Vernichtung ohne Vorteil für eine Seite drohte, haben die Imperative des Überlebens zwischen den Vereinigten Staaten und Europa – aber eben auch zwischen den beiden globalen Antagonisten – vitalste gemeinsame Interessen unter Bedingungen extremer Risiken entstehen lassen. Mit dieser zentralen Rolle nuklearer Fähigkeiten gewann so aber der Prozess des Kalten Krieges in all seinen Dimensionen eine Systematik, die sich in einer in Grenzen regulierbaren Bipolarität niederschlug und die den Konflikt überschaubar werden ließ.

4 Nukleare Konkurrenz im politischen Kontext

Nirgendwo waren die politischen Dimensionen nuklearer Macht und Gefahr in den Jahren der globalen Konfrontation von so zentraler Bedeutung wie in Europa und namentlich in Deutschland, das in voller Abhängigkeit vom Verhalten der beiden damaligen Weltmächte zugleich umkämpfter Einsatz-, möglicher Konfliktraum und etwaiges Opfer war. Diese Situation hat sich mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes für Deutschland und seine Nachbarstaaten entscheidend geändert. Aber angesichts der wiederkehrenden Rolle von Kernwaffen stellen sich für Deutschland, Frankreich und Großbritannien Fragen des Umgangs mit Kernwaffen, die nicht einfach im Rekurs auf die Erfahrungen des Kalten Krieges zu beantworten sind. Andererseits wird es notwendig werden, die Lehren aus der damaligen Zeit daraufhin zu überprüfen, ob und in welchem Maße sie heute überhaupt noch anwendbar sind. Derartige Debatten werden in Großbritannien und Frankreich geführt (siehe etwa das erneute französische Angebot zur nuklearen Zusammenarbeit).

Die Rolle und politische Wirkung nuklearer Waffen war abhängig von der politischen Konstellation. Fünfzig Jahre nach Hiroshima hat McGeorge Bundy resümiert, „possessing nuclear weapons is hard work“,[9] und zwar besonders die Kontrolle der eigenen Potenziale, die politische Kommunikationsmöglichkeit zwischen Antagonisten und die Vermeidung der Weiterverbreitung. Die Kombination dieser drei Ziele, die seit Anfang der 60er-Jahre beiden Seiten gemein zu werden begann, führte in kleinen Schritten zu einer Dialogfähigkeit, mit der eine neue Handlungsebene politischer Konkurrenz entstand: die nukleare Rüstungskontrolle.

Diese Entwicklung seit Anfang der 60er-Jahre hätte zu einer stabilen Situation führen können, nachdem die zweite Berlin-Krise und die Kuba-Krise die begrenzte politische Wirkung militärischer Macht unter Bedingungen nuklearer Abschreckung demonstriert hatten. Aber es kam anders: Die politische Entwicklung wurde durch zwei Trends bestimmt, und zwar zum einen durch die Eigendynamik der nuklearstrategischen und technologischen Konkurrenz und zum anderen durch die Absicherung der Einflusszonen der beiden Globalmächte unter Bedingungen beginnender Lockerung politischer Kontrollmöglichkeiten. Beide Trends führten zu neuerlicher politischer Konkurrenz.

Resultat war eine Konkurrenz um die Wiedergewinnung strategischer Handlungsfähigkeit bzw. deren gegenseitiger Neutralisierung. Rüstungskontrolle wurde damit zur vorrangigen Ebene politischer Konkurrenz zwischen den USA und der Sowjetunion, wobei beide Seiten sich so komplexeren Anforderungen gegenübergestellt sahen: Die UdSSR versuchte bei nuklearstrategischer Überlegenheit der USA militärischen Druck auf Europa auszuüben und Europa in einer Geiselrolle zu halten bei möglichster Schwächung des amerikanischen Schutzes Europas. Die USA mussten ihrerseits bemüht sein, strategische Flexibilität glaubhaft zu machen, damit Europa sich nicht destabilisierte. Constructive ambiguity war Kissingers Formel für diese Politik.[10]

Die politische Relevanz nuklearer Waffen resultiert aus der gegebenen politischen Konstellation. McGeorge Bundy, einer der Architekten der nuklearen Abschreckung, hat nach den ersten 50 Jahren der nuklearen Ära resümiert, dass nukleare Waffen ohne geopolitischen Bezug „little or no day-to-day value“ haben.[11] Gleichwohl hat sich die Dynamik der nuklearen Konkurrenz mit ungeheurem Aufwuchs der Potenziale so vollzogen, als handle es sich um Planungen und Beschaffungen herkömmlicher Waffen.

Die Diskrepanz zwischen einem gleichgewichtigen Verhältnis konfrontativer nuklearer Zerstörungskräfte und dem möglichen Nutzen konkurrierender Strategien für die Verfolgung politischer Ziele wuchs damit ständig. Die nuklearen Dimensionen konkurrierender Macht entwickelten sich so fast unabhängig voneinander auf zwei Ebenen, der politisch-strategischen, auf der es um politische Handlungsmöglichkeiten und Stabilisierung ging, und der militärisch-waffentechnischen, auf der es um die Vermeidung gegnerischer Einsatzoptionen, um die Erhaltung gesicherter Vergeltungsfähigkeiten und um die Erlangung strategischer Flexibilität und Eskalationsdominanz für den Fall versagender wechselseitiger Abschreckung ging.

Das Besondere dieser jahrzehntelangen politisch-diplomatischen Konkurrenz war, dass sie im Schatten des nuklearen Risikos erfolgte, aber an entscheidenden Krisenpunkten weitgehend unabhängig von den gegebenen nuklearen Kräfteverhältnissen blieb. Als Ende der 40er-Jahre die erste Berlin-Krise und der Koreakrieg die Konfrontation der beiden Weltmächte offenbar machten, hatte die UdSSR in Europa eine überwältigende militärische Überlegenheit, während die USA keine einzige Nuklearwaffe verfügbar hatten, die zu dem Zeitpunkt sowjetischen Boden hätte erreichen können. Der Schatten Hiroshimas genügte, obwohl sich zu dem Zeitpunkt nur ganze 50.000 US-Soldaten für primär militärpolizeiliche Aufgaben in Europa aufhielten.

5 Nukleare Abschreckung im Kontext der europäischen Konfrontation

Anfang der 50er-Jahre begannen die USA mit dem Aufbau eines nuklearen Potenzials für die dann gewählte Strategie der massiven Vergeltung, während die Sowjetunion mit eigener Entwicklung nuklearer Waffen gleichzuziehen begann. Ende der 50er-Jahre besaßen die USA die größte Zahl einsatzfähiger Nuklearwaffen, allerdings zu einem Zeitpunkt, als die zweite Berlin-Krise deren begrenzten Nutzen offenbarte.

Die USA versuchten, strategische Handlungsfähigkeit zum Schutz Europas mit einer Flexibilisierung der Abschreckung zu gewährleisten, was aber genau europäische Zweifel an der auf Europa ausgeweiteten Abschreckung der UdSSR aufkommen ließ. Die Sowjetunion zielte politisch auf diese Zweifel mit einer Bedrohungsfähigkeit (erste Generation von Mittelstreckenraketen), die Europa zur Geisel für amerikanische Zurückhaltung machen sollte. Der Modernisierung der amerikanischen Abschreckungsfähigkeit durch interkontinentale und seegestützte Raketen suchte die Sowjetunion mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba zu begegnen, um die USA direkt erreichen zu können; bekanntlich ohne Erfolg.

Mit dem Aufbau eigener interkontinentaler strategischer Nuklearwaffen der UdSSR entstand wiederum eine neue Situation: der Zustand beiderseitig „gesicherter Zerstörungsfähigkeit“ durch gesicherte Zweitschlagfähigkeiten. Damit war die erweiterte Abschreckung zum Schutz Europas praktisch neutralisiert. Es ging vor allem in den 70er-Jahren für die UdSSR darum, den amerikanischen Schutz Europas weiter zu neutralisieren, ohne die eigene militärische Überlegenheit in Europa aufzugeben und so die Kontrolle über Mittel- und Osteuropa zu erhalten. Für die USA und Westeuropa musste es entsprechend um die Erhaltung flexibler Reaktionsmöglichkeiten und von Eskalationsdominanz in möglichen Krisen gehen, was zunehmend durch neue konventionelle Fähigkeiten und nicht-strategische Nuklearwaffen in Europa angestrebt wurde. Faktisch hatte sich damit die Abkopplung der Verteidigung Europas von der strategischen Abschreckungsfähigkeit der USA vollzogen. Damit ergab sich für die USA ein Zielkonflikt zwischen Stabilität im direkten Kräfteverhältnis mit der UdSSR und Flexibilität bei der Verteidigung Europas.

Der Wandel des militärischen Kontextes mag das weiter verdeutlichen: Die atomare Bombe wurde beschafft, um zerstörerische klassische Kriege zu beenden; durch die USA, um Hitlers Deutschland zuvorzukommen,[12] dann eingesetzt gegen Japan, um den Pazifikkrieg zu beenden, bevor die Sowjetunion voll eingreifen würde. Hiroshima führte zu Stalins Entscheidung, das eigene Nuklearprogramm zu forcieren,[13] was Anfang der 50er-Jahre den massiven Ausbau der amerikanischen nuklearen Fähigkeiten zur Folge hatte. Damit war die nukleare Bipolarität entstanden. Seit die Sowjetunion 1956 China eine Unterstützung eines nuklearen Waffenprogramms versagte, begann China mit eigenen Initiativen, ohne dass diese wesentlich die Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Bipolarität veränderten.

Diese Frühphase der nuklearen Konkurrenz erfolgte in einem militärischen Kontext, der für den weiteren Fortgang entscheidend war. Die Sowjetunion ließ ihre konventionellen Streitkräfte bei Kriegsende weitgehend unverändert in Mittel- und Osteuropa stehen, während die USA fast ohne Verzug ein weitgehendes Disengagement aus Europa vornahmen. Es verblieben nur rd. 50.000 Soldaten für hauptsächlich militärpolizeiliche Aufgaben. Die erste Berlin-Krise und der Koreakrieg veränderten die Gesamtlage. Es folgten eine massive amerikanische Wiederaufrüstung und der Ausbau nuklearer Arsenale. Gemäß Dean Achesons Rückblick „it is doubtful whether anything like what happened in the next few years could have been done had not the Russians been stupid enough to have instigated the attack against South Korea and opened the ‘hate America’ campaign.“[14] Die USA erwarteten danach keine militärische Invasion Westeuropas, wohl aber den Versuch, politische Kontrolle, auch durch Druck auf Westeuropa, auszudehnen.

Der Abzug der amerikanischen Streitkräfte aus Europa bis auf 50.000 Mann kam Stalin im Bemühen entgegen, die amerikanische Macht und deren nuklearen Vorsprung zu verharmlosen. Anders als die USA beließ Stalin Stärke und Struktur der sowjetischen Truppen in Europa praktisch unverändert – sei es, um den Eindruck von Schwäche zu vermeiden, sei es um die von Stalin geteilte Meinung, es werde früher oder später zu einem so schon vor dem Zweiten Weltkrieg erwarteten Krieg kommen, zu verdeutlichen. Hierfür, so die Auffassung, müsse die UdSSR stark genug bleiben, „um die Sowjetunion aus einem für unvermeidlich gehaltenen Krieg zwischen den führenden kapitalistischen Mächten heraushalten und einen Angriff auf das kommunistische Mutterland abzuwehren.“[15] Diese militärische Präsenz wurde Ende der 40er-Jahre durch ein Netz von Satellitenregimen ergänzt.

Die erste Berlin-Krise und der Koreakrieg führten zu einer Wende der amerikanischen Politik, mit der im zunehmend geteilten Europa eine militärische Konfrontation der beiden globalen Konkurrenten entstand. Mitte der 50er-Jahre war so eine weltpolitische Lage entstanden, in der eine globale systemische Konkurrenz, eine in Friedenszeiten einmalige militärische Konkurrenz entlang der neuen europäischen Scheide und das Novum nuklearer Waffen auf beiden Seiten zusammenwirkten. Es folgten rund 40 Jahre eines beispiellosen Konflikts.

Abb 2: Auf der Höhe der Berlin-Krise Sommer 1961
Abb 2:

Auf der Höhe der Berlin-Krise Sommer 1961

Mit NSC 68, diesem leading embodiment of Government policy, wie Acheson es genannt hat,[16] begannen Anfang der 50er-Jahre der Wiederaufbau der US-Streitkräfte, besonders die Entsendung von vier Divisionen zurück nach Europa, sowie der massive Aufbau nuklearer Fähigkeiten. Der fortdauernden konventionellen Unterlegenheit in Europa versuchten die USA mit der Androhung massiver nuklearer Vergeltung zu begegnen.

Beiden Seiten fehlten zunächst interkontinentale nukleare Fähigkeiten, den USA bis zur Stationierung von B-29 in Großbritannien, der Sowjetunion effektiv bis in die 60er-Jahre. Der hauptsächliche Konfliktraum wurde so Europa, wo beide Seiten sich auf mögliche Positionskriege einrichteten. Mit der sowjetischen Wasserstoffbombe wurde zwar das apokalyptische Bild nuklearer Explosionen weiter verstärkt, aber Stalin war, wie die USA, bemüht, nukleare Waffen einzuführen, die für den europäischen Konfliktraum taugten.

Diese Konstellation wurde Ende der 50er-Jahre mit der zweiten Berlin-Krise offenkundig, als die UdSSR trotz starker konventioneller Überlegenheit zurücksteckte und die USA angesichts sowjetischer nuklearer Reaktionsfähigkeiten die Notwendigkeit der Flexibilisierung ihrer nuklearen Reaktionsmöglichkeiten erkannten, zunehmend auf Kosten der Glaubwürdigkeit des amerikanischen Schutzes für Europa.

Pari passu entwickelten beide Seiten nun interkontinentale Fähigkeiten, die USA mit ihrer strategischen Triade, gefolgt von sowjetischen Fähigkeiten, durch welche sich die USA erstmals ernsthaft selbst gefährdet sahen, während in Europa die massive konventionelle Präsenz sowjetischer Streitkräfte in Mittel- und Osteuropa andauerte, Aussichten auf Abrüstung indessen kaum fortbestanden. Es entstand so eine Pattsituation mit dem primären Interesse der beiden Weltmächte, die Kontrolle ihrer europäischen Einflusszonen zu sichern und zu festigen. Zugleich wuchs das Interesse beider, die Bipolarität auf der Ebene strategischer Waffen zu stabilisieren, ohne vollends auf strategische Handlungsfähigkeit zu verzichten.

In den 60er-Jahren verstärkten sich auf sehr unterschiedliche Weise auf beiden Seiten die zentrifugalen Kräfte. In Westeuropa geschah dies durch einen zunehmenden Bilateralismus der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs im Verhältnis zur Sowjetunion, in Osteuropa war dies am deutlichsten angesichts des Prager Frühlings zu erkennen. Auf der Ebene der strategischen Bipolarität wuchs die Tendenz zur Stabilisierung mit dem Resultat des ersten SALT-Abkommens (1972). Die USA fanden sich zudem in Südostasien gebunden, was zu einer schrittweisen Verlegung von US-Streitkräften aus Europa in außereuropäische Konflikträume führte. Daraus resultierte der Übergang zu einer politisch-militärischen Strategie. Die USA hatten schon mit NSC 68 eine Doppelstrategie gegenüber der UdSSR angestrebt – eine starke militärische Basis und Verhandlungslösung, so weit möglich. Nukleare Abschreckung gewann so zunehmend eine Doppelfunktion – als „condition“ und als „policy“. Mit den erfolgten technologischen Fortschritten wuchs auf beiden Seiten die Tendenz, zunächst auf amerikanischer, dann auf sowjetischer Seite, nukleare Abschreckung durch moderne konventionelle Bewaffnung teils zu entlasten, teils zu ersetzen.

Nukleare Abschreckung wurde so fortschreitend zum Hintergrund für drei Entwicklungen, die in den Vordergrund traten:

  1. eine erneut aktivierte konventionelle Verteidigung, wenngleich weiter unter der Bedingung, als blieben nukleare Waffen als letztes Mittel verfügbar;

  2. eine Wiederentdeckung konventioneller Rüstungskontrolle und

  3. eine zunehmend multilaterale Ausweitung der Beteiligten wie der Verhandlungsgegenstände (KSZE), eine Entwicklung, die zunehmend durch Schwächung der sowjetischen Wirtschaft wie des imperialen Zusammenhalts angetrieben wurde. Personelle Umstände auf beiden Seiten (bes. Gorbatschow und Reagan) trugen wesentlich dazu bei, dass diese Entwicklungen weitgehend konfliktfrei verliefen.

Zwischen den USA und der Sowjetunion ging es nunmehr nicht nur um strategische Stabilität durch gesicherte wechselseitige Vergeltungsfähigkeit, sondern um die Sicherung dieser Stabilität durch Abkopplung von regionalen Konfliktlagen und der Vermeidung einseitiger Vorteile, z. B. durch Fähigkeiten zur Raketenabwehr. Im europäischen Konfliktraum ging es um einen förmlichen Ausschluss möglichst großflächiger Invasionsfähigkeit durch Parität der konventionellen Streitkräfte auf niedrigem Niveau. Auf beiden Ebenen kulminierten diese Entwicklungen in veränderten strategischen Prioritäten. Mit SDI, der Strategic Defense Initiative, sollte Abschreckung durch Abwehr ersetzt werden. Diese wurde nicht voll realisiert, setzte aber in den USA einen technologischen Schub frei, dem die Sowjetunion nicht mehr zu begegnen vermochte.

In Europa wurde mit dem KSE-Abkommen vom November 1990 Parität erreicht, die mit den nachfolgenden geopolitischen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa ihre strategische Relevanz rasch wieder verlor. Nach dem amerikanischen Disengagement in den späten 40er-Jahren kam es in den frühen 90er-Jahren zum russischen Disengagement, dem Rückzug aller russischen Streitkräfte hinter verengte Grenzen – rund 45 Jahre nach dem Rückzug der US-Streitkräfte. Mit dem START-Vertrag vom Juli 1991 kam es dann auch zu einer massiven Reduzierung der strategischen Waffen. Mit dem INF-Vertrag und den präsidentiellen Initiativen von 1991 kam es zu einer fast vollständigen Abschaffung nicht-strategischer Kernwaffen der USA und der Sowjetunion bzw. Russlands.

Auf beiden Ebenen verloren zahlenmäßige Begrenzungen damit ihre Relevanz, auf der strategischen durch beidseitige verhandelte und unilaterale Reduzierungen, auf der europäischen durch das zweite Disengagement aus Europa, das den KSE-Vertrag gegenstandslos machte. In der Folge entstand sogar eine neue Asymmetrie, als Russland seine nunmehrige konventionelle Unterlegenheit durch eine Variante der „massiven Vergeltung“ auszugleichen bemüht war, allerdings in einem Europa, das infolge des INF-Abkommens und unter den Bedingungen des KSE-Abkommens weitgehend nuklearwaffenfrei geworden war – bis auf symbolische Kontingente der USA und eine begrenzte Neustationierung russischer Waffen in der Kaliningrad-Enklave.

Im Rückblick lässt sich festhalten, dass die zunehmende Etablierung zweier Verhandlungsebenen – eine für die Stabilität im Verhältnis der strategischen Fähigkeiten der USA und der Sowjetunion und eine für die erstmalige Erlangung konventioneller Parität in Europa – mit den START/SORT- und dem KSE-Abkommen zu einer indirekten Strategie beider Seiten im politischen Ringen um die geostrategische Rolle in Europa geführt hat. Dabei ging es um die Zukunft des bis dahin geteilten Europas. In diesem Zusammenhang suchte die UdSSR mit der Dislozierung der SS-20-Raketen nochmals Europas strategische Bindung an die USA zu zerstören. Dies fand aber mit dem INF-Abkommen ein Ende. Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der Abzug aller russischen Streitkräfte hinter die (enger gezogenen) russischen Grenzen rund 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beendete die Konfrontation in Europa.

Kissinger hat diese Entwicklung auf den Punkt gebracht: „For the first time in history, the Nuclear Age had made it possible to alter the balance of power by means of developments taking place entirely within the territory of a sovereign state. A single country’s acquisition of an atomic bomb altered the balance more significantly than any territorial acquisition of the past.“ Aber er fährt mit einer skeptischen Frage fort: „Perhaps deterrence was even unnecessary because it was impossible to prove whether the adversary ever intended to attack in the first place.“[17] Rückblickend mag man Kissingers Fazit folgen, dass „the Nuclear Age turned strategy into deterrence, and deterrence into an esoteric intellectual exercise.“[18] Aber in dieser Ära mit ihrer beispiellosen Verknüpfung von globaler Systemkonkurrenz, einer politischen Konkurrenz im seit 400 Jahren umstrittenen und nach der Selbstzerstörung vor 1945 geteilten Europa und einer direkten militärischen Konfrontation in der Mitte Europas – mit einem Zerstörungspotenzial auf beiden Seiten – kam es zu einem Ende mit erneuten geopolitischen Verwerfungen, aber von internen Interventionen abgesehen, ohne dass ein Schuss fiel. Und es kam zur freiwilligen Freigabe der „Errungenschaften“ des fürchterlichen Zweiten Weltkriegs seitens Russlands.

6 Politische Wirkungen nuklearer Waffen

Politischer Nutzen militärischer Gewalt kann schon aus sehr geringem militärischem Aufwand resultieren. Der bisher einmalige Einsatz gegen Hiroshima hat einen extrem opferreichen Krieg beendet, weitreichende geopolitische Veränderungen verursacht und eine konditionierende Vorstellung apokalyptischer Wirkungen ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Die nachfolgende technologische Dynamik mit ihren Tests, den immer neuen „undenkbaren“ Szenarien und Simulationen sowie die politischen Gewichtungen von eigenen und gegnerischen Optionen aktivierten zusätzlich die apokalyptische Dimension der nuklearen Rüstung. In der realen Politik spielen Wirkungen veränderter nuklearer Potenziale am ehesten in medialer Vereinfachung und opportunistischen Kampagnen eine Rolle. Die Wirkungen in der politischen Öffentlichkeit können dabei sowohl offensiv, z. B. in sowjetischer Propaganda, als auch defensiv erfolgen, wie in den Bemühungen um deren Neutralisierung. Das wohl wichtigste Beispiel war die Nachrüstungsdebatte der achtziger Jahre – eine politische Konkurrenz, die zum Ende der Sowjetunion beitrug.

Nukleare Waffen haben per se keine politischen Wirkungen. Diese erfolgen durch die Art, wie Politik sich nukleare Optionen zu eigen macht und zu nutzen sucht. Dabei ist bemerkenswert, dass der mögliche Besitz nuklearer Waffen sich meist eher zur politischen Nutzung eignet als der etwaige Einsatz. Bis auf den Fall Chinas wird dies durch alle Proliferationen, die auf die USA und die Sowjetunion folgten, bestätigt. Die nukleare Schattenkonkurrenz der USA und der Sowjetunion wurde schließlich ein mitentscheidender Faktor des Zusammenbruchs der Sowjetunion und ihres Imperiums. Die Gemeinsamkeit der zwei Weltmächte des Kalten Krieges zeigte sich indessen aber auch darin, wie die USA Russland als einzigen nuklearen Nachfolgestaat der UdSSR akzeptierten und bei der Rückführung und teilweisen Vernichtung russischer Waffen und Materialien technische und finanzielle Unterstützung leisteten – allerdings eine Episode ohne Langzeitwirkungen. Damit verlor dann auch die Rüstungskontrolle ihre diplomatische Relevanz.

Nukleare Arsenale werden auf längere Sicht weiterbestehen. Damit können sich neue Formen der Stabilisierung ergeben, aber – eher verstärkt – eben auch das Risiko von Katastrophen. Staaten können zunehmend über Fähigkeiten mit vergleichbar disruptiver Wirkung verfügen, z. B. Cyberwaffen oder auch nicht-militärische Zwangsmittel. Aber nukleare Waffen sind vor allem im Modus der Drohung und Unsicherheit politisch relevant, in Situationen, in denen Staaten ihre Macht zu politischen Zwecken ins Spiel bringen. Das ist z. B. bei Cyberwaffen nicht der Fall, die dafür den Vorteil der möglichen „non-Attribution“ haben.[19]

Nukleare Abschreckung kann in situativen Krisen ins Spiel kommen, aber ihre politischen Wirkungen sind zumeist bei länger anhaltenden Konkurrenzen und Konfliktlagen relevant, d. h. je mehr sie in solchen Konstellationen politische Wirkung entfalten sollen, umso mehr wird nukleare Abschreckung durch die gegebene Konstellation und den politischen Habitus der Konkurrenten bestimmt sein. Das gilt insbesondere in Bezug auf gegebene oder sich entwickelnde geostrategische Bedingungen.

Es ist denkbar, dass zwischen den USA und China eine lang dauernde politisch-strategische Konkurrenz ansteht, in der nukleare Waffen eine politische Funktion erhalten. Beide verfügen über eine Zweitschlagfähigkeit, benötigen aber – in Südostasien bzw. Taiwan – regionale Handlungsfähigkeit. Dennoch ist diese geopolitische Situation grundlegend verschieden vom europäischen Kontext zwischen 1945 und 1990. Es gibt insbesondere nicht die wechselnden Gleichgewichte zwischen nuklearen und konventionellen Streitkräften im Kontext direkter anhaltender Konfrontation von zwei Weltmächten. Alle anderen nuklearen Risikoräume der kommenden Jahre involvieren eine Gegenstellung zwischen einer der Weltmächte und einer Regionalmacht mit nuklearen Fähigkeiten oder Ambitionen, die gegenüber der betroffenen Weltmacht kaum über eine Zweitschlagfähigkeit verfügen wird, also nicht wirklich handlungsfähig ist.

Nukleare Abschreckung ist kein allgemeines Mittel oder eine Strategie in der Konkurrenz um Dominanz oder politische Vorteile. Sie entsteht als Handlungsmöglichkeit aus spezifischen geopolitischen Konstellationen. Die Erfahrung aus 40 Jahren globaler Konkurrenz zwischen den USA und der Sowjetunion macht dies gerade auch in der möglichen Zufälligkeit ihrer Bedingungen erkennbar. Die Konstellation, die in gut 40 Jahren bestimmend war, ist durch keine künftige Entwicklung wiederholbar. Sie ist auch darin singulär, als sich wiederum durch beiderseitige Akzeptanz nuklearer Abschreckung in einer lang dauernden politischen Konkurrenz und militärischen Konfrontation parallel konzeptionelle Grundlagen für diese Akzeptanz herausgebildet haben, und zwar im Zuge technologischer Dynamiken und wechselnder regionaler Umstände und in einer Art virtueller Kriegsführung mit der Gegenseite. Solche Positionierung diente vor allem der Rückversicherung für Staaten, die von diesem Zustand wechselseitiger Akzeptanz abhängig sind, was sich in sukzessiven doktrinalen Veränderungen ausdrückte. Diese Einmaligkeit weltgeschichtlicher Konstellation gerät vor allem in einer Welt aus dem Blick, die, wie in Teilen der westlichen Welt, in einem institutionalisierten Multilateralismus befangen ist, der geopolitische Realitäten und nationale Interessen wenig gelten lässt.

Der Fortbestand der NATO unter gegenwärtigen Bedingungen ist ein Beispiel. Sie wurde seit ihrem Aufbau Anfang der 50er-Jahre von den USA als zeitweiliges Arrangement gesehen.[20] Und gut 10 Jahre später hat Adenauer konstatiert, dass die NATO zweckgebunden und nicht als permanent zu verstehen sei. Bei nachlassender Bedrohungswahrnehmung und Ausbildung multilateraler Strukturen schwand die Rolle der NATO als primärer gemeinsamer Handlungsrahmen. Sie nahm als ein Handlungsrahmen eine zunehmend abstrakte Natur an, der instrumentell für wechselnde Zwecke von interessierten Mitgliedern genutzt werden kann. Die ursprünglichen politischen Zwecke ihrer Gründung – die gesicherte Konsolidierung Westeuropas und als Rahmen für eine Lösung der deutschen Frage in Abstimmung mit der Sowjetunion – trieben im Zuge fortschreitender Entspannung einer Saturierung entgegen.

Dies musste nicht das Ende der NATO werden. George Kennan hat dies auf den Punkt gebracht: „Far-reaching involvements with other countries, if allowed to endure for long periods of time, have a habit of surviving the situations that have given rise to them in the first place. Their very existence creates new situations, which their creators could never have envisaged. Thus any effort to put an end to them […] becomes a new political action, the desirability of which has to be judged against the changing realities of a new day.“[21] Zum gegenwärtigen Zeitpunkt fehlt der NATO eine politische Zweckbestimmung, von ihrer Ad-hoc-Verfügbarkeit in wechselnden Umständen abgesehen. Sie ist durch abstrakten Multilateralismus bestimmt, dem insbesondere die dominierende politische Rolle der USA fehlt.

Als Rahmen für die Einbindung der nuklearen Fähigkeiten hat die NATO auch in der Vergangenheit in toto nie getaugt. Projekte wie das trilaterale Direktorium, die MLF, die nachgerückte nukleare Planungsgruppe (NPG) oder die Manifestierung nuklearer Teilhabe durch die verbliebenen nuklearfähigen Tornados besitzen im Rückblick bestenfalls Symbolcharakter ohne strategische Relevanz. Was folgt daraus für die nukleare Abschreckung? Jean-Marie Guéhenno hat frühzeitig eine weitgehende Folgerung gezogen: Die nukleare Abschreckung könne „eines Tages abstrakt erscheinen, weil ihr der politische Kontext fehlt, in dem sie entstanden war.“[22]

7 Die nicht wiederholbare politische Konstellation nuklearer Abschreckung

Dreißig Jahre nach dem Ende einer historisch einmaligen globalen Konkurrenz und einer nachfolgenden Zeit der Transformation, der konkurrierenden Restaurationsversuche und der Suche nach prägenden Integrationszielen zeichnet sich der Beginn einer globalen Neuordnung ab. Wie im Kalten Krieg entsteht eine neue Dynamik in einem wiederum mehrschichtigen globalen Vorgang, in der neuartige Kräfte, die politisch noch kaum beherrschbar sind, sich mit Kräften der ersten globalen Konkurrenz, des Kalten Krieges, verbinden, die in verändertem Kontext weiter wirksam bleiben könnten.

Jene erste globale Konkurrenz, die mit der Dominanz der USA begann und mit dem Zerfall der Sowjetunion endete, hatte sich vor allem auf drei Ebenen internationaler Transaktionen vollzogen:

  1. einer systemischen Konkurrenz, deren Ursprünge ins 19. Jahrhundert zurückreichen und die nach 1945 politische Gestalt annahm angesichts der konkurrierenden Ziele der USA und der Sowjetunion für den Wiederaufbau, aber auch für die Kontrolle des zerstörten Europas;

  2. einer direkten politischen und militärischen Konfrontation in der Mitte des geteilten Europas und

  3. der zunehmenden Verfügbarkeit nuklearer Waffen, also von Mitteln zur Selbstvernichtung, mit denen politisch umzugehen den USA, der Sowjetunion und den Staaten Europas anfangs alle Erfahrungen und Instrumente fehlten.

Die politische und militärische Konfrontation endete mit der Implosion des sowjetischen Imperiums und wird sich in ähnlicher Form nicht wiederholen. Die systematische Konkurrenz schien mit dem Ende der Sowjetunion beendet, beginnt aber nach dem 70-jährigen Erfolg des chinesischen Aufstiegs und den zunehmenden Schwächen der Leistungsfähigkeit repräsentativer Demokratien in neuer globaler Formation eine neue Dynamik zu entfalten. Die überlagernde Dynamik der nuklearen Konkurrenz begann mit Hiroshima und verlor mit dem Ende der amerikanisch-sowjetischen Konkurrenz ihren geopolitischen Rahmen – auf politischer wie militärischer Ebene. Aber es wird vermutlich auf unabsehbare Zeit weiter große nukleare Arsenale geben.

Die drei wichtigsten Mächte könnten sie mit globalen Zielsetzungen verbinden. Es könnte Umstände geben für Erpressung (coercion), aber die USA, China und Russland verfügen über Zweitschlagfähigkeiten. Sie könnten auch in regionale Konflikte so verwickelt sein, dass strategische Waffen die Eskalationsdominanz sichern. Aber ihre nuklearen Arsenale sind nicht geeignet, im Zuge einer systemischen Konkurrenz politische Vorteile zu erlangen und langfristig abzusichern. Gleichwohl wird keine der drei Mächte sie für verzichtbar bzw. durch andere Mittel ersetzbar halten. Hier kann weiter gelten, was Thérèse Delpech für die nuklearen Erfahrungen aus dem Ost-West-Konflikt resümiert hat: „The impact of nuclear weapons on international security is mainly about ideas. To a large extent, nuclear military power is a thinking experiment, and nuclear war a way of thoughts.“[23]

8 Politischer Kontext und nukleare Strategien

In diesem Zusammenhang ist die Annahme begründet, dass die politische Wirkung nuklearer Waffen vom organisatorischen und konzeptionellen Rahmen abhängt, der in der Regel in Grenzen veränderbar ist. Dieser Rahmen – auch das eine Lehre vor allem der 60er- und 70er-Jahre – ist jeweils untrennbar von der politischen und strategischen Wirkung nuklearer Waffen. Deshalb kann es keine dogmatisch darstellbaren nuklearen Strategien geben. Der französische General Andrè Beaufre hat daraus eine zukunftsweisende Einsicht gewonnen: Strategie „ist eine ständige Neuschöpfung, das heißt ein Prozess, der auf Hypothesen beruht, die erst im Laufe der Aktion selbst auf ihre Stichhaltigkeit hin geprüft werden können. Hierin liegt die größte Schwierigkeit der Strategie.“[24] Dieser Entwicklungscharakter von Strategien gilt zumal für den politischen Gebrauch nuklearer Abschreckung und entsprechender Einsatzformen.

Die globalen Konfliktpotenziale nehmen weiter zu. Das gilt auch und vielleicht doch weiter auch für nukleare Waffen, deren technische Einsatzmöglichkeiten sich erweitern, deren Besitzer sich vermehren, deren politische Kontrollen nachlassen und deren politischer Nutzen über die existentielle Abschreckung hinaus kaum noch auf die normative Kraft des Faktischen vertrauen lässt. In der prägenden Ära des Kalten Krieges war die politische Wirkung an internationale Konstellationen gebunden und die militärische auf virtuelle Konflikte und Hypothesen nuklearer Rüstungskontrolle ausgerichtet.

Dieser Überbau ist mit dem Ende der globalen Konkurrenz, in deren Rahmen er seine Wirkung entfaltete, weitgehend verloren, bis auf, in Stanley Hoffmanns Worten, „floating fragments of the past.“[25] Aber die Ära der größten Risiken in den 50er- und 60er-Jahren wurde durch beispiellosen intellektuellen Aufwand bewältigt. Für die möglicherweise begrenzteren Risiken in einer weniger geordneten künftigen Welt ist Thérèse Delpech daher kaum zu widersprechen: „We may have little previous experience.“[26] Aber die spezifische europäische Erfahrung mit politischer Kontrolle nuklearer Waffen in Konflikten historischen Ausmaßes könnte zur Stimme der Vernunft werden. Nur bisher sind Rufe nach einer neuen strategischen Kultur gerade in Europa noch ohne Echo.

Literatur

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Published Online: 2020-11-27
Published in Print: 2020-11-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Die (unvollkommene) Rückkehr der Abschreckung
  6. Auf der Suche nach politischer Rationalität nuklearer Abschreckung
  7. Neue Herausforderungen erfordern neue Ideen: Elemente einer Theorie des Sieges in modernen strategischen Konflikten
  8. Zur Bedeutung von Kernwaffen unter Bedingungen strategischer Rivalität – analytische Denkanstöße
  9. Iran und Israel: Ist ein Krieg unvermeidlich?
  10. Kurzanalysen und Berichte
  11. Erdogan schafft im Windschatten von Corona in Libyen Fakten!
  12. Geopolitische Folgen und Herausforderungen der Coronakrise für die Ukraine
  13. Forum – welche Politik ist angesagt gegenüber China und Russland?
  14. Anregungen zu einer neuen transatlantischen China-Politik
  15. Russlandpolitik in der Kontroverse
  16. Russlandpolitik in der Kontroverse
  17. Ergebnisse strategischer Studien
  18. Russland
  19. Sergey Sukhankin: Instruments of Russian Foreign Policy: Special Troops, Militias, Volunteers, and Private Military Enterprises. Washington, D.C.: The Jamestown Foundation, 2019
  20. Richard Sokolsky/Eugene Rumer: U.S.-Russian Relations in 2030. Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, Juni 2020
  21. Mathieu Boulègue/Orysia Lutsevych: Resilient Ukraine. Safeguarding Society from Russian Aggression. London: Chatham House, Juni 2020
  22. Naher Osten
  23. Peter Salisbury: Risk Perception and Appetite in UAE Foreign and National Security Policy. London: Chatham House, Juli 2020
  24. Ilan Goldenberg/Elisa Catalano Ewers/Kaleigh Thomas: Reengaging Iran. A New Strategy for the United States. Washington D.C.: CNAS, August 2020
  25. International Crisis Group: Taking Stock of the Taliban’s Perspectives on Peace. Brüssel, August 2020
  26. Europäische Sicherheit
  27. Peter Rudolf: Deutschland, die NATO und die nukleare Abschreckung. Berlin: SWP, Mai 2020
  28. Jana Puglierin/Ulrike Esther Franke: The big engine that might: How France and Germany can build a geopolitical Europe. Berlin/London: European Council on Foreign Relations, Juli 2020
  29. Digitale Sicherheit
  30. Kenneth Geers: Alliance Power for Cyber Security. Washington, D.C.: The Atlantic Council, August 2020
  31. Daniel Kliman/Andrea Kendall-Taylor/Kristine Lee/Joshua Fitt/Carisa Nietsche: Dangerous Synergies. Countering Chinese and Russian Digital Influence Operations. Washington, D.C.: Centers for a New American Security, Juni 2020
  32. JD Work/Richard Harknett: Troubled vision: Understanding recent Israeli-Iranian offensive cyber exchanges. Washington D.C.: The Atlantic Council, Juli 2020
  33. Ökonomische Aspekte des internationalen Wandels
  34. Bayern LB Research/Prognos: Das Ende der Globalisierung – braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell? Wie Unternehmen jetzt die Weichen richtig stellen. München: Prognos, Juni 2020
  35. Buchbesprechungen
  36. David Shambaugh (Hg.): China and the World. New York: Oxford University Press 2020, 394 Seiten
  37. Tingyang Zhao: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2020, 266 Seiten
  38. Campbell Craig/Frederik Logevall: America’s Cold War. The Politics of Insecurity. Second Edition. Cambridge, MA und London: Harvard University Press 2020, 443 Seiten
  39. Christopher Hill: The Future of British Foreign Policy. Security and Diplomacy in a World after Brexit, London: Polity Press 2019, 238 Seiten
  40. Jason Lyall: Divided Armies. Inequality & Battlefield Performance in Modern War. Princeton und Oxford: Princeton University Press 2020, 528 Seiten
  41. Ben Saul/Dapo Akande: The Oxford Guide to International Humanitarian Law. Oxford: Oxford University Press 2020, 480 Seiten
  42. James D. Bindenagel: Germany from Peace to Power. Can Germany lead in Europe without dominating? Bonn: Bonn University Press 2020, 223 Seiten
  43. Bildnachweise
  44. Iran and Israel: The Inevitable War?
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