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Boulègue Mathieu Lutsevych Orysia Resilient Ukraine. Safeguarding Society from Russian Aggression London Chatham House Juni 2020
Mathieu Boulègue, Research Fellow im Forschungsprogramm für Russland und Eurasien und Orysia Lutsevych, Leiterin des Ukraine Forums am Royal Institute for International Affairs (Chatham House), untersuchen, wie Kiew am besten die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Landes wahren beziehungsweise wiederherstellen kann. Die Autoren benutzen dafür den Begriff resilience, womit die Frage gemeint ist, wie dem Land Widerstandskraft, Anpassungsfähigkeit sowie die Fähigkeit verliehen werden können, russischem Druck und Destabilisierungsmaßnahmen Stand zu halten.
Eine weitere damit verbundene Fragestellung bezieht sich darauf, wie ein zunehmendes Auseinanderdriften der Bevölkerung in den von der Regierung nicht kontrollierten Gebieten, also in den Separatisten-„Volksrepubliken“ von Luhansk und Donezk und den Menschen der anderen Landesteile verhindert werden könnte. Zudem untersuchen die Autoren, wie die Chancen für eine spätere Reintegration der abtrünnigen Gebiete verbessert werden könnten.
Der externe Kontext für die Beantwortung dieser Fragen ist die von Putins Russland verfolgte Strategie gegenüber der Ukraine. Diese habe sich, so die Autoren, seit Beginn des akuten Konflikts im Jahr 2014 nicht geändert. Der Kreml sei weiterhin bestrebt, die Ukraine schwach, isoliert und in der einen oder anderen Form unter Kontrolle zu halten. Russland führe einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine und nutze innere Schwachstellen aus, um politische und gesellschaftliche Konflikte zu schüren. Während das von Putin im April 2014 ins Spiel gebrachte Konzept der Wiederherstellung des zaristischen Gouvernements Novorossija (Neurussland) als Infragestellung der territorialen Integrität der Ukraine ad acta gelegt zu sein schien, hätte er diese Bedrohung doch im Dezember 2019 mit der Behauptung bekräftigt, das Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres (Pričernomorja) sei historisch russisches Land.
In den besetzten Gebieten, so Boulègue und Lutsevych weiter, führe der Kreml eine schleichende Integration bestehender Strukturen in einen von ihm erklärten Einflussbereich im postsowjetischen Raum durch. Diese betreffe Wirtschaft, Kultur und Bildung sowie die Ausstattung der Einwohner der besetzten Gebiete mit russischen Pässen im Schnellverfahren. Bisher seien 200.000 russische Pässe im Donbass ausgestellt worden. Die Maßnahmen der Behörden der „Volksrepubliken“ seien langfristig ausgelegt. So werde ideologische Gehirnwäsche von Schulkindern mittels neuer Lehrpläne in Geschichte und „Staatsbürgerkunde“ vorgenommen. Diese enthielten die Erzählungen Russlands, dass die Ukraine letzten Endes aus südrussischen Gebieten zusammengeschustert worden sei und es kein Nationalbewusstsein und keine eigenständige ukrainische Staatlichkeit gebe. Gleichzeitig werde die Schaffung einer lokalen separatistischen Identität betrieben.
Die Darstellung der russischen Zielsetzungen und Maßnahmen sowie der Situation in der Ukraine und den besetzten Gebieten ist ausführlich und überzeugend. Wenn die Autoren dann aber dazu übergehen, die Möglichkeiten und Maßnahmen aufzulisten, um ein Auseinanderdriften der Gesellschaft im Donbass und des ukrainischen Kernlands zu verhindern und eine Reintegration der von Kiew nicht kontrollierten Landesteile zu bewerkstelligen, kann ihnen dieser Rezensent nicht folgen. So schreiben sie, dass die „Krise“ trotz aller widrigen Verhältnisse, „einschließlich der schwerwiegenden Folgen der russischen Aggression, als Chance gesehen werden könnte, die Industrie in der Ostukraine zu modernisieren, in die Verbesserung der Qualität des Humankapitals zu investieren, um ihre um Existenz kämpfenden monoindustriellen Städte zu regenerieren und den Bewohnern des Donbass eine Stadtentwicklung im europäischen Stil zu bieten. Es ist auch eine Gelegenheit, einen integrativeren und nachhaltigeren Ansatz für die regionale Entwicklung zu verfolgen. Kurz gesagt, es ist möglich, aus dieser von Menschen verursachten Katastrophe Resilienz-Dividenden zu schaffen.“
Die Vision, aus der von Russland geschaffenen Katastrophe eine “blühende Landschaft“ zu machen, stimmt hoffnungsfreudig. Wie aber soll das praktisch gehen? Dazu sagen Boulègue und Lutsevych wenig, und was sie vorschlagen, würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an der harten Wirklichkeit der Interessen der Machthaber in den besetzten Gebieten und Moskaus scheitern.
Wie soll beispielsweise bewerkstelligt werden, was die Autoren als gesichert sehen möchten, nämlich, dass im Rahmen einer „breiter angelegten Strategie klar [sic] zwischen den vom Krieg betroffenen Bürgern [einerseits] und Kriegsverbrechern und der örtlichen sogenannten separatistischen Führung [andererseits] unterschieden werden sollte“. Das Problem ist, dass es schwer ist, eine derartige Trennung vorzunehmen und dass an der separatistischen Führung und der hinter ihnen stehenden Emissäre aus Moskau kein Weg vorbeiführt.
Die Autoren meinen auch, dass „die Wiederherstellung des gegenseitigen Vertrauens mit kleinen Schritten beginnen sollte, beispielsweise durch Universitätsverbindungen, bei denen Studenten aus Donezk und Luhansk zum Austausch eingeladen werden oder ihnen akademische Stipendien in der übrigen Ukraine zur Verfügung gestellt werden.“ Das Problem ist hier wiederum, dass derartige Verbindungen von den Machthabern nicht als wünschenswerte Beiträge zur Vertrauensbildung betrachtet werden, sondern als potenzielle Bedrohung und Unterhöhlung ihres Machtmonopols. Sie wollen sicherstellen, dass in ihrem Machtbereich keine belarussischen Verhältnisse entstehen.
Sieht man von den utopischen Visionen ab, ist diese Studie durchaus als eine informative Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im Donbass und dem ukrainischen Kernland zu betrachten. Und während nach Lage der Dinge die äußeren Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklungen in den besetzten Gebieten gering sind, so kann die Ukraine doch, wie die Autoren zeigen, mithilfe eigener Anstrengungen und des Westens ihre Widerstandskraft gegen russischen Druck stärken.
https://www.chathamhouse.org/publication/resilient-ukraine-boulegue-lutsevych
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Die (unvollkommene) Rückkehr der Abschreckung
- Auf der Suche nach politischer Rationalität nuklearer Abschreckung
- Neue Herausforderungen erfordern neue Ideen: Elemente einer Theorie des Sieges in modernen strategischen Konflikten
- Zur Bedeutung von Kernwaffen unter Bedingungen strategischer Rivalität – analytische Denkanstöße
- Iran und Israel: Ist ein Krieg unvermeidlich?
- Kurzanalysen und Berichte
- Erdogan schafft im Windschatten von Corona in Libyen Fakten!
- Geopolitische Folgen und Herausforderungen der Coronakrise für die Ukraine
- Forum – welche Politik ist angesagt gegenüber China und Russland?
- Anregungen zu einer neuen transatlantischen China-Politik
- Russlandpolitik in der Kontroverse
- Russlandpolitik in der Kontroverse
- Ergebnisse strategischer Studien
- Russland
- Sergey Sukhankin: Instruments of Russian Foreign Policy: Special Troops, Militias, Volunteers, and Private Military Enterprises. Washington, D.C.: The Jamestown Foundation, 2019
- Richard Sokolsky/Eugene Rumer: U.S.-Russian Relations in 2030. Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, Juni 2020
- Mathieu Boulègue/Orysia Lutsevych: Resilient Ukraine. Safeguarding Society from Russian Aggression. London: Chatham House, Juni 2020
- Naher Osten
- Peter Salisbury: Risk Perception and Appetite in UAE Foreign and National Security Policy. London: Chatham House, Juli 2020
- Ilan Goldenberg/Elisa Catalano Ewers/Kaleigh Thomas: Reengaging Iran. A New Strategy for the United States. Washington D.C.: CNAS, August 2020
- International Crisis Group: Taking Stock of the Taliban’s Perspectives on Peace. Brüssel, August 2020
- Europäische Sicherheit
- Peter Rudolf: Deutschland, die NATO und die nukleare Abschreckung. Berlin: SWP, Mai 2020
- Jana Puglierin/Ulrike Esther Franke: The big engine that might: How France and Germany can build a geopolitical Europe. Berlin/London: European Council on Foreign Relations, Juli 2020
- Digitale Sicherheit
- Kenneth Geers: Alliance Power for Cyber Security. Washington, D.C.: The Atlantic Council, August 2020
- Daniel Kliman/Andrea Kendall-Taylor/Kristine Lee/Joshua Fitt/Carisa Nietsche: Dangerous Synergies. Countering Chinese and Russian Digital Influence Operations. Washington, D.C.: Centers for a New American Security, Juni 2020
- JD Work/Richard Harknett: Troubled vision: Understanding recent Israeli-Iranian offensive cyber exchanges. Washington D.C.: The Atlantic Council, Juli 2020
- Ökonomische Aspekte des internationalen Wandels
- Bayern LB Research/Prognos: Das Ende der Globalisierung – braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell? Wie Unternehmen jetzt die Weichen richtig stellen. München: Prognos, Juni 2020
- Buchbesprechungen
- David Shambaugh (Hg.): China and the World. New York: Oxford University Press 2020, 394 Seiten
- Tingyang Zhao: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2020, 266 Seiten
- Campbell Craig/Frederik Logevall: America’s Cold War. The Politics of Insecurity. Second Edition. Cambridge, MA und London: Harvard University Press 2020, 443 Seiten
- Christopher Hill: The Future of British Foreign Policy. Security and Diplomacy in a World after Brexit, London: Polity Press 2019, 238 Seiten
- Jason Lyall: Divided Armies. Inequality & Battlefield Performance in Modern War. Princeton und Oxford: Princeton University Press 2020, 528 Seiten
- Ben Saul/Dapo Akande: The Oxford Guide to International Humanitarian Law. Oxford: Oxford University Press 2020, 480 Seiten
- James D. Bindenagel: Germany from Peace to Power. Can Germany lead in Europe without dominating? Bonn: Bonn University Press 2020, 223 Seiten
- Bildnachweise
- Iran and Israel: The Inevitable War?
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
- Editorial
- Editorial
- Aufsätze
- Die (unvollkommene) Rückkehr der Abschreckung
- Auf der Suche nach politischer Rationalität nuklearer Abschreckung
- Neue Herausforderungen erfordern neue Ideen: Elemente einer Theorie des Sieges in modernen strategischen Konflikten
- Zur Bedeutung von Kernwaffen unter Bedingungen strategischer Rivalität – analytische Denkanstöße
- Iran und Israel: Ist ein Krieg unvermeidlich?
- Kurzanalysen und Berichte
- Erdogan schafft im Windschatten von Corona in Libyen Fakten!
- Geopolitische Folgen und Herausforderungen der Coronakrise für die Ukraine
- Forum – welche Politik ist angesagt gegenüber China und Russland?
- Anregungen zu einer neuen transatlantischen China-Politik
- Russlandpolitik in der Kontroverse
- Russlandpolitik in der Kontroverse
- Ergebnisse strategischer Studien
- Russland
- Sergey Sukhankin: Instruments of Russian Foreign Policy: Special Troops, Militias, Volunteers, and Private Military Enterprises. Washington, D.C.: The Jamestown Foundation, 2019
- Richard Sokolsky/Eugene Rumer: U.S.-Russian Relations in 2030. Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, Juni 2020
- Mathieu Boulègue/Orysia Lutsevych: Resilient Ukraine. Safeguarding Society from Russian Aggression. London: Chatham House, Juni 2020
- Naher Osten
- Peter Salisbury: Risk Perception and Appetite in UAE Foreign and National Security Policy. London: Chatham House, Juli 2020
- Ilan Goldenberg/Elisa Catalano Ewers/Kaleigh Thomas: Reengaging Iran. A New Strategy for the United States. Washington D.C.: CNAS, August 2020
- International Crisis Group: Taking Stock of the Taliban’s Perspectives on Peace. Brüssel, August 2020
- Europäische Sicherheit
- Peter Rudolf: Deutschland, die NATO und die nukleare Abschreckung. Berlin: SWP, Mai 2020
- Jana Puglierin/Ulrike Esther Franke: The big engine that might: How France and Germany can build a geopolitical Europe. Berlin/London: European Council on Foreign Relations, Juli 2020
- Digitale Sicherheit
- Kenneth Geers: Alliance Power for Cyber Security. Washington, D.C.: The Atlantic Council, August 2020
- Daniel Kliman/Andrea Kendall-Taylor/Kristine Lee/Joshua Fitt/Carisa Nietsche: Dangerous Synergies. Countering Chinese and Russian Digital Influence Operations. Washington, D.C.: Centers for a New American Security, Juni 2020
- JD Work/Richard Harknett: Troubled vision: Understanding recent Israeli-Iranian offensive cyber exchanges. Washington D.C.: The Atlantic Council, Juli 2020
- Ökonomische Aspekte des internationalen Wandels
- Bayern LB Research/Prognos: Das Ende der Globalisierung – braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell? Wie Unternehmen jetzt die Weichen richtig stellen. München: Prognos, Juni 2020
- Buchbesprechungen
- David Shambaugh (Hg.): China and the World. New York: Oxford University Press 2020, 394 Seiten
- Tingyang Zhao: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2020, 266 Seiten
- Campbell Craig/Frederik Logevall: America’s Cold War. The Politics of Insecurity. Second Edition. Cambridge, MA und London: Harvard University Press 2020, 443 Seiten
- Christopher Hill: The Future of British Foreign Policy. Security and Diplomacy in a World after Brexit, London: Polity Press 2019, 238 Seiten
- Jason Lyall: Divided Armies. Inequality & Battlefield Performance in Modern War. Princeton und Oxford: Princeton University Press 2020, 528 Seiten
- Ben Saul/Dapo Akande: The Oxford Guide to International Humanitarian Law. Oxford: Oxford University Press 2020, 480 Seiten
- James D. Bindenagel: Germany from Peace to Power. Can Germany lead in Europe without dominating? Bonn: Bonn University Press 2020, 223 Seiten
- Bildnachweise
- Iran and Israel: The Inevitable War?