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Quo vadis, deutsche Mittelschicht?

Nils C. Kumkar / Stefan Holubek-Schaum / Karin Gottschall / Betina Hollstein / Uwe Schimank, Die beharrliche Mitte – Wenn investive Statusarbeit funktioniert. Wiesbaden: Springer VS 2022, 337 S., kt., 42,79 €
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Published/Copyright: November 28, 2024
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Nils C. Kumkar / Stefan Holubek-Schaum / Karin Gottschall / Betina Hollstein / Uwe Schimank, Die beharrliche Mitte – Wenn investive Statusarbeit funktioniert. Wiesbaden: Springer VS 2022, 337 S., kt., 42,79 €


Die Frage danach, ob sich die deutsche Mittelschicht in einer Krise befindet, weil sie sich in einer Abstiegsdynamik wiederfindet (Nachtwey, 2016) oder in eine alte und neue Mittelschicht gespalten ist, die sich unversöhnlich gegenüberstehen und einen Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie ihrer Lebensweise führen (Reckwitz, 2017), ist eines der zentralen Themen der Soziologie in den letzten Jahren. Tatsächlich steht viel auf dem Spiel, gilt doch eine breite Mittelschicht mit ausreichend ähnlichen Wert- und Handlungsorientierungen als Garant von gesellschaftlichem Zusammenhalt und Stabilität. Zu dieser Frage liefert das hier besprochene Buch „Die beharrliche Mitte – Wenn investive Statusarbeit funktioniert“ der Autor:innen Nils C. Kumkar, Stefan Holubek-Schaum, Karin Gottschall, Betina Hollstein und Uwe Schimank einen – soviel sei vorweggenommen – wichtigen Beitrag. Am Ende dieser Besprechung wird die Frage zum Zustand der Mittelschicht noch einmal im Kontext der gerade angesprochenen Literatur sowie der Veröffentlichung „Triggerpunkte“ (Mau et. al., 2023) zum Zustand der Gegenwartsgesellschaft aufgegriffen; doch zunächst zum vorliegenden Buch:

Es handelt sich um die Darstellung eines umfangreichen Forschungsprojektes, das auf Basis von 40 narrativ-biographischen Interviews mit einem leitfadengestützten Nachfrageteil Lebensführungsmuster von Mittelschichtsangehörigen explorativ typisiert und im Zuge dessen gleichzeitig die Hypothese testet, ob sich das theoretische Konzept der „investiven Statusarbeit“ als gemeinsamer Nenner biographischer Orientierung empirisch nachweisen lässt. Schon allein diese gelungene Kombination aus explorativem und hypothesentestendem Forschungsdesign macht den Text außerordentlich lesenswert und auch für die Lehre verwendbar, zumal die strategischen Überlegungen zum Vorgehen nachvollziehbar dargestellt werden, ohne dass sich die Autor:innen in methodischen Details verlieren, sondern den Fokus auf die Sinnhaftigkeit der getroffenen Designentscheidungen legen.

Auf Ebene des zu testenden theoretischen Modells ist für die Autor:innen zunächst entscheidend, dass „investive Statusarbeit“ einerseits als eine Handlungspraxis und andererseits als ein Modus der Lebensführung verstanden werden kann (S. 54). Während im Falle der Handlungspraxis einfach kulturelles und/oder ökonomisches Kapital in den Erhalt oder die Verbesserung des eigenen Status im Rahmen einzelner Handlungsmuster investiert wird, unterliegt die Auffassung von investiver Statusarbeit als Modus der Lebensführung sehr viel strikteren Regeln zur empirischen Überprüfung. In diesem Fall nämlich müssen biographische Entscheidungen grundsätzlich mit Perspektive auf eine Verbesserung oder zumindest den Erhalt des sozio-ökonomischen Status getroffen werden. Die zu überprüfende Hypothese lautet nun, dass die Angehörigen der Mittelschichten ihr Leben tatsächlich primär am Erhalt und der Verbesserung ihres Status ausrichten, und nicht, dass sie hin und wieder Praktiken investiver Statusarbeit anwenden.

Das theoretische Modell investiver Statusarbeit (Kap. 2) geht dabei neben der sozialstrukturellen Bedingung, die besagt, dass kulturelles, ökonomisches und soziales Kapital vorhanden sein muss, um in den Status investiert werden zu können, von kulturellen Rahmungen aus, die im Wesentlichen aus zwei Mustern bestehen: Dem Leistungsethos und dem Planungsimperativ. Die Mittelschichten befänden sich also – so die Annahme – in einer Situation, in der sie einerseits im Gegensatz zu den Unterschichten über genügend Kapital verfügten, um durch Investment mehr daraus zu machen können, aber andererseits im Gegensatz zu den Oberschichten nicht so viel Kapital zur Verfügung hätten, dass solche Investitionen überflüssig wären, um den eigenen Status zu halten. Scheiterte das Investment, so drohe der Status zu sinken. Die Mittelschichten hätten also genügend sozio-ökonomischen Spielraum, um etwas zu gewinnen, und gleichzeitig so begrenzte Ressourcen, dass sie etwas verlieren könnten. Diese sozio-ökonomische Ausgangslage träfe auf eine kulturelle Orientierung, die im Sinne Max Webers (1905; 1919) geprägt sei von einer Vorstellung des Lebens als selbst zu verantwortenden Gesamtprojekts (vgl. auch Kohli, 1985), innerhalb dessen langfristige Planung von Nöten ist (Planungsimperativ) und im Rahmen dessen Anerkennung im Wesentlichen durch beruflichen Erfolg sichergestellt wird, für den es sich anzustrengen gilt (Leistungsethos). Innerhalb des theoretischen Modells „Investiver Statusarbeit als Modus der Lebensführung“ sind also die Kapitalausstattung im Sinne Bourdieus und die kulturellen Rahmungen in Form von Leistungsethos und Planungsimperativ die unabhängigen Variablen, die zu bestimmten „Praktiken der Lebensführung“ (abhängige Variable) führen (S. 27). Vermutet wird, dass es sich dabei um „investive Statusarbeit“ handelt, aber das Untersuchungsdesign bleibt offen für die Entdeckung anderer Lebensführungsmodi. Die Autor:innen diskutieren im Rahmen dieses Modells nachvollziehbar das mögliche Zusammenspiel unterschiedlicher Kapitalsorten, kulturelle „Freistellungen“ von investiver Statusarbeit (z. B. aufgrund des Alters) und nicht anerkannte Umgangsweisen mit dem eigenen Kapital (Nicht-Investieren, übervorsichtige Risikoscheu, zu riskantes Investieren). Damit investive Statusarbeit tatsächlich auf Dauer funktioniert, muss, laut dem theoretischen Modell, der Status auch dargestellt werden, um die soziale Anerkennung gleichsam zu realisieren, und es müssen Auszeiten eingebaut werden, in denen sich von der anstrengenden Statusarbeit erholt wird.

Ziel der Studie ist es, eine Typologie von Modi der Lebensführung zu entwickeln und im Zuge dessen zu prüfen, ob das theoretische Modell des „investiven Status als Modus der Lebensführung“ tatsächlich als hegemonialer Modus für die Mittelschichten bezeichnet werden kann. Natürlich lassen sich auf Basis dieser qualitativen Untersuchung keine Aussagen über die quantitative Verteilung unterschiedlicher Lebensführungsmodi in der deutschen Gesellschaft treffen, aber das nach Einkommen und Bildungsabschlüssen geschichtete Sample erlaubt aus Sicht der Autor:innen, meines Erachtens zu Recht, Rückschlüsse auf den Stellenwert investiver Statusarbeit innerhalb der Mittelschichten.

Im Ergebnis differenziert die Studie tatsächlich drei unterschiedliche Modi der Lebensführung, von denen die investive Statusarbeit noch nicht einmal der meist gefundene Modus ist und gehäuft in einer gehobenen Mittelschicht anzutreffen ist, die bis zu 200 % des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens verdient (üblich sind Mittelschichtsdefinitionen, die nur bis zu 150 % des Nettoäquivalenzeinkommens umfassen). Die anderen beiden Typen werden als „gemeinschaftszentrierte Lebensführung“ und als „berufsstolzorientierte Lebensführung“ bezeichnet. Zwar fänden sich bei beinahe allen Interviewpartner:innen, unabhängig davon welchem Modi sie zugeordnet werden, Praktiken investiver Statusarbeit, aber bei den beiden anderen Lebensführungsmodi stünden andere Orientierungen im Zentrum biographischer Entscheidungen (S. 80).

Plausibel wird am Interviewmaterial vorgeführt, dass Menschen mit einer gemeinschaftszentrierten Lebensführung ihrer Integration in lokale Gemeinschaften eine hohe Relevanz zusprechen und ab einer Sicherung eines aus ihrer Sicht angemessenen Lebensstandards auf weitreichende Lebenspläne verzichten. Dieser Verzicht kann durchaus mit einer gewissen Statusbescheidung einhergehen, so dass nicht mehr zwingend Gelegenheiten zum beruflichen Aufstieg wahrgenommen werden, insbesondere dann, wenn dazu ein Wohnortwechsel notwendig wäre. Daher findet sich in dieser Gruppe ein hohes Maß an räumlicher Kontinuität im Lebenslauf, die zwar durch Studium oder Ausbildung unterbrochen werden kann, aber dann häufig durch eine Heimkehr in die Nähe des Geburtsortes aufrechterhalten wird. Im Falle langfristiger Wohnortwechsel ist die aufwendige Integration in neue Gemeinschaften und der Aufbau neuer Freundschaften für diese Menschen wichtig.

Die berufsstolzorientierte Lebensführung liegt deutlich näher am, im Rahmen des theoretischen Konzeptes entwickelten, Idealtypus der investiven Statusarbeit. Die Vertreter:innen dieses Typus orientieren sich biographisch hauptsächlich an einer erfolgreichen Ausbildungs- und Berufstätigkeit. Das Vorankommen in diesen Bereichen hat für sie höchste Relevanz. Allerdings ist das Ziel nicht, höhere Positionen und ein höheres Einkommen zu realisieren, sondern eine Exzellenz in ihrem Tätigkeitsfeld zu erreichen, die durchaus nur von wenigen Expert:innen anerkannt werden muss. Es geht ihnen bei hoher intrinsischer Motivation darum so etwas wie Meisterschaft zu erlangen, während das Modell investiver Statusarbeit als Lebensführungsmodus weniger eine Identifikation mit bestimmten Tätigkeiten selbst vorsieht, als eine Identifikation mit den durch diese Tätigkeit erreichten Statusgewinnen. Auffällig ist, dass nur drei von 40 Personen diesem Typus zugeordnet werden, wobei zwei dieser drei Personen so etwas wie einen Karriereknick im Lebenslauf zu verzeichnen haben – ein ehemaliger professioneller Musiker arbeitet nun als Lehrer und ein Geisteswissenschaftler arbeitet nun nicht mehr an der Universität, sondern als Dozent an einer Volkshochschule. Die recht nahe liegende Interpretation, dass die Fokussierung inhaltlicher Exzellenz im Rahmen dieser Interviews eine Ausweichstrategie darstellt, die biographisch genutzt wird, weil die einfachere sozio-ökonomische Erfolgsgeschichte schlichtweg nicht zur Verfügung steht, wird von den Autor:innen nicht recht in Erwägung gezogen (S. 124). Aus dieser Perspektive würde die Soziogenese des berufsstolzorientierten Typus ein wenig wie eine biographische Abzweigung im Falle scheiternder investiver Statusarbeit wirken. Umgekehrt ist nicht ganz klar, inwieweit das Fehlen intrinsischer Motivationen und inhaltlicher Identifikation mit bestimmten Tätigkeitsfeldern im Falle funktionierender investiven Statusarbeit ein Stück weit der Erhebungsmethode geschuldet ist. Wird im Rahmen narrativer Interviews das Leben als Gesamtheit in den Blick genommen, können die Interviewpartner:innen auf die Darstellung des gestiegenen sozio-ökonomischen Status als allgemein anerkanntes Kriterium eben auch ihrer Exzellenz setzen, um nicht überheblich zu wirken. So könnte im Falle eines Rufes auf eine Universitätsprofessur im Feld der Geisteswissenschaften oder einer Anstellung bei der Berliner Philharmonie (dies wären die hypothetischen sozio-ökonomischen Erfolgsgeschichten der beiden Berufsstolzorientierten) nur noch erwähnt werden, dass dieses Ereignis ja auch die ökonomische Unsicherheit aus 15 Jahren befristeter Beschäftigung beendet. Dass sich dieser Erfolg der hohen Qualität eigener Arbeit und der Identifikation mit den Inhalten der Beschäftigung verdankt, könnte aus Sicht der Erzählperson als selbstverständlich unterstellt werden. Nur wenn eine Steigerung des sozio-ökonomischen Status ausbleibt, liegt es nahe, auf die eigene Exzellenz zu verweisen und in die Erzählung die Differenz zwischen „echter“, guter Arbeit und beruflich-ökonomischen Erfolg, der dann nicht so wichtig sei, zu eröffnen, was offensichtlich alle Vertreter:innen des berufsstolzorientierten Lebensführungsmodus tun. Aus der Biographieforschung ist bekannt, dass solche Differenzierungen sehr wohl aus der biographischen Gegenwart nachträglich in die Vergangenheit eingeschrieben werden können (vgl. Bohnsack, 2008), nach dem Motto „Es war mir schon immer wichtiger gute Arbeit zu leisten als ökonomisch erfolgreich zu sein“. Die nicht-alltägliche Perspektive auf das Leben als Gesamtheit legt die Konstruktion sinnhafter Kohärenz über den gesamten Lebenslauf nahe. Diesen Gedanken einer Reflexion des Einflusses der Erhebungsmethode auf die Ergebnisse gilt es für die abschließende Diskussion zum Zustand der Mittelschichten im Kontext weiterer Veröffentlichungen im Blick zu behalten.

Der Lebensführungsmodus investiver Statusarbeit selbst als empirischer Realtyp wird von den Autor:innen der Studie zuletzt dargestellt. Die Vertreter:innen dieses Typs hätten erfolgreiche berufliche Karrieren zu verzeichnen, auf die sie im Rahmen ihrer Erzählungen fokussieren. Alle anderen Themenfelder wie Familie oder Vergemeinschaftungen treten dahinter zurück. Die biographischen Entscheidungen dieser Personen wären auch im Falle der Anhäufung von kulturellem Kapital in Form von Bildungstiteln an ihrem sozio-ökonomischen Aufstieg ausgerichtet, sofern sie nach einer biographischen Orientierungsphase stattfindet, und es gälte ständig die Augen nach weiteren Optionen für den beruflichen Aufstieg offenzuhalten. Die Autor:innen zeigen am Interviewmaterial, dass die Angehörigen dieses Typs ihren Lebensführungsmodus selbst als anstrengend empfinden und in der Selbstwahrnehmung kaum über Freizeit verfügen. Insgesamt herrsche eine instrumentelle Logik im Umgang mit der Welt vor, die sich nicht nur auf den Umgang mit Aufstiegsoptionen, sondern auch soziale Beziehungen beziehe. Dieser Lebensführungsmodus kenne keinen Sättigungszustand in Bezug auf die Statusambitionen und sei entsprechend des theoretischen Idealtyps auf langfristige Planung angewiesen. Bezüglich der Soziogenese dieses Typs bemerken die Autor:innen, dass in vielen Erzählungen frühere Missachtungserfahrungen thematisiert werden. Aufgrund eher instrumenteller Sozialbeziehungen gibt es kein „natürliches“ Publikum für den Erfolg der Lebensführung, im Gegensatz zu den Berufsstolzorientierten, die sich auf ausgewählte Expert:innen beziehen können, oder zu den Gemeinschaftsorientierten, die sich ihrer Anerkennung in den sozialen Gruppen vergewissern, in die sie integriert sind. Daher würde im Falle investiver Statusarbeit als Lebensführungsmodus eher ein „virtuelles Publikum“ (S. 152) adressiert, vor dem in erster Linie Reichtum präsentiert wird.

Die vorgestellte Typologie ist insgesamt sehr überzeugend und nachvollziehbar aus dem Interviewmaterial entwickelt. Einzig der Status der berufsstolzorientierten Lebensführung wirft die oben angesprochenen Fragen auf, die dieses Muster aber nicht grundsätzlich in Zweifel ziehen. Damit ist ein Bild unterschiedlicher Lebensführungstypen gezeichnet, das die Ausgangshypothese, nämlich dass investive Statusarbeit das hegemoniale Lebensführungsmuster der Mittelschichten darstellt, falsifiziert. Allerdings rekonstruieren die Forscher:innen, dass selbst bei gemeinschaftsorientierter Lebensführung, dem Typus, der am Weitesten von investiver Statusarbeit entfernt ist, nicht auf Praktiken investiver Statusarbeit verzichtet werden kann. So wird bilanziert: „Um Praktiken investiver Statusarbeit kommen Mittelschichtsangehörige – unabhängig von ihrer biographischen Orientierung – offenbar nicht herum“ (S. 175). Dieser Befund wird mit Verweis auf Max Weber und seinem Befund des Zwangs zum Berufsmenschentum theoretisch erklärt (1905), der nach einer Verselbstständigung des Kapitalismus vor dem Hintergrund der protestantischen Ethik entstanden sei. Unterschiedliche Formen dieser investiven Praktiken in unterschiedlichen Arenen sowie die Grenzen investiver Statusarbeit werden ausführlich im vorletzten Kapitel des Buches thematisiert. Hier soll aber im Folgenden die Debatte über den Zustand der deutschen Mittelschichten aufgegriffen werden, die auch im letzten Kapitel von den Autor:innen diskutiert wird.

„Die beharrliche Mitte“ zeichnet insgesamt ein deutlich unaufgeregteres Bild der Mittelschichten als beispielsweise Oliver Nachtwey in „Die Abstiegsgesellschaft“ (2016) oder Andreas Reckwitz in „Die Gesellschaft der Singularitäten“ (2017). Das Bild der Mittelschichtsangehörigen in der hier besprochenen Studie zeigt ein stabiles und in weiten Teilen erfolgreiches Festfesthalten an biographischen Orientierungen, die es den Menschen ermöglichen, ein sinnvolles und aus ihrer Sicht ethisch gehaltvolles Leben zu führen. Diese Beharrungskräfte sehen die Autor:innen fundiert in der Kapitalausstattung und in den noch immer weitgehend gültigen kulturellen Werten von Leistungsethos und Planungsimperativ, die häufig erfolgreiche Praktiken investiver Statusarbeit zeitigen, auch wenn nicht das ganze Leben an einer Verbesserung des sozialen Status ausgerichtet wird. Hier stellt sich die Frage inwieweit die häufigen Gegenwartsdiagnosen, die den Mittelschichten eine tiefe Krise bescheinigen, einfach falsch liegen oder wie diese unterschiedlichen Befunde miteinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Eine Debatte, die in der Zeitschrift „Leviathan“ bereits 2021 mit Beiträgen von Kumkar und Schimank (2021) einerseits und Andreas Reckwitz (2021) andererseits begonnen wurde.

Andreas Reckwitz argumentiert für die Spaltung der Mittelschichten mit einem starken Bezug zu den Differenzierungen, die im Rahmen der Sinus-Milieustudien proklamiert werden. Demnach sei eine einzige wesentliche Differenzierungslinie zwischen den Wertorientierungen einer alten und einer neuen Mittelschicht erkennbar. Die Wertorientierungen der alten Mittelschicht beschreibt Reckwitz wie folgt: „Ein starker Wunsch nach Ordnung, Stabilität, Berechenbarkeit im eigenen Leben und der Gesellschaft insgesamt – der auch mit engen sozialen Bindungen im Nahbereich verknüpft sein kann –, auf der anderen Seite ein Statusinteresse und eine Orientierung an Lebenserfolg und kommodem Lebensstandard. Ordnung und Status – das ist die Doppelformel dessen, was die Mittelklasse traditionellerweise ausmacht“ (Reckwitz 2021, S. 48). Diese Werte würden mehr oder weniger von den Sinus-Milieus der „bürgerliche[n] Mitte“ sowie des „adaptiv-pragmatisch[en]“, des „konservativ-etabliert[en]“ und des „traditionalen Milieus“ (SINUS 2024) repräsentiert. Historisch handele es sich dabei um die Mittelschicht der Industriegesellschaft, wie sie in den 1950er und 60er Jahren entstanden sei. Mit dem Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft schrumpfe diese alte Mittelschicht aber und die Werte hätten ihre gesellschaftlich hegemoniale Stellung verloren.

Hegemonial seien hingegen die Wertorientierungen der neuen Mittelschicht. Hier geht es um Selbstverwirklichung, ein »gutes Leben« und »innere Balance«, Bedeutung von Ethik (Nachhaltigkeit, Ökologie) und Ästhetik, Individualität, Authentizität, Singularisierung des Alltags, Offenheit, Entgrenzung, Kreativität, Liberalität und Diversität (vgl. Reckwitz 2021, S. 38). Diese Orientierungen bezeichnet Reckwitz zusammenfassend als „expressiven Individualismus“. Repräsentiert würden die Werte von den Sinus-Milieus der „Performer“ sowie dem „expeditiven“, dem „sozial-ökologischen“ und dem „liberal-intellektuellem“ Milieu. Entstanden sei diese neue, vermehrt akademisierte Mittelschicht nach und nach durch den Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft. Sie wachse an und die Bedeutung der Wertorientierungen hätte sich von teilweise gegenkulturellen Positionen Ende der 1960er Jahren zu gesellschaftlich hegemonialen Orientierungen gewandelt.

Die Gemeinsamkeit der beiden Mittelschichten bestünde in der investiven Statusarbeit, die bei Reckwitz allerdings nicht in Praktiken und Lebensführungsmodi differenziert wird. Reckwitz bilanziert: „Die entscheidende Differenzlinie zwischen neuer und alter Mittelklasse ist jedoch eine kulturelle: Der Formel expressiver Individualismus und Statusinvestition auf der Seite der neuen Mittelklasse steht die Formel Ordnungsorientierung und Statusinvestition auf der Seite der alten Mittelklasse gegenüber“ (2021, S. 50). Diese beiden gesellschaftlichen Großgruppen begegneten sich vor allem mit gegenseitiger Missachtung: Während die Abgrenzung gegen ein „geistig enges Spießertum“ für die neuen Mittelschichten kennzeichnend sei, herrsche in den alten Mittelschichten eine Distinktion gegenüber „Multikulti“, „Weltverbesserei“ und fortschreitenden Werteverfall, der mit dem Lebensstil der neuen Mittelschichten assoziiert wird.

Diesem diskursiv einflussreichen Bild von in zwei Lager gespaltenen Mittelschichten, das Reckwitz zeichnet, steht das Bild der hier vorgestellten Studie in weiten Teilen entgegen, zumal die Differenzierung der Lebensführungsmodi quer liegt zu der Differenzierung in eine alte und eine neue Mittelschicht. Sprich, es ist unklar ob beispielsweise die Gemeinschaftsorientierten mit ihrem häufigen Blick auf eine ausgeglichene Work-Life-Balance und ihren durchaus als Selbstverwirklichung gerahmten Tätigkeiten bei gleichzeitiger Orientierung an eher traditionalen Vergemeinschaftungsformen eher den neuen oder den alten Mittelschichten zuzurechnen sind. Von daher ist zunächst zu konstatieren, dass „Die beharrliche Mitte“ in der Debatte zum Zustand der deutschen Mittelschichten einen empirisch fundierten Beitrag leistet, der der vorherrschenden Krisendiagnostik entgegenläuft. An dieser Stelle sei noch einmal auf den Einfluss der Methodik zur Datenerhebung verwiesen: Während die Sinusstudien im Wesentlichen Einstellungsbefragungen zu gesellschaftlichen Themen durchführen, die häufig bereits im medialen Diskurs Polarisierungsprozesse durchlaufen haben, sind narrativ-biographische Interviews eher dazu geeignet grundlegende Orientierung bezüglich der Lebensführung offenzulegen. Letztere allerdings zu dem Preis, dass im Rahmen dieses Forschungsdesigns Alltagspraktiken und Distinktionsstrategien eher unterbelichtet bleiben können. Hier wäre den Autor:innen der Studie „Die beharrliche Mitte“ eventuell vorzuwerfen, dass sie ein wenig unbedarft von den Erzählungen ihrer Interviewpartner:innen nicht nur auf deren Lebensführungsmodus, sondern auch auf deren Alltagspraktiken und -haltungen schließen, die meiner Erfahrung nach in Datenmaterial mit einem Fokus auf die Ganzheit des eigenen Lebens eher in den Hintergrund treten (Weidenhaus, 2015). Umgekehrt gilt für die Argumentation von Reckwitz auf Basis der Sinus-Milieus, dass hier eventuell Spaltungen und Gräben postuliert werden, die viel oberflächlicher sind, als behauptet. Tatsächlich spricht für diese Lesart auch die jüngst von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser veröffentlichte Publikation „Triggerpunkte“ (2023). Hier wird eher das Bild einer zerklüfteten Konfliktlandschaft gezeichnet, die sich einerseits an ganz bestimmten Themen polarisiert, aber unter der anderseits auch eine Menge Konsens und Übereinstimmung zu finden sind.

Dem hier besprochenen Buch ist zu wünschen, dass sein Beitrag in der andauernden Debatte um den Zustand der deutschen Mittelschichten präsent bleibt, obwohl es keine dramatische Krisendiagnose liefert. Der Fokus auf Lebensführungsmodi und der Befund, dass diese unaufgeregt und beharrlich von den Angehörigen der Mittelschichten verfolgt werden, ohne dabei hauptsächlich von Ängsten oder kulturellen Distinktionskämpfen getrieben zu sein, macht den Beitrag von Nils C. Kumkar, Stefan Holubek-Schaum, Karin Gottschall, Bettina Hollstein und Uwe Schimank in der Debatte so wertvoll.

Literatur

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Online erschienen: 2024-11-28
Erschienen im Druck: 2024-11-27

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
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  7. Quo vadis, deutsche Mittelschicht?
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  32. Franz Schultheis / Stephan Egger / Charlotte Hüser, Habitat und Habitus: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 275 S., eBook, 74,99 €
  33. Rezensentinnen und Rezensenten des 4. Heftes 2024
  34. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
  35. Gesamtverzeichnis 2024 der besprochenen Bücher
  36. Gesamtverzeichnis 2024 der eingegangenen Bücher
Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2066/html
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