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Soziologisches Orientierungswissen in der COVID 19-Pandemie

Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie: Deutschland nach Corona. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2022, 250 S., br., 19,95 € Kornelia Hahn / Andreas Langenohl (Hrsg.), ‚Öffentliches Leben‘: Gesellschaftsdiagnose Covid-19. Wiesbaden: Springer VS 2022, 274 S., kt., 64,99 € Dennis Krämer / Joschka Haltaufderheide / Jochen Vollmann (Hrsg.), Technologien der Krise: Die Covid-19-Pandemie als Katalysator neuer Formen der Vernetzung. Bielefeld: transcript 2022, 202 S., kt., 29 € Katharina Müller, Vulnerabilität und Ungleichheit in der COVID-19-Pandemie: Perspektiven auf Alter, Geschlecht, sozialen Status und Ethnizität. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2022, 168 S., kt., 24,95 € Manfred Wannöffel / Yves Gensterblum (Hrsg.), Wirtschaft, Arbeit und Leben mit und nach der Corona-Krise. Baden-Baden: Nomos 2022, 182 S., kt., 39 €
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Published/Copyright: November 28, 2024
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Rezensierte Publikationen:

Christoph Butterwegge, Die polarisierende Pandemie: Deutschland nach Corona. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2022, 250 S., br., 19,95 €

Kornelia Hahn / Andreas Langenohl (Hrsg.), ‚ Öffentliches Leben‘: Gesellschaftsdiagnose Covid-19. Wiesbaden: Springer VS 2022, 274 S., kt., 64,99 €

Dennis Krämer / Joschka Haltaufderheide / Jochen Vollmann (Hrsg.), Technologien der Krise: Die Covid-19-Pandemie als Katalysator neuer Formen der Vernetzung. Bielefeld: transcript 2022, 202 S., kt., 29 €

Katharina Müller, Vulnerabilität und Ungleichheit in der COVID-19-Pandemie: Perspektiven auf Alter, Geschlecht, sozialen Status und Ethnizität. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2022, 168 S., kt., 24,95 €

Manfred Wannöffel / Yves Gensterblum (Hrsg.), Wirtschaft, Arbeit und Leben mit und nach der Corona-Krise. Baden-Baden: Nomos 2022, 182 S., kt., 39 €


Gegenstand der vorliegenden Sammelbesprechung sind fünf Bücher zur COVID 19-Pandemie. Die Herausgeber:innen der drei Sammelbände und Autor:innen der zwei Monographien folgen einer soziologischen Perspektive auf die Pandemie, nehmen dabei aber unterschiedliche Aspekte des Sozialen in den Blick. Hahn und Langenohl fragen nach dem Bedeutungswandel, den der „Wirklichkeitsausschnitt ‚Öffentlichkeit‘“ (S. 7, Hervorhebung im Original) pandemiebedingt und technologisch vermittelt erfahren hat. Die sozialwissenschaftliche Technikforschung ist das Feld, in dem der Sammelband von Krämer, Haltaufderheide und Vollmann zu verorten ist. Ihr Interesse gilt den Wissensbeständen hinter der Technik der Krise. Der dritte Sammelband von Wannöffel und Gensterblum ging aus einer Ringvorlesung hervor, die im Wintersemester 2020/21 an der Ruhr-Universität Bochum stattfand und verfolgt mit dieser das Ziel, „die tieferliegenden Dynamiken von sozialen und politischen Prozessen infolge der Corona-Pandemie ursächlich zu verstehen“ (S. 13). Entsprechend ihrer weit gefassten Erkenntnisziele weisen die drei Sammelbände einen ausgeprägt interdisziplinären Charakter auf. Für den letztgenannten Band kommt hinzu, dass in ihm nicht nur Stimmen aus der Wissenschaft zu Wort kommen. Gegenstand der beiden Monographien sind soziale Ungleichheitsverhältnisse. Butterwegge behandelt sie im Zusammenspiel mit wohlfahrtsstaatlichen Arrangements und Müller fragt nach der Verteilung von Gesundheit über unterschiedliche Bevölkerungsgruppen hinweg. Dieses weite Spektrum an Fragestellungen, die ihre Bezugnahme auf die COVID 19-Pandemie unter Einnahme einer soziologischen Perspektive eint, in einer Abhandlung gemeinsam zu besprechen, ohne eine Aneinanderreihung von Einzelbesprechungen vorzulegen, ist einigermaßen herausfordernd und erfordert einen abstrakten Bezugspunkt. Als einen solchen setze ich einen Hinweis Hans-Peter Müllers, dass die Soziologie „wie keine zweite Wissenschaft im Verein mit anderen Disziplinen in der Lage [ist], auch Orientierungswissen für die Gesellschaft (...) bereitzustellen“ (Müller, 2018, S. 474, Hervorhebung im Original). Es geht konkret um Diagnosen der Zeit, die stets Deutungen sind und „Deutung heißt stets, das analytisch und empirisch gewonnene Wissen zu synthetisieren und die Erkenntnisse interpretativ zu verdichten“ (Müller, 2018, S. 469).

Hahn und Langenohl ist es gelungen, Beiträge in ihrem Sammelband „‚Öffentliches Leben’: Gesellschaftsdiagnose Covid-19“ zu vereinen, die die Bestimmung von Öffentlichkeit in der Pandemie und damit auch das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit auf eine Art und Weise reflektieren, die das scheinbar Bekannte in einem neuen Licht erscheinen lässt. Sie selbst charakterisieren den Sammelband wie folgt: „Der Band arbeitet die Chiffre des ‚öffentlichen Lebens‘ anhand seiner pandemiebedingten massiven Einschränkung als gesellschaftspolitischer Tatbestand wie auch in seinen technologiebasierten Transformationen in empirischer und theoretischer Weise gegenwartsdiagnostisch auf“ (S. 1, Hervorhebung im Original). Allerdings streben sie nicht eine „abgeschlossene Gesellschaftsdiagnose Covid-19“ an, sondern wollen vielmehr „für den Wirklichkeitsausschnitt ‚Öffentlichkeit‘ fruchtbare Diskussionsaspekte (...) erarbeiten“ (S. 7, Hervorhebung im Original). Die zu diesem Zweck versammelten neun Beiträge lassen sich um drei Fragestellungen gruppieren. Die erste gilt den pandemiebedingten Veränderungen politischer, rechtlicher und technologischer Art und deren Einfluss auf „Bedeutungen und Bedeutsamkeit von öffentlichem Leben“ (S. 7). Gegenstand der zweiten Frage ist das Verhältnis von Öffentlichkeit und anderen gesellschaftlichen Kontexten - insbesondere Intimität, Privatheit und Recht. Die dritte Frage schließlich gilt der Moralisierung des öffentlichen Lebens in seiner Vielfältigkeit und der Hierarchisierung dieser Vielfältigkeit. Eine Antwort auf die erste Frage gibt der Literaturwissenschaftler Niels Werber. Er zeigt am Beispiel des Virologen Christian Drosten das „Diabolische der Wissenschaftskommunikation“ auf - so ein Teil des Titels seines Beitrags. Systemtheoretisch angeleitet konzipiert er Gesellschaft als ein Nebeneinander gesellschaftlicher Subsysteme, deren Verhältnis zueinander durch das Prinzip der funktionalen Differenzierung geregelt ist. Wissenschaft als eines dieser Subsysteme ist der Ort, an dem der Wissenschaftler Christian Drosten zu verorten ist. Durch die Pandemie ist das Interesse an Drosten immens angestiegen, doch folgte dieses Interesse, so das Argument Werbers, nicht der Funktionslogik des Wissenschaftssystems, sondern vielmehr der des politischen Systems. Diesen Prozess, in dem die Verleihung eines einmaligen „Sonderpreises für herausragende Kommunikation der Wissenschaft in der COVID19-Pandemie“[1] bedeutsam ist, zeichnet Werber unter Rückgriff auf verschiedene Wortmeldungen Drostens in unterschiedlichen Medien nach. Er identifiziert dabei eine „Popularisierung erster Ordnung“ (S. 59) im Bereich der Wissenschaftskommunikation, für die Drosten ausgezeichnet wurde. Wissenschaftliche Kommunikation tritt dagegen in den Hintergrund. Während in der Wissenschaftskommunikation der ‚Reputationscode‘ (Luhmann, 1992, zitiert nach Werber, 2022, S. 47) gilt, gilt in der wissenschaftlichen Kommunikation der Wahrheitscode. Und darüber, was Reputation erbringt, wird nicht nach wissenschaftlicher Maßgabe entschieden, sondern in diesem Fall nach politischer. Die Analyse Werbers lässt sich durchaus als ein Hinweis lesen, dass das politische System das Funktionssystem der Wissenschaft in der Pandemie quasi gekapert hat. Man könnte ihm mit einer weiteren systemtheoretisch angeleiteten Deutung aber auch entgegenhalten, dass die Ursächlichkeit eine andere ist. In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) schreibt Rudolf Stichweh: „(...) in der Corona-Krise ist historisch erstmals das Krankheitssystem [zu dem sich das Gesundheitssystem in der Pandemie wandelte, die Autorin] das Ganze der Gesellschaft“ (2020, S. 9). Unabhängig davon, welchem Deutungsangebot man sich anschließen mag, beide machen eines deutlich: In der Pandemie wurde das für die systemtheoretische Sicht auf das Soziale unhintergehbare Prinzip funktionaler Differenzierung aufgehoben. Diese spezifische Sicht auf die Welt ist eine eurozentristische, die möglicherweise selbst aufgrund einer Verquickung von Wissenschaft und Politik allgegenwärtig ist.

Während meines Schreibens an der vorliegenden Besprechung ist in Die ZEIT (2024) ein Interview mit Christian Drosten erschienen, in dem er von einer Begebenheit aus dem Sommer 2020 berichtet. Als er mit seiner Familie eine Nacht auf einem Campingplatz in der Nähe von Berlin verbrachte, wurde er von anderen Anwesenden verbal angegriffen. Dieser Vorfall zeigt ebenfalls, dass die funktionale Differenzierung in der Pandemie kein gesellschaftliches Strukturprinzip gewesen ist. Er zeigt aber auch, wie verhängnisvoll es sein kann, an die Gültigkeit dieses Prinzips zu glauben. In der Gerichtsverhandlung, die im April dieses Jahres im Nachgang der Geschehnisse stattgefunden hat, zeigte sich, dass das Ehepaar, das nun unter anderem wegen Verleumdung angeklagt ist, Verschwörungstheorien und der Reichsbürgerszene nahesteht (DIE ZEIT, 2024).

In der von Alan Schink vorgestellten Deutung der Pandemie befördert „die biomedizinisch-technische und auf Sicherheit fokussierte Krisenbewältigung autoritäre und homogenisierende Diskurse und Praktiken von ‚Gesundheit‘ und ‚Leben‘“ (Schink in Hahn & Langenohl, S. 174, Hervorhebung im Original), welche wiederum in ein „Hygieneregime“ (Schink in Hahn & Langenohl, S. 174) eingebettet sind, innerhalb dessen, hier verweist Schink auf Giorgio Agamben, die Bevölkerung auf Gesundheit verpflichtet wird. Dabei geht es nicht um die Gesundheit des Einzelnen, sondern um die eines Kollektivs. In gewisser Hinsicht lässt sich dieses Hygieneregime mit dem Hinweis Stichwehs (2020) verbinden, dass das Gesundheitssystem bzw. das Krankheitssystem das Ganze der Gesellschaft darstellt. Das Hygieneregime wie die es begleitenden autoritären und homogenisierenden Diskurse und Praktiken laden zu Gegen-Narrativen ein, in welchen es „oftmals weder semantisch noch im wörtlichen Sinne um Verschwörungstheorien geht“ (Schink in Hahn & Langenohl, S. 175). Und dennoch werden sie in „politisch-leitmedialen Debatten in der Semantik von ‚Verschwörungstheorien‘ markiert und dadurch performativ aus ‚rationalen‘ politischen, journalistischen oder akademischen Diskursen ausgeschlossen“ (Schink in Hahn & Langenohl, S. 175, Hervorhebung im Original). Es fällt in der Folge des Textes nicht schwer, Schink bis zu jenem Argument zu folgen, das besagt, dass die Akteure aus der Bewegung der Querdenker einer Re-Interpretation bedürfen: „Das ‚Innenleben‘ und die ‚eigene‘ wie auch unverfügbare Sphäre des Menschen wird offenbar in vielen der dargelegten Lebensentwürfe als wichtiger Wert betrachtet - und dem außen-geleiteten vermeintlich alternativlosen Fortgang der ‚Megamaschine‘ entgegengestellt“ (Schink in Hahn & Langenohl, S. 216, Hervorhebung im Original). Und dennoch bleibt offen, warum es eine Nähe gibt zwischen Anhängern von Gegen-Narrativen in der Pandemie und menschenverachtenden, nationalistischen, rassistischen und rechtsextremen Positionen. Die Andeutung, dass diese Nähe begrifflich hergestellt wird durch die Analogie von Corona- und Holocaust-Leugnern (Schink in Hahn & Langenohl), mag ich nicht glauben.

Das Wunderbare an dem Sammelband von Hahn und Langenohl ist, dass die einzelnen Beiträge sich vortrefflich verbinden lassen. An dieser Stelle könnte man nun sehr schön weiterlesen, was Dirk H. Medebach über Kinder-Figurationen in der Pandemie schreibt - um Kinder kreisten die Gespräche auf dem Campingplatz in der Nähe von Berlin auch (DIE ZEIT, 2024). Ich habe mich entschieden, an dieser Stelle auf den Beitrag von Doris Schweitzer einzugehen. Die Soziologin geht anhand der ‚juridischen‘ Debatten zum Problem des Datenschutzes bei der Corona-Warn-App (CWA) der Frage nach, inwiefern in den Debatten eine Verschiebung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Privatheit nachzuzeichnen ist und kommt zu dem Ergebnis, dass es zu einer solchen gekommen ist, hin zu einer „bestimmten Reaktualisierung von Aspekten des klassisch-bürgerlichen Verständnis(es) von Öffentlichkeit und Privatheit“ (Schweitzer in Hahn & Langenohl, S. 154). Hierfür zeigt sie zunächst auf, wie die Bestimmung von Privatheit im jeweiligen historischen und geographischen Kontext und auch nicht ohne Betrachtung des technischen Wandels zu sehen ist (S. 155). Die Festlegung auf ein „körperlich-räumliches Phänomen der Abtrennung und Distanznahme, in der das Private vom Öffentlichen über einen Schutzraum geschieden wird“ (S. 155), lässt sich mit dem digitalen Wandel nicht mehr beibehalten. Hierfür sind zwei Gründe ausschlaggebend. Zum einen ist der Staat nicht mehr der zentrale Akteur, gegen den Privatheit zu verteidigen ist. Es sind mächtige Akteure aus der Privatwirtschaft hinzugekommen, deren Handlungsmacht in die Bestimmung des Verhältnisses von Privatheit und Öffentlichkeit einzuholen ist. Zum anderen sind Informationen aus dem Bereich der Privatheit im Internet allgegenwärtig. Beides bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Neubestimmung von Privatheit. Der theoretische Zugriff auf sie darf sich erstens nicht verengen auf die Dichotomie von Individuum und Staat und zweitens kann das Private in der Allgegenwärtigkeit des Netzes „nicht als Rückzugsraum konzipiert werden, vielmehr geht es um das selbstbestimmte Leben innerhalb dieses Sozialraumes“ (S. 156). In beide Richtungen wurden in den öffentlichen Debatten, den wissenschaftlichen wie auch rechtlichen Entwicklungen in den Jahren vor der Pandemie Fortschritte erzielt, die mit der Pandemie, mit dem mit ihr verbundenen Hygieneregime (Schink in Hahn & Langenohl) und der Allgegenwart des Politischen (Werber in Hahn & Langenohl) zurückgenommen wurden. Schweitzer arbeitet in den juridischen Debatten um das Problem des Datenschutzes im Zusammenhang mit der Corona-Warn-App eine Reterritorialisierung der Privatsphäre heraus und eine Blindheit gegenüber Unternehmen der Privatwirtschaft in den Debatten um Datenschutz. Beides, die Reterritorialisierung als ein Festmachen von Privatheit am individuellen Körper, und das unhinterfragte Agieren von Konzernen wie Apple und Google, den „Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus“ (Brachem, Krämer, D’Angelo & Haltaufderheide in Krämer, Haltauferdheide & Vollmann, S. 175) werfen die Frage auf, „wie sehr der Zugriff auf den Körper in Zukunft privatisiert werden wird“ (S. 162).

Schweitzers Beitrag ist nicht nur als ein Beitrag zu der Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit zu lesen, sondern auch einer zu der Frage nach den Technologien der Krise, so der Titel des von Krämer, Haltaufderheide und Vollmann herausgegebenen Sammelbandes. Als Technologien der Krise gelten ihnen das „konstitutive Wissen hinter der Materialität von Technik“ (Krämer, Haltaufderheide & Vollmann in dies., S. 11). Genauer: „Mit Blick auf die COVID-19-Pandemie interessiert uns vor allem die Frage, wie pandemische Ordnungsweisen generiert werden, welche epidemiologischen Taxonomien ihnen zugrunde liegen, wie sie sich als Algorithmen ausdrücken, wie sich Menschen im Rahmen einer prozessierenden Selbstverdatung klassifizieren und auf Abstand bringen, wie das Teilen von Daten im Kulturvergleich wahrgenommen wird und welche gesellschaftlichen Herausforderungen mit ihrem Einsatz einhergehen. Uns geht es also weniger um eine Beschreibung der technischen Dinge als Akteurinnen im interaktiven Vollzug, als vielmehr um die Technologie, die wir als Wissen und Wissenschaft hinter der Technik verstehen“ (Krämer, Haltaufderheide & Vollmann in dies., S. 11). Antworten auf diese Fragen werden auf drei Ebenen vorgelegt, nach denen sich die Oberkapitel des Sammelbandes gliedern: einer theoretischen, einer normativen und einer empirischen. Die Beitragenden entstammen unterschiedlichen Disziplinen wie der Medizinethik, der Philosophie und der Soziologie. Den Einstieg in den Sammelband bildet ein Beitrag von Markus Bohlmann. Der Beitrag ist dem theoretischen Abschnitt zugehörig und beleuchtet unter einer technikphilosophischen Perspektive den Distanzunterricht in der Pandemie. Der Beitrag profitiert sicherlich davon, dass der Autor mehrere Jahre als Lehrer tätig war, dieses Tätigsein bis in die Pandemie hineinreichte, es den Aufbau erster Tablet-Programme und die Entwicklung der Schul-Cloud des Hasso-Plattner-Instituts, die sogenannte HPI-Cloud, umfasste. Diese Tools und auch Videokonferenzsysteme wie Zoom erörtert er mit Blick auf die mit ihnen einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen und die Möglichkeiten, „die Technologien selbst in eine humanere Richtung“ (Bohlmann in Krämer, Haltaufderheide & Vollmann, S. 23) zu entwickeln. Theoretisch angeleitet werden seine Überlegungen durch zwei Theoriestränge: die Critical Theory of Technology und die Postphänomenologie. Während erstere, so sein Argument, Technologien verstehbar macht, die in der strukturellen Umwelt des Menschen zu lokalisieren sind, er schlägt hierfür den Begriff der „distale(n)“ Technologie vor, ermöglicht die Postphänomenologie einen Zugriff auf „proximale Technologien, die vom Menschen aus verstanden werden müssen“ (Bohlmann in Krämer, Haltaufderheide & Vollmann, S. 23). Während Tablet-Programme und Schul-Clouds distale Technologie sind, sind Videokonferenzsysteme proximale Technologien. Begrifflich-analytisch fängt der Beitrag an dieser Stelle an, problematisch zu werden. Wie können Tablet-Programme Technologien sein, wenn Technologien einleitend definiert werden „als Wissen und Wissenschaft hinter der Technik“ (Krämer, Haltaufderheide & Vollmann in dies., S. 11). Doch ist nicht allein die begrifflich-analytische Rahmung des Beitrags in einer Schieflage, die theoretische ist es ebenfalls. Sowohl die am frühen Marx ansetzende sozialwissenschaftliche Technikforschung, zu der Bohlmann die Critical Theory of Technology zählt, wie auch die in der phänomenologischen Theorietradition stehende Technikforschung betrachten Technik als endogene gesellschaftliche Größe (Rammert, 2016), so dass die Unterscheidung von Technologien, die vom Menschen her zu denken sind und solchen, die es nicht sind, letztendlich nur möglich ist unter Aufrechterhaltung der Dichotomie von Individuum und Gesellschaft, was wiederum der im Sozialkonstruktivismus von Berger und Luckmann eingelagerten Dialektik, die auch für Bohrmann wichtig zu sein scheint, zuwiderläuft. Letztendlich präsentiert Bohrmann einige sehr interessante Gedanken, doch die Schlüssigkeit ist fraglich und der Krisenbezug fehlt. Dieser fehlt auch im folgenden Beitrag von Harth.Krämers Beitrag verharrt nach der Lektüre Schweitzers an der Oberfläche digitaler Selbstverdatung. Sehr gut weiterdenken lässt sich Schweitzers Blick auf das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit dagegen mit dem Beitrag von Brachem, Krämer, d’Angelo und Haltaufderheide zur Rolle von Google und Apple in der Pandemiebekämpfung. Die Autor:innen weisen darauf hin, dass diese weltweit auf Begeisterung und auch auf Verwunderung stieß. Sie zeigen aber auch, dass dies vielleicht gar nicht so verwunderlich ist, wenn man den Selbstbekundungen der beiden Unternehmen folgt, was ihre Motivation hierzu betrifft. Schenkt man ihnen Glauben, ist ihre Motivation am Gemeinwohl orientiert (S. 176). Dieser Glaube mag das Verschwinden von Apple, Google und Co aus den Debatten um Datenschutz erklären (Schweitzer in Hahn & Langenohl), kann aber nicht unkritisiert bleiben, identifiziert man sie als das, was sie eben sind: „Leitunternehmen des digitalen Kapitalismus“ (Brachem, Krämer, D’Angelo & Haltaufderheide in Krämer, Haltauferdheide & Vollmann, S. 175), die zu Kooperationspartnern im Bereich der Gesundheitspolitik werden. Der gedankliche, politische wie auch technische Weg zu Zukunftsszenarien, in denen der Zugriff auf den Körper privatisiert wird (Schweitzer in Hahn & Langenohl), ist ein kurzer.

Dass die Themen wiederkehrende sind, verdeutlichen auch zwei Beiträge aus dem dritten der besprochenen Sammelbände von Wannöffel und Gensterblum. Der Historiker und Referent im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Stefan Müller schließt seinen Beitrag zu Krisendeutungen im 20. Jahrhundert mit der Folgerung, dass „das Virus und die Pandemie sowie die Maßnahmen gegen diese (...) neue Möglichkeitsräume, die nicht so einfach wieder zu schließen sein werden, (eröffnen), einschließlich einer politisch-ökologischen Kritik an unserer Wirtschaftsweise“ (S. 29). Der Makroökonom Michael Roos geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Faktoren die Transformationsfähigkeit von Unternehmen bestimmen. Die Transformationsfähigkeit in der Pandemie ist dabei nur ein Aspekt. Digitaler Kapitalismus und Klimawandel sind weitere Entwicklungen, die die Transformationsfähigkeit der Wirtschaft erfordern und diese wiederum ist gebunden an die Resilienz der Unternehmen (Roos in Wannöffel & Gensterblum).

In den von Butterwegge und Müller vorgelegten Monographien geht es um soziale Ungleichheiten. Butterwegge analysiert soziale Ungleichheitsverhältnisse im wohlfahrtsstaatlichen Arrangement, legt den Verlauf der Pandemie dar und gibt einleitend einen historischen Überblick zum Zusammenspiel von Seuchen, Sozialstruktur und politischer Kultur. Der durch die historische Perspektive mögliche diachrone Vergleich zeigt, dass von Armut betroffene Bevölkerungsgruppen regelmäßig stärker unter Seuchen und Pandemien leiden. Deutlich wird aber auch, dass bereits in der Vergangenheit Seuchen und Pandemien mit Stigmatisierungsprozessen und unwissenschaftlichen Schuldzuweisungen einhergingen. Diesen Aspekt greift Butterwegge auch im Folgekapitel auf, in dem er den Verlauf der Pandemie in Deutschland nachzeichnet. Auch hier greift er auf historisches Fachwissen zurück, wie das des Historikers Malte Thießen, der meint: ‚Seuchen waren in der Vorstellung vieler Deutscher nicht nur ein Problem der Anderen, sondern zugleich ein Relikt grauer Vorzeiten, das nichts mit unserem Leben zu tun hat‘ (Thießen, 2021, zitiert nach Butterwegge, 2022, S. 38). Auch die von soziologischer Seite durch Reinhold Sackmann erfolgte Analyse von Otheringsprozessen greift Butterwegge auf. Das eigentliche Gewicht seiner Analyse liegt jedoch auf der objektiven Dimension von sozialen Ungleichheitsverhältnissen, denen die beiden Hauptkapitel des Buches gewidmet sind. In ihnen geht er auf die Bedeutung der Pandemie für wirtschaftliche, soziale und politische Verwerfungen und ihren Einfluss auf Geschlechter- und Generationenverhältnisse ein. Hier kommt die These Butterwegges, dass die Pandemie zur Polarisierung der Gesellschaft beigetragen hat, zum Tragen. „Weil die Corona-Krise ein sozioökonomischer und politisch-ideologischer Spaltpilz war, legte sie auch lange verschüttete Klassenstrukturen der Gesellschaft offen“ (S. 87). Um diese These zu verdeutlichen, stellt er zunächst Ungleichheitsverhältnisse vor der Pandemie dar. Erst durch diese wird das Virus zum Ungleichheitsvirus (Butterwegge, 2021; vgl. auch Oxfam, 2021). Von diesem Gedanken ausgehend fragt auch Müller nach den Folgen der COVID 19-Pandemie und macht zu dieser Thematik eine Forschungslücke aus: „Die unterschiedliche Betroffenheit durch die COVID-19-Pandemie und durch die ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen steht im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes. Während Teilaspekte dieses Themas seit März 2020 in einer großen Vielzahl von Fachaufsätzen unterschiedlichster Disziplinen behandelt wurden, ist im deutschsprachigen Raum hierzu bislang noch keine Monographie vorgelegt worden“ (S. 16). Ihr Interesse gilt neben sozialen Ungleichheiten dem Sachverhalt der Vulnerabilität. Ihre Vorstellung beider Konzepte weist analytische Schwächen auf und letztendlich wird nicht klar, wofür Müller das Konzept der Vulnerabilität benötigt. Nichtsdestotrotz kann sie - wie auch Butterwegge - zeigen, dass soziale Ungleichheiten in Folge der Pandemie verstärkt werden. Merkmale, für die sie die verstärkte negative Betroffenheit von sozialer Ungleichheit auf der Grundlage einer Literaturdurchsicht nachweist, sind die Merkmale Alter, Geschlecht, sozialer Status und Ethnizität. Sowohl Müller als auch Butterwegge weisen auf die Verwobenheit der ungleichheitsrelevanten Merkmale hin und versuchen sich damit in die Nähe einer verkürzt gedachten intersektionalen Perspektive auf soziale Ungleichheitsverhältnisse zu bringen. Müllers Arbeit endet an dieser Stelle. Butterwegge fragt dagegen nach den Chancen, die sich aus der Pandemie und der aus ihr resultierenden Folgen für Ungleichheitsverhältnisse und gesellschaftliche Desintegrationsprozesse ergeben. Seine Antwort liegt in der gewerkschaftlichen Deutung einer sozial-ökologischen Transformation, die in eine Weiterentwicklung des „Bismarck’schen Sozialversicherungsstaat(s)“ (S. 226) zu einem „inklusiven Sozialstaat“ (S. 226) liegt und soziologisch wenig Neues bietet.

Hans-Peter Müller sieht das Orientierungswissen, das die Soziologie wie keine andere Disziplin bieten kann, in der Tradition einer metaphysischen Soziologie im Sinne Georg Simmels. Demnach hat das Orientierungswissen der Soziologie immer einen metaphysischen Charakter. Gesellschaftstheoretische Anleitung und methodische Strenge ermöglichen es, den metaphysischen Charakter des Orientierungswissens gering zu halten (Müller, 2018). Theoretische Anleitung, methodische Strenge, Synthese bestehender Erkenntnisse und darauf aufbauend Orientierung in der Krise bieten die besprochenen Titel in unterschiedlichem Maße. Sie weisen aus meiner Sicht jedoch allesamt darauf hin, dass ein tieferes Verständnis der Art des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Virus nicht ohne die Berücksichtigung der spezifischen ökonomischen Gegebenheiten des digitalen Kapitalismus zu haben ist.

Literatur

Butterwegge, C. (2021). Die polarisierende Pandemie. Blätter für deutsche und internationale Politik, 3, 45–48.Search in Google Scholar

Drosten, C. (2024, 25. April). Ich werde nicht nochmal die Polizei holen. DIE ZEIT, S. 16.Search in Google Scholar

Müller, H.-P. (2018). Soziologie und ihre Forschungsgestalt. SOZIOLOGIE, 47(4), 462–476.Search in Google Scholar

Oxfam. (2021). The Inequality Virus. Bringing togehter a world torn apart by coronavirus through a fair, just and sustainable economy. Abgerufen von: https://www.oxfam.de/system/files/documents/the_inequality_virus_-_english_full_report_-_embargoed_00_01_gmt_25_january_2021.pdf [03.05.2024] Search in Google Scholar

Rammert, W. (2016). Technik - Handeln – Wissen. Zu einer pragmatistischen Technik- und Sozialtheorie. Springer VS.10.1007/978-3-658-11773-3Search in Google Scholar

Stichweh, R. (2020, 7. April). Simplifikation des Sozialen. Die Corona-Pandemie und die Funktionssysteme der Weltgesellschaft. Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 9. 10.1515/9783839454329-020Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-11-28
Erschienen im Druck: 2024-11-27

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Zur Herausforderung, die Lebensführung heterogener Mittelschichten zu erforschen
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  7. Quo vadis, deutsche Mittelschicht?
  8. Essay
  9. In welcher Soziologie arbeiten (und leben) wir? Eine Einladung.
  10. Datenwissenschaften als Zwischenraum
  11. Sammelbesprechung
  12. Soziologisches Orientierungswissen in der COVID 19-Pandemie
  13. Disability Studies, Teilhabeforschung und die Soziologie – „Behinderung“ im Spannungsfeld von (Inter-)Disziplinarität und Politisierung
  14. Doppelbesprechung
  15. Perspektiven auf sozialen Zusammenhalt
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  18. Christine Wimbauer, Co-Parenting und die Zukunft der Liebe: über post-romantische Elternschaft. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 298 S., kt., 29,00 €
  19. Einzelbesprechung Feminismus
  20. Katharina Hoppe, Donna Haraway zur Einführung. Hamburg: Junius 2022, 228 S., kt., 15,90 €
  21. Einzelbesprechung Islamischer Religionsunterricht
  22. Anna Körs (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht in Deutschland: Ein Kaleidoskop empirischer Forschung. Wiesbaden: Springer VS 2023, 188 S., eBook, 64,99 €
  23. Einzelbesprechung Organisationssoziologie
  24. André Kieserling / Martin Weißmann (Hrsg.), Organisierte Grenzrollen: Außendienst und Publikumskontakte in soziologischer Perspektive. Wiesbaden: Springer VS 2023, 432 S., eBook, 59,99 €
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  26. Robert Gugutzer, Das Pathos des Sozialen: Beiträge zur Neophänomenologischen Soziologie. Weilerswist: Velbrück, 2023, 300 S., kt., 29,90 €
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  28. Andreas Zick / Beate Küpper / Nico Mokros (Hrsg.), Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland. Bonn: J. H. W. Dietz Verlag 2023, 424 S., kt., 17,00 €
  29. Einzelbesprechung Sportsoziologie
  30. Karl-Heinrich Bette / Felix Kühnle, Flitzer im Sport: Zur Sozialfigur des Störenfrieds. Bielefeld: transcript 2023, 202 S., kt., 29,50 €
  31. Einzelbesprechung Visuelle Soziologie
  32. Franz Schultheis / Stephan Egger / Charlotte Hüser, Habitat und Habitus: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 275 S., eBook, 74,99 €
  33. Rezensentinnen und Rezensenten des 4. Heftes 2024
  34. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
  35. Gesamtverzeichnis 2024 der besprochenen Bücher
  36. Gesamtverzeichnis 2024 der eingegangenen Bücher
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