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Disability Studies, Teilhabeforschung und die Soziologie – „Behinderung“ im Spannungsfeld von (Inter-)Disziplinarität und Politisierung

Anne Waldschmidt, Disability Studies zur Einführung. Hamburg: Junius 2020, 226 S., br., 15,90 € Anne Waldschmidt (Hrsg.), Handbuch Disability Studies. Wiesbaden: Springer VS 2022, 531 S., kt., 109,99 € David Brehme / Petra Fuchs / Swantje Köbsell / Carla Wesselmann (Hrsg.), Disability Studies im deutschsprachigen Raum: Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Weinheim: Beltz Juventa 2020, 278 S., br., 29,95 € Gudrun Wansing / Markus Schäfers / Swantje Köbsell (Hrsg.), Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Wiesbaden: Springer VS 2022, 543 S., 42,79 €
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Published/Copyright: November 28, 2024
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Anne Waldschmidt, Disability Studies zur Einführung. Hamburg: Junius 2020, 226 S., br., 15,90 €

Anne Waldschmidt (Hrsg.), Handbuch Disability Studies. Wiesbaden: Springer VS 2022, 531 S., kt., 109,99 €

David Brehme / Petra Fuchs / Swantje Köbsell / Carla Wesselmann (Hrsg.), Disability Studies im deutschsprachigen Raum: Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Weinheim: Beltz Juventa 2020, 278 S., br., 29,95 €

Gudrun Wansing / Markus Schäfers / Swantje Köbsell (Hrsg.), Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Wiesbaden: Springer VS 2022, 543 S., 42,79 €


1 Einleitung: Das Konzept „Behinderung“ und die wissenschaftlichen Disziplinen

Dieser Sammelbesprechung liegt die These zugrunde, dass es sich bei „Behinderung“ um eine in besonderem Maße politisierungsfähige und -bedürftige Kategorie handelt. Politik meint hier: Es geht um Macht, Deutungsmacht einerseits, und Macht über Ressourcen andererseits. Wissenschaften spielen primär im ersten Feld mit, aber natürlich auch im zweiten. Entscheidend ist dafür ein möglichst überzeugendes ontologisches Kriterium von „Sein oder Nicht-Sein“, im bekannten Doppelsinn von Existenz und Wesen(serkenntnis). Wer (vermeintlich) am meisten zu „Sein oder Nicht-Sein“ beizutragen hat, erhält den Zuschlag. Besonders deutlich ist das im Fall der Medizin, an die man natürlich bei dem Stichwort „Behinderung“ als erstes denkt. Hier geht es sogar realiter um Sein, nämlich um menschliches Leben, das sein soll, aber auch, im Sinne einer negativen Ontologie, um Krankheit, die nicht sein soll. Vor allem in letzterer Hinsicht war die Disziplin Medizin außergewöhnlich erfolgreich. Sowohl ihr Deutungsmonopol wie auch ihre Ressourcenhoheit über die gesellschaftliche Be-Handlung von Krankheiten wird selten ernsthaft bestritten. Krankheit gilt eindeutig als medizinisches Phänomen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Medizinsoziologie seit Parsons über eine soziologische Theorie von Gesundheit und Krankheit verfügt und schlüssig zeigen kann, dass beide zugleich eine soziokulturelle Dimension aufweisen, in deren Definition immer auch Kriterien sozialer Handlungsfähigkeit eingehen und dass ohne diese Erkenntnis nicht verstanden werden kann, was Gesundheit und Krankheit wesentlich ausmachen. In diesem Sinne wäre z. B. so etwas wie funktionierende Atmung und ihre Störung durch eine Lungenentzündung gleichermaßen und gleichzeitig ein biologisch-medizinisches wie ein soziokulturelles Phänomen. Das ändert nichts daran, dass auch von einer Lungenentzündung betroffene Soziolog:innen in aller Regel den Anweisungen von Ärzt:innen Folge leisten und im Ernstfall die Einnahme eines lebensrettenden Antibiotikums nicht etwa mit dem heroischen Argument zurückweisen, in Wirklichkeit handle es sich bei Atmung und Lungenentzündung um soziologische Phänomene.

Im Falle von Behinderung liegt der Fall aber anders. Hier kann heute zum Glück nicht mehr von einem Deutungsmonopol der Medizin die Rede sein. Medizinische Deutungen von Behinderungen als die Existenz der „Volksgemeinschaft“ bedrohende Erbkrankheiten, die noch im Nationalsozialismus die Diskurshoheit hatten, gelten heute zu Recht als menschenverachtende Ideologien ohne jeden sachlichen Gehalt. Zwar spielt auch bei Behinderung die Medizin nach wie vor (noch) eine nicht zu unterschätzende Rolle. Wissenschaftlich institutionalisiert ist das Thema jedoch mittlerweile ausschließlich im Kontext sehr verschiedener „angewandter (oder praktischer) Wissenschaften“, der (Heil-, Sonder- oder Sozial-) Pädagogik, der Rehabilitationswissenschaften, Sozialer Arbeit und anderen. Auch die rechtliche Definition weist ein hartnäckiges Schillern zwischen den Disziplinen auf. Menschen mit Behinderungen seien, so das Sozialgesetzbuch IX, „Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können“ (§ 2 SGB IX). Es herrscht Konsens darüber, dass das als Kombination eines „medizinischen“ und eines „sozialen“ „Modells“ zu verstehen sei. Allerdings handelt es sich bei dem apostrophierten "medizinischen Modell" nicht um ein Modell der Disziplin Medizin, ebenso wenig, wie das sogenannte „soziale Modell“ mit einem soziologischen Modell verwechselt werden sollte. In Wirklichkeit geht es – im Sinne der Eingangsthese – bei beiden Modellen um eine politische Argumentation, die sich ursprünglich den Diskursen der sozialen Bewegungen der Menschen mit (körperlichen) Behinderungen in Großbritannien verdanken (Kastl, 2017, S. 47–51).

Hinter der Rede von „Modellen“ verbirgt sich die Kritik an einer Individualisierung und Medikalisierung von Behinderung. Behinderung sollte in deren Sicht nicht auf einen Aspekt biologischer „Schädigung“ (= „impairment“ im Sinne einer negativen Einwirkung auf Strukturen, Prozesse, Funktionen des menschlichen Körpers) reduziert werden. Vielmehr ergibt sich Behinderung erst aus dem Zusammenspiel von biologischen Strukturen mit durch soziale Handlungsanforderungen erzeugten (physischen, institutionellen, symbolischen u. a.) Barrieren der sozialen bzw. sozial eingerichteten Umwelt, also letztlich im weitesten Sinne: mit sozialen Strukturen. Daraus resultiert die politische Forderung, die Gesellschaft habe die Verantwortung für die Einrichtung von soziophysischen und symbolischen Strukturen sowie die Bereitstellung von Ressourcen zu übernehmen, die Menschen mit Behinderungen möglichst gleiche Teilhabechancen ermöglichen.

Nun könnte man aus medizinsoziologischer Sicht geltend machen, dass dieses in die gesetzliche Definition von Behinderung aufgenommene Zusammenspiel ja auch im Fall von Krankheiten vorliegt, für deren gesellschaftliche Behandlung die Hegemonialmacht eindeutig bei der Medizin liegt. In der Tat leistet die Definition im SGB IX eine systematische Abgrenzung zu Krankheiten oder Verletzungen genau nicht. Auch hier sind ja die Konzepte von „Beeinträchtigung“, „Barriere“ und „Teilhabe“ gleichermaßen relevant, haben dann allerdings Therapie und damit Inklusion in die Patient:innenrolle zur Folge. Man könnte daraus die Konsequenz ziehen, was in den politischen Formeln der Behindertenbewegung als normative Forderung erscheint, explizit zum Definitionskriterium zu machen (Kastl, 2017, S. 92–100). Es geht, so ließe sich die Stoßrichtung des „sozialen Modells“ auf den Punkt bringen, bei Behinderung ausschließlich um Formen von Schädigungen, die weder im strengen Sinn als medizinisch heil- bzw. therapiebedürftig, noch therapiefähig gedeutet werden können und müssen. Es handelt sich um Schädigungen bzw. Beeinträchtigungen, mit „denen man“ - unter In-Rechnung-Stellung jeweils gegebener sozialer Verhältnisse –„leben kann“. Es muss systematisch unterschieden werden zwischen (1) einem aktuell ablaufenden Prozess der Schädigung als eines pathologischen bzw. pathogenen Geschehens und (2) Schädigung als einem eingetretenen, relativ stationären Zustand, als Resultat eines Prozesses, der dann abgeschlossen, nicht mehr existent ist, aber gleichsam ein Relikt bildet, das weiterhin als Abweichung von einer wie auch immer (sozial, kulturell, medizinisch) begründeten Gesundheitsnorm gedeutet wird. (1) liegt dem üblichen Verständnis von Krankheit (oder Verletzung), (2) dem von Behinderung zugrunde. Erst so wäre auch definitorisch verankert, dass Behinderung kein primär medizinischer Sachverhalt ist. Ansatzpunkte zum Handeln, falls erforderlich, liegen in der Folge nicht primär in der (therapeutischen) Einwirkung auf die Person bzw. ihren Körper, sondern in der Veränderung sozialer, sozialräumlicher, soziophysischer, technischer und symbolischer Strukturen, in die die betreffende Person eingebettet ist. Behinderung ist so – ganz im Sinne moderner Diversitäts- und Heterogenitätsdiskurse – als eine Form legitimer Diversität interpretierbar, als positiv bestimmbare Lebensmöglichkeit, die dennoch konstitutiv mit dem anthropologischen Aspekt der Körpergebundenheit menschlicher Fähigkeiten und ihrer grundsätzlichen Verletzlichkeit zusammenhängt.

Deutlich wird dann aber: „Behinderung“ ist viel mehr als Krankheit eine politisierungsfähige und politisierungsbedürftige Kategorie der Humandifferenzierung. Das ist so, weil es in jedem konkreten Fall um eine (implizite) Analyse und Kritik und ggf. Umgestaltung sozialer, kultureller, technologischer (Infra-)Strukturen geht. Dazu bedarf es der Mobilisierung kommunikativer, symbolischer, ökonomischer, technischer Ressourcen, einschließlich der Mobilisierung sozialer Anerkennung und Bereitschaft und genau das umschreibt in der Gesamtheit die strukturell politische Dimension des Behinderungskonzepts und zwar auch im Sinne einer disziplinen- bzw. professionspolitischen Frage wissenschaftlicher Zuständigkeit. Sowohl die Disability Studies wie auch die Teilhabeforschung reagieren, so wäre nun die leitende These dieser Besprechung, sowohl auf die disziplinäre Mehrdeutigkeit wie auf die Politisierungsbedürftigkeit des Phänomens „Behinderung“. Eine zentrale Fragestellung dieser Besprechung wird sein: tun sie das, wie tun sie das, und ggf. mit welchen Unterschieden und welchen Gemeinsamkeiten tun sie das?

2 Behinderung im Spannungsfeld von Politisierung und Disziplinarisierung

Ich möchte diese Fragestellung zunächst an den beiden von Anne Waldschmidt als Autorin bzw. Herausgeberin verantworteten Veröffentlichungen entwickeln und die Analyse dann in einem weiteren Abschnitt auf die beiden Sammelbände ausdehnen.

2.1 Eine Einführung als kleines Handbuch

Anne Waldschmidts „Einführung in die Disability Studies“ zeigt auf den ersten Seiten einen lesefreundlichen, an die Alltagserfahrung anknüpfenden stilistischen Duktus. Sehr schnell überwiegt aber eine souveräne, kenntnisreiche, enzyklopädisch anmutende Darstellungsweise, die für mit der Thematik vertrauten Leser:innen instruktiv und bereichernd ist. Für „Anfänger:innen“ (z. B. Studierende in den ersten Semestern) stellt der weitere Text jedoch mit Sicherheit eine Herausforderung dar, da die auf Vollständigkeit angelegte Bestandsaufnahme der Geschichte, der „Modelle“, Theorien und methodologischen Aspekte der Disability Studies nur selten versucht, Inhalte langsam zu entwickeln, allgemeinverständlich zu formulieren und/oder exemplarisch zu vertiefen.

Zwei Hauptanliegen bestimmen von vornherein die Darstellung. Zum einen geht es der Autorin um eine dezidierte Abgrenzung von „Disability Studies“ und „Non-Disability-Studies“, wie sie das formuliert (S. 17). Disability Studies könnten zwar „in“ ganz verschiedenen Fächern „betrieben werden“ (S. 18). Allerdings zeichneten sich Disability Studies (ggü. Non-Disability-Studies) vor allem durch ihren Anspruch aus, „das Differenzverhältnis (Nicht-) Behinderung neu und gesellschaftskritisch zu denken“. Das heißt vor allem: nicht von einem von vorneherein problemorientierten Verständnis von Behinderung auszugehen. In dieser Linie postuliert die Autorin ein „distanziertes Verhältnis“, „Abstand“, „insbesondere“ gegenüber der Heil- und Sonderpädagogik, den Rehabilitationswissenschaften, der Teilhabe- und Inklusionsforschung und insgesamt den „angewandten Wissenschaften“ (die Medizin kommt hier schon gar nicht mehr in Betracht). „Non-Disability-Studies“ unterstellen in dieser Sicht immer schon, dass „es so etwas wie Behinderung als unumstößliche Tatsache tatsächlich gibt“ (S. 24). Disability Studies gehen dagegen von Behinderung als einer „kontingenten Differenzkategorie“ aus und fragen „nach deren historisch entstandenen, kulturell variablen und gesellschaftlich spezifischen Konstruktionsweisen“ (S. 24). Damit wird deutlich: Waldschmidts systematisches Verständnis von Disability Studies folgt einem deutlich sozialkonstruktivistischen Ansatz, den sie im Weiteren durch kulturtheoretische und poststrukturalistische Argumentationen anreichert. Das ist für sie das entscheidende "Prüfkriterium". In derselben Logik wird in dem von Waldschmidt herausgegebenen Handbuch in Bezug auf die Soziologie formuliert: „Nicht jede soziologische Forschung, die das Phänomen 'Behinderung' zum Gegenstand hat, kann somit als Disability Studies bezeichnet werden. Eine Grundhaltung, die Behinderung als soziale Konstruktion und Ungleichheitskategorie versteht und zudem essentialisierende, pathologisierende und interventionsorientierte Erklärungsansätze ablehnt, ist dazu vonnöten“ (Karim in Waldschmidt, 2022, S. 146). Das zweite Anliegen besteht darin, die deutschen Disability Studies (von Waldschmidt selbst ja wesentlich mitgeprägt) als Teil eines internationalen, ja globalen Projektes zu verstehen. Das geschieht auf eine Weise, die zugleich wichtige Kontroversen und deren Diskursvielfalt abbildet – wie immer notwendig kondensiert und teilreduziert – und zugleich die deutschsprachigen Disability Studies darin verortet.

Die Anfänge des internationalen Unternehmens „Disability Studies“ datiert Waldschmidt auf die 1980er Jahre und verknüpft sie mit den Namen der Medizinsoziologen Irving K. Zola (1935-1994) und Gary L. Albrecht (geb. 1937). Zola war Herausgeber der ab 1986 „Disability Studies Quarterly“ genannten Fachzeitschrift. Albrecht, seit 1981 Professor für Health Policy and Administration an der University of Illinois at Chicago, gab 2001 das erste „Handbook of Disability Studies” heraus. In ihm wird der Terminus "Disability Studies" als ein eher loser Überbegriff für sehr heterogene „multiple issues” und als „emergent field with intellectual roots in the social sciences, humanities, and rehabilitation sciences” charakterisiert (Albrecht et al., 2001, S. 3–4). Ungefähr in dasselbe Jahr datiert Waldschmidt die Anfänge der deutschsprachigen Disability Studies. Den Initialimpuls sieht sie in den Tagungen „Der (im)perfekte Mensch“, und „Phantom(Schmerz)“, die vom Deutschen Hygiene-Museum, der Aktion Mensch und der Humboldt-Universität Berlin veranstaltet worden waren (S. 16). In deren Gefolge gründete sich im April 2002 unter Beteiligung der Autorin die Arbeitsgemeinschaft „Disability Studies in Deutschland: Wir forschen selbst!“. Dieser die Bedeutung der Betroffenenperspektive betonende Titel benennt einen wichtigen Gründungsimpuls in der Verbindung zur politischen Emanzipationsbewegung behinderter Menschen.

Darin besteht – nebenbei bemerkt – eine wichtige Gemeinsamkeit der Disability Studies mit anderen wissenschaftlichen Projekten, die sich gleichfalls „Studies“ nennen und sich in kritischer Absicht auf gesellschaftliche, verkörperte Differenz- und Diversitätskriterien beziehen, wie etwa Gender-, Queer-, Post-Colonial-, Mad-, Deaf-, Fat-Studies (S. 169–179). Der Aspekt der wissenschaftlichen Selbstvertretung der Betroffenen hat in den ersten Aufsatzbänden der deutschen Disability Studies ebenfalls einen hohen Stellenwert. Einer davon trägt das Motto der Bewegung in seinem Titel: „Nichts über uns – ohne uns! Disability Studies als neuer Ansatz emanzipatorischer und interdisziplinärer Forschung über Behinderung“ (Hermes & Rohrmann, 2006). In Waldschmidts Einführung wird das nicht weiter thematisch. Sie betont zwar die Anbindung an die politischen Bewegungen behinderter Menschen, stellt den emanzipatorischen Anspruch der Disability Studies heraus, verknüpft ihn aber eng mit einem genuin wissenschaftlichen Anspruch kritischer und theoretischer Reflexivität. Waldschmidt warnt sogar davor, Disability Studies als „Betroffenenwissenschaft“ misszuverstehen, „die sich nicht den Zumutungen abstrahierender Reflexion aussetzt, sondern vornehmlich die Praxis und Erfahrung von Behinderung zum Gegenstand macht“ (2020, S. 129). Sie ist gegenüber emanzipatorischen und partizipativen Forschungskonzepten aufgeschlossen (2020, S. 140–151), sieht allerdings auch Grenzen. Gegen Ende des Buches spricht sie sich beispielsweise gegen „von persönlicher Betroffenheit abhängige Zugangsbarrieren“ zu Forschung und Lehre aus (S. 180).

Die eigentliche Rekonstruktion der wissenschaftlichen Entwicklung der "Internationalen Disability Studies" erfolgt im dritten Kapitel in beeindruckender Gründlichkeit. Die Autorin unterteilt dabei ihre Darstellung in disziplinäre Komplexe (Sozialwissenschaften, Disability History und Cultural Disability Studies). In dem Abschnitt über "Internationale Disability Studies in den Sozialwissenschaften" werden zunächst die mit den Namen Zolas und Albrechts verknüpften medizinsoziologischen Anfänge in den USA sowie daraus hervorgehende institutionelle Entwicklungen wie Institute, wissenschaftliche Vereinigungen oder Publikationsorgane dargestellt. Zugleich wird das „sehr weite Verständnis“ und die fließenden „Grenzen zur konventionellen Rehabilitationsforschung“ bei Gary L. Albrecht eher kritisch vermerkt (S. 43). Einen großen Raum nehmen auch die britischen Disability Studies ein. Als deren wesentliche Gründungsfigur wird der bereits erwähnte Michael Oliver genannt, Soziologe und ebenfalls in der britischen Behindertenbewegung engagiert. Er hat maßgeblich das sogenannte "soziale Modell" der Behinderung, das auf die Gründungsschrift der „Union of Physically Impaired Against Segregation“ mit dem Titel „Fundamental Principles of Disability“ zurück geht, wenn nicht (mit)erfunden, so doch systematisiert. Ein dritter Schwerpunkt liegt auf der Darstellung der Entwicklungen im deutschsprachigen Raum, der nicht zuletzt die wichtige Rolle der Autorin für die Etablierung, die Institutionalisierung und das Prestige des Themas verdeutlicht, die bis hinein in die Disziplin der Soziologie reicht. Zwischen 2002 und 2006 sowie 2018 gab es Ad-Hoc-Gruppen im Rahmen der Kongresse der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Leipzig und Kassel, die sich auch in entsprechenden Publikationen objektivierten, unter anderem in einem von Anne Waldschmidt und Werner Schneider 2007 herausgegebenen Sammelband, der das Verhältnis von Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung zum Gegenstand machte. Darüber hinaus werden fachliche und institutionelle Entwicklungen in Skandinavien, in Frankreich, Italien und in afrikanischen Ländern einbezogen. Etwas knapper, aber nicht weniger gründlich werden die von Anfang an ebenso präsenten internationalen Arbeiten aus dem Bereich der Kulturwissenschaften sowie die insgesamt vor allem in den 2010er Jahren zunehmenden Arbeiten mit geschichtswissenschaftlichem Fokus aufgeführt.

In der Folge wechselt der Fokus eher auf inhaltliche Fragen. Zum einen wird die bereits erläuterte Redeweise von „Modellen der Behinderung“ aufgegriffen. Dem medizinischen bzw. individuellen und dem sozialen Modell von Behinderung fügt Waldschmidt hier – in Anknüpfung an eine Darstellung des britischen Soziologen Tom Shakespeare – ein „relationales Modell“ und ein „Randgruppenmodell“ sowie ein „menschenrechtliches Modell“ und ein „kulturelles Modell“ hinzu. Auch hier wird deutlich, dass es bei der Redeweise von „Modellen“ weniger um konkurrierende wissenschaftliche Erklärungen oder (statistische und andere) Modellierungen der empirischen Realität von Behinderung geht, sondern dezidiert um verschiedene politische Ansätze. Die Kritik Waldschmidts an den verschiedenen Modellen wird wesentlich aus der Perspektive „des“ sogenannten kulturellen Modells geführt. Dabei bedient auch sie sich vor allem politischer Argumente. So kritisiert sie das individuelle Modell als Ausdruck einer unkritischen Individualisierung und Medikalisierung, einer „Opferbetrachtung“ behinderter Menschen sowie einer insgesamt defizitorientierten Sichtweise. Das im skandinavischen Normalisierungsdiskurs (dabei handelt es sich um ein gegen institutionelle Segregation behinderter Menschen argumentierendes sozialpolitisches Programm) verankerte „relationale Modell“ kritisiert Waldschmidt wegen der Implikation, dass sich Menschen mit Behinderungen „an die Normen und Standards der Mehrheitsgesellschaft anpassen“ sollen (S. 77) und wegen seiner unkritischen Sichtweise der „bevormundenden Rolle von Experten“ und „kontrollierenden, disziplinierenden Funktion staatlicher und karitativer Institutionen“ (S. 77). Relativ gut weg kommt das Minderheiten- oder Randgruppenmodell mit seiner „pragmatisch-politischen Ausrichtung“ und seinem „Eintreten für gleiche Rechte, gegen Diskriminierung und Aussonderung, für die kulturelle Anerkennung und Repräsentation“ (S. 78) sowie das soziale Modell Olivers. Waldschmidt hatte dieses in früheren Veröffentlichungen für eine angeblich naturalisierende und essentialistische Sichtweise des Schädigungsaspektes ("impairment") kritisiert (z. B. Waldschmidt in Hermes & Rohrmann, 2006, S. 88). Hier bleibt es jedoch bei einem Hinweis auf eine zu einfach gedachte Dichotomie von Natur und Kultur (S. 90). Das explizit normativ entworfene „menschenrechtliche Modell“ betrachtet Waldschmidt lediglich als „rechtswissenschaftliche Variante des sozialen Modells“ (S. 85) und insgesamt als „zu wenig gesellschaftskritisch“ (S. 90). Aus ihrer Darstellung „des“ sogenannten „kulturellen Modells“ wird deutlich, dass sich die Autorin hier selbst verortet. „Behinderung“ erscheint in diesem „Modell“ als Ergebnis kultureller Praktiken und sozialer Strukturen, als eine naturalisierte und verkörperte Kategorie der Humandifferenzierung von Normalität und Anormalität.

Die hier bereits vorbereiteten Linien werden in einem Kapitel zu Theorieansätzen in den Disability Studies weiter vertieft und konturiert. Als „Klassiker“ hervorgehoben werden Erving Goffman sowie Michel Foucault. Ihre Rezeption in den Disability Studies wird breit dargestellt. Goffman wird mit seinen beiden Büchern „Stigma“ und „Asyle“ insgesamt ambivalent beurteilt. Es wird zwar eine die Disability Studies anregende Rolle betont, kritisiert wird aber der devianztheoretische Zugang, eine „Ignoranz historisch-sozialer und politischer Kontexte“ sowie ein in Waldschmidts Augen dann letztlich doch „essentialisierender Behinderungsbegriff“ (S. 97). Rundum positiv wird dagegen das Foucaultsche Werk aufgenommen. Obwohl Behinderung weder als Begriff noch in der Sache in seinen Texten auftaucht, wird Foucault „noch stärker als Goffman“ als „Geburtshelfer der Disability Studies“ bezeichnet (S. 129–130). Herausgestellt werden einerseits seine Studien zur Institutionengeschichte der Psychiatrie sowie seine macht- und diskurstheoretischen Entwürfe. Als weitere anschlussfähige Theoriepositionen markiert Waldschmidt insbesondere poststrukturalistische Ansätze im Anschluss an Butler, Deleuze/Guattari u. a. (S. 117) sowie intersektionale Perspektiven und damit korrespondierende (Critical) Studies wie Gender, Queer und Postcolonial Studies.

Hervorzuheben ist insgesamt, dass Waldschmidt über die Markierung ihrer eigenen Theoriepräferenzen hinaus ein überaus instruktiver Einblick über auch kontroverse Theoriediskussionen in den Disability Studies gelungen ist, der in seiner enzyklopädischen Gründlichkeit und in ihrem Kenntnisreichtum seinesgleichen sucht. Das ermöglicht das Auffinden der betreffenden Autor:innen, regt zum Weiterlesen und zur Konsultation der Texte selbst an. Ähnliches gilt für die Darstellung methodologischer, wissenschaftskritischer und forschungsbezogener Diskussionen und Kontroversen in den Disability Studies und die Bilanzierung des bis in die 2020er Jahre erreichten „Forschungsstandes“, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann.

Insgesamt legt Anne Waldschmidt eine äußerst dichte, instruktive, vielseitige Überblicksarbeit über die Disability Studies vor. Im Grunde präsentiert sie damit fast schon ein Handbuch en miniature. An jeder Stelle ist der Duktus kritischer, sich als emanzipatorisch verstehenden wissenschaftlichen Reflexivität greifbar, die sich gleichermaßen wissenschaftlich wie politisch versteht. Der Konnex zu den politischen Bewegungen behinderter Menschen wird nicht verdeckt oder gar gekappt. Es wird deutlich, dass ohne deren Gründungsimpulse Disability Studies auch für Anne Waldschmidt nicht denkbar sind. Dennoch liegt ihr Akzent eindeutig auf der Seite der Wissenschaft, vor allem der wissenschaftlichen Theoriebildung. Das Buch profitiert insgesamt davon, dass sich Anne Waldschmidt selbst positioniert, versucht den Disability Studies über den Anschluss an die poststrukturalistisch-konstruktivistischen Ansätze eine Kontur zu geben und sich nicht mit der bloßen Feststellung oder Abbildung bloßer Vielfalt begnügt. Das erleichtert – wegen ähnlicher programmatischer Entwicklungen dort – die Anschlussfähigkeit an die verwandten anderen Critical Studies und konturiert ihre Position auch gegenüber der weit unbestimmteren Unternehmung einer Soziologie der Behinderung. Das birgt allerdings auch die Gefahr einer gewissen Rigidität und künstlichen Kanonisierung. „Künstlich“ deshalb, weil in der Darstellung immer wieder die gegenteilige Tendenz einer Vereinnahmung von Autor:innen, Positionen, Inhalten und Forschungsrichtungen in eine so verstandene Tradition der Disability Studies deutlich wird, die ursprünglich damit nichts, nur sehr lose oder nur partiell damit zu tun hatten. Das gilt für Autoren wie Goffman, Foucault, aber auch für Wissenschaftler wie Robert Murphy, Henri Stiker, sowie in geringerem Maße für Mike Oliver, Gary L. Albrecht, Erving Zola oder Tom Shakespeare, die sich zwar partiell selbst den Disability Studies zuordneten, zugleich aber immer auch den Anspruch hatten, Soziologie unabhängig von politischer Ausrichtung zu machen und die sich ganz und gar nicht alle auf eine poststrukturalistisch-konstruktivistische Programmatik vereidigen lassen.

2.2 Handbuch oder kein Handbuch?

Zieht man das ebenfalls von Anne Waldschmidt unter Mitarbeit von Sarah Karim herausgegebene, zwei Jahre später erschienene Handbuch Disability Studies hinzu, verstärkt sich der Eindruck dieser eben angedeuteten Gefahr, allerdings aus etwas anderen Gründen. Das Handbuch besteht aus 30 Einzelbeiträgen von 38 Autor:innen. Sein Schwerpunkt liegt erklärtermaßen auf einer Bilanz der Disability Studies im deutschsprachigen Raum (S. 6). Vor allem in seinem ersten Teil „Grundlagen der Disability Studies“ spielt die Bezugnahme auf die internationale Diskussion allerdings noch eine wichtige Rolle. Biermann & Powell widmen ihr einen eigenen Beitrag, der aber nicht die Breite und Vielfalt der Darstellung von Waldschmidts Einführungsband erreicht.

In Waldschmidts & Karims Einleitung tauchen bereits benannte Leitmotive auf: die Apostrophierung als „neues Forschungsfeld“ (wie lange ist ein Forschungsfeld eigentlich neu?, könnte man fragen), die Abgrenzung von „anwendungsorientierten Fächern“, die Betonung der Zugehörigkeit zu den Critical Studies und die Verbundenheit mit der politischen Betroffenenbewegung. Bemerkenswert ist aber nun, dass die mehrfach angesprochene Problematik der disziplinären Verortung des Gegenstands Behinderung (und damit der Disability Studies selbst) endgültig zum maßgeblichen Gliederungsprinzip des Handbuches erhoben wird.

Der erste Teil ist überschrieben mit „Grundlagen der Disability Studies“, bestehend aus sechs Beiträgen zu den „Internationalen Disability Studies“, der Geschichte des (deutschen) Begriffs Behinderung, eine Übersicht über die Entwicklung der deutschsprachigen Disability Studies, sowie über Theorieansätze von Waldschmidt & Schillmeyer. Marianne Hirschberg greift die bereits bekannten „Modelle“ der Behinderung auf und ergänzt sie um ein weiteres Modell, das sie „das affirmative Modell“ nennt, auch das eher ein (identitäts-)politischer Ansatz: behinderte Menschen sollen „mit ihren Körpern und Beeinträchtigungen positive identitätsstiftende Erfahrungen machen können“ (S. 101). Birgit Behrisch skizziert in ihrem Beitrag Konzepte partizipatorischer und emanzipatorischer Forschung und diskutiert deren Möglichkeiten und Grenzen.

Der zweite Teil „Interdisziplinarität in den Disability Studies“ ist mit insgesamt 227 Seiten der bei weitem umfangreichste Teil (doppelt so lang wie jeweils die Teile I und III, viermal so lang wie Teil IV). Seine dreizehn Beiträge befassen sich alle mit Disability Studies in Verbindung mit wissenschaftlichen Disziplinen bzw. Fächern. In ihrem einleitenden Beitrag untergliedern Waldschmidt & Karim diese wie folgt (S. 8):

  1. „Grundlagenfächer“ (sic!): Geschichtswissenschaft bzw. Disability History, Soziologie, Politikwissenschaft, Kulturwissenschaften

  2. „relevante Bezugsdisziplinen“: Rechtswissenschaft, Literatur- und Sprachwissenschaften, Anthropologie und Ethik, Psychologie

  3. „anwendungs- und praxisorientierte Wissenschaften“: Disability Culture & Disability Arts, Erziehungswissenschaft (Disability Studies in Education), Soziale Arbeit, Sportwissenschaft, sowie Architektur, Design und Informationstechnik

Zu jedem der genannten "Fächer" gibt es jeweils einen Beitrag. Ebenfalls bereits in der Einleitung nehmen Waldschmidt & Karim eine Gefahr dieser Darstellungslogik vorweg, nämlich „der Konturenlosigkeit und 'Schwammigkeit'“, eines „anything goes der beliebigen Kombination von Konzepten und Methoden“ (S. 8). Zugleich empfehlen sie ihren Autor:innen ein Antidotum. Es besteht (1) im Prüfkriterium des konstruktivistischen Ansatzes „disability eben nicht ontologisch, als festgelegte Seinsweise, sondern als Konstruktion zu verstehen“ (S. 8), (2) das „jeweilige allgemeine Fach auf seine Leerstellen und Scheuklappen aufmerksam zu machen“ (S. 8) sowie (3) umgekehrt die Disability Studies selbstkritisch zu reflektieren. In den einzelnen Beiträgen wird dies in sehr unterschiedlichem Maße und auf unterschiedliche Weise realisiert. Viele greifen zwar das empfohlene Antidotum auf, erzeugen damit aber inhaltliche Redundanzen. In fast allen Beiträgen werden in unterschiedlichem Ausmaß Arbeiten und Autor:innen referiert, die weder mit dessen Prämissen zu tun haben, noch sich selbst als Disability Studies bezeichnen, sondern lediglich in irgendeiner Weise das Thema „Behinderung“ zum Gegenstand haben. Einige Beiträge diskutieren ausschließlich oder schwergewichtig denkbare wechselseitige Bezugnahmen „ihres“ Faches und der Disability Studies oder/und registrieren Fehlanzeigen, die das gesamte Thema Behinderung betreffen. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Nuancen in den Überschriften. Karim, Naue & Waldschmidt sowie Helduser sprechen rundweg von „soziologischen“, „politikwissenschaftlichen“ und „kulturwissenschaftlichen“ „Disability Studies“. Rößler, Helduser und Zander formulieren „Rechtswissenschaft/Literatur- und Sprachwissenschaften/Psychologie in den Disability Studies“, während alle anderen Beiträge das umgekehrte Inklusionsverhältnis unterstellen, nämlich „Disability Studies in der Erziehungswissenschaft/Sozialen Arbeit/Sportwissenschaft/Architektur-Design-Informationstechnik.“ Es ist dem Rezensenten nicht gelungen, tragfähige Begründungen dieser Bezeichnungsdifferenzen zu erkennen. Faktisch werden in allen Beiträgen in relativ freier Weise wechselseitige faktische bzw. für möglich oder wünschenswerte gehaltene Bezugnahmen vorgestellt, diskutiert oder/und Texte, Autor:innen, Zusammenhänge aus den jeweiligen Fächern aufgelistet, die – mit oder ohne Bezugnahme auf das Etikett „Disability Studies“ – auf irgendeine Weise mit dem Thema Behinderung zu tun haben bzw. haben könnten.

Auf die beiden verbleibenden Teile III: „Intersektionale und querliegende Perspektiven in den Disability Studies“ (hier werden z. T. in durchaus anregender Weise Bezüge zu anderen Critical Studies bzw. Differenzkategorien aufgegriffen) sowie IV: „Kontroversen in den Disability Studies“ (Stichworte lauten hier: Gesellschaftskritik, Identitätspolitik, die Frage der legitimen Sprecher:innenpositionen, Inklusion) sei hier nicht weiter eingegangen. Sie argumentieren überwiegend in derselben Logik wie Waldschmidts Einführungswerk.

Insgesamt kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Handbuch in eine Disziplinaritätsfalle gerät. Handbücher haben immer eine inhärente Tendenz zur Kanonisierung. Es entsteht ein Zwang, einen State-of-the-Art zu fixieren, eine offene Entwicklung auf den Punkt zu bringen, Entscheidungen darüber zu treffen, was dazu gehört und was eher nicht. Das bei einem Unternehmen wie den Disability Studies primär über eine Redisziplinarisierung der Beiträge zu vollziehen, ist, wie Waldschmidt & Karim ja selbst registrieren, von vorne herein widersprüchlich. Ganz egal, ob man dabei die Disability Studies in die Einzeldisziplinen inkludiert oder umgekehrt – die jeweiligen disziplinären Gütekriterien bekommen dann eine nicht vermeidbare Dominanz und Aufdringlichkeit. Das kann man wollen, dann wird aber „Disability Studies“ in der Tat zu einem bloßen Etikett für ein von verschiedenen Disziplinen gleichberechtigt bearbeitetes bzw. bearbeitbares Thema, etwa so wie man das Thema „Armut“ aus ökonomischer, soziologischer, psychologischer, rechtlicher oder kulturwissenschaftlicher Perspektive angehen kann. Das ist ersichtlich nicht, was Anne Waldschmidt und andere Vertreter:innen der Studies intendieren. Deren eigentliche Kontur liegt in einer autonomen Rekonstruktion ihres Gegenstands und darin, dass dessen immanentes Politisierungspotential in spezifischer Weise aufgegriffen wird.

Waldschmidt tut das, nämlich genau in Gestalt ihres durch poststrukturalistische Kultur- und Machttheorien akzentuierten Sozialkonstruktivismus. Nicht zufällig dominieren verwandte Epistemologien der Dekonstruktion, Deontologisierung nahezu auch alle anderen Critical Studies. Sozial wirksame körperbezogene Differenzierungskategorien wie Gender, Sexualität, Aussehen, Behinderung, Attraktivität werden unter dem Gesichtspunkt der in sie eingehenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse analysiert, mit dem Ziel diese Machtverhältnisse und damit die Bedeutung dieser Kategorien selbst zu verändern, aufzubrechen oder sogar aufzulösen. Realität zu (de-)konstruieren ist eine politische Aktivität, auch und gerade dann, wenn sie darüber hinaus wissenschaftliche Geltungsansprüche erhebt. Man kann argumentieren, dass diese Epistemologie aus der Sicht der Fächer, die so etwas annehmen wie „empirische Wirklichkeit“ oder „Tatsachen“, fehlerhaft ist. Aber darum geht es in gewisser Hinsicht für einen solchen Ansatz nicht. Welchen eigenen – wenn man so will: auf die Zukunft gerichteten – Wahrheitsanspruch diese letztlich politische Epistemologie hat, kann man den Beispielen der gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte z. B. in Sachen Gender, Queerness, Race entnehmen, die man auch als überzeugte wissenschaftliche Empiriker:in und kritische Realist:in anerkennen und für gut befinden kann. Nicht, dass diese Veränderungen alleine den entsprechenden Studies zu verdanken wäre, aber ihr Beitrag dazu darf auch nicht unterschätzt werden.

Vor diesem Hintergrund muss man m. E. zu dem Schluss kommen, dass Anne Waldschmidts „Einführung“ als „Handbuch“ bei weitem besser geglückt ist, als das eigentliche Handbuch. Das von ihr vorgegebene konstruktivistische Programm führt in den disziplinär ausgerichteten Beiträgen teils zu leeren mantraähnlichen Deklaratoriken oder/und es werden damit wenig oder nicht kompatible Positionen kombiniert. Dadurch werden viele der präsentierten Inhalte und (inter)disziplinären Prätentionen in der Tat beliebig. Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa der Artikel über die Rechtswissenschaft, der eine konventionelle rechtliche Argumentation kurzerhand zu einer „Sicht“ „der“ „rechtswissenschaftlichen Disability Studies“ deklariert (S. 191), ansonsten ein selbst in rechtssoziologischer Hinsicht naives, unkritisches und unpolitisches (Un-)Verständnis der Funktionsweise und immanenten Paradoxien von Menschenrechten verrät. Dass auch andere Artikel mit Strategien der umstandslosen Deklaration neuer disziplinärer Abteilungen der Disability Studies oder umgekehrt der Disability-Studies-Abteilungen in konventionellen Fächern, und auf diese Weise frei phantasierte (Unter-)Fachzusammenhänge entstehen, ist letztlich ein Indiz dafür, dass es hier um eine Logik der Scheinkanonisierung und wechselseitigen Vereinnahmung geht, die mit dem engeren Anliegen der Disability Studies wenig zu tun hat.

Vielleicht sollte man einfach eingestehen, dass die Disability Studies – zum Glück! – noch nicht „handbuchreif“ sind oder aber gleich sagen: ein Handbuch ist per se eine unpassende Textgattung für diese Art von Unternehmen. Das tut den Verdiensten von Waldschmidt keinen Abbruch. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es ohne ihr Engagement die deutschsprachigen Disability Studies nicht gäbe, nicht in dieser Form und nicht mit dieser fachlichen Kontur. Ohne Zweifel hat Anne Waldschmidt in den vergangenen beiden Jahrzehnten große Verdienste erworben, nicht nur für die Disability Studies im Speziellen, sondern auch dafür im Bereich der Sozialwissenschaften und Soziologie überhaupt dem Thema „Behinderung“ so etwas wie eine prominente wissenschaftliche Adresse verschafft zu haben und diese vor allem mit einer bewundernswerten Energie sozial organisiert zu haben. Das ist eine Leistung, die ihr niemand nehmen kann. Dass sie dabei auch so etwas wie eine Diskursmacht begründet hat, durchaus im Sinne des von ihr hoch gehaltenen Michel Foucault, liegt in der Natur der Sache.

3 Behinderung im Spannungsfeld von sozialer Bewegung und Gouvernementalität

Vor diesem Hintergrund ist es nun ein interessanter Testfall, zu sehen, ob und wie die Politisierungsbedürftigkeit des Behinderungskonzeptes in der völlig anders gelagerten Textgattung des (kollektiven) Herausgeberbandes zum Ausdruck kommt. Besonders spannend ist dabei, dass dabei eine weitere (inter-)disziplinäre Kategorie, die der „Teilhabeforschung“, ins Spiel kommt.

Im Einzelnen geht es um zwei Bände:

  1. Der von Brehme, Fuchs, Köbsell und Wesselmann 2020 herausgegebene Band: „Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung“ bezieht sich auf die nach 2003 zweite große Tagung der deutschsprachigen Disability Studies. Sie fand 2018 an der Humboldt-Universität und der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin statt.

  2. Der von Wansing, Schäfers, Köbsell 2022 herausgegebene Band: „Teilhabeforschung – Konturen eines neuen Forschungsfeldes“ versteht sich als erste Bilanz der Aktivitäten des sogenannten „Aktionsbündnisses Teilhabeforschung“, das im Jahr 2015 als interdisziplinärer Verbund von Einzelpersonen und Institutionen mit dem Ziel einer Vernetzung und Förderung von Teilhabeforschung gegründet wurde. Im April 2023 wurde es in die Struktur eines gemeinnützigen Vereins überführt (Verein Aktionsbündnis Teilhabeforschung e. V.).

Eine Würdigung der insgesamt 56 Einzelbeiträge der beiden Bände (bei einem Umfang von zusammen 821 Seiten) muss Einzelbesprechungen vorbehalten bleiben. Ich möchte mich hier auf die Schilderung eines Gesamteindrucks beschränken und auf eine Analyse in der Linie der bisherigen Argumentation. Beide Bände haben das Problem, dass sie ebenfalls den Anspruch haben, eine Art State-of-the-Art ihrer jeweiligen Ansätze zu liefern, dies aber über die Versammlung exemplarischer Einzelbeiträge leisten. Das hat grob gesagt ein Zweiklassensystem von Beiträgen zur Folge.

In den Eröffnungsteilen beider Bände finden sich umfangreichere programmatische und theoretische Beiträge, eher herausgebernah oder prominent besetzt. Der Disability-Studies Band z. B. eröffnet mit dem Transkript einer Panel-Diskussion, an der prominente Persönlichkeiten der deutschsprachigen Behindertenbewegung teilnehmen. Es findet sich aber auch z. B. ein längerer Beitrag von Anne Waldschmidt über „Theoretische Ansätze in den Disability Studies“. Dem entsprechen in dem Band über Teilhabeforschung zwei Aufsätze über das Teilhabekonzept: ein bereits in anderer Form veröffentlichter, von sechs Autor:innen, darunter einem der Herausgeber, verfassten Beitrag zur „Begriffsbestimmung“ und eine sehr konzise und differenzierte Abhandlung von Iris Beck, die einen theoretisch anspruchsvollen, problemorientierten und method(olog)isch versierten Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen des Teilhabekonzepts gibt.

Mit sehr viel weniger Platz müssen dann in beiden Bänden die Beiträge auskommen, deren Schwerpunkt auf dem Gebiet der konkreten Forschung liegt. Das trifft insbesondere auf den Disability-Studies-Band zu, bei dem der Mehrheit der Beiträge lediglich 7–8 Seiten zur Verfügung stehen, was gerade mal Raum für etwas ausführlichere „Summaries“ lässt. Auch das mag zu dem Eindruck beitragen, dass es sich eher um Forschungsprogrammatiken und -entwürfe, denn um bereits realisierte Projekte handelt. Im Band zur Teilhabeforschung finden sich mehr Beiträge, die über abgeschlossene Projekte berichten und dafür auch etwas Raum erhalten. Im besten Fall machen sie neugierig auf die jeweiligen Forschungsberichte und beinhalten Themen/Fragen/Befunde, die sowohl soziologisch wie auch für die Disability Studies von Relevanz sind (wie etwa die Beiträge zu den Themen „Behinderung und Migration/Flucht“ oder zur Logik der Assistenzbeziehung). Aber oft geht es auch hier eher um Programmatik, Design oder um Fragestellungen, die wegen ihrer Nähe zu sozialplanerischen und sozialadministrativen Kontexten nur für einen sehr kleinen Kreis von Leser:innen relevant sein dürften. Ein etwas anderes Problem weist der Beitrag zur Methodik der sogenannten Deutschen Teilhabebefragung auf, deren Abschlussbericht seit 2022 auf der Internetseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, des Auftraggebers der Studie, abrufbar ist (Steinwede & Harand, 2022). Die Verfasser nehmen die mögliche Kritik an ihrem Zugang bereits vorweg, wenn sie wiederholt auf den analytischen Charakter ihres Zugangs hinweisen. Ihr Anspruch, Lebenslagen von "Menschen mit Behinderungen“ abzubilden, ist kaum einlösbar, weil es sich bei den verwendeten Vergleichsgruppen um rein statistisch-analytische Konstrukte handelt, die durch eine Kombination von auf Selbstratings beruhenden Beeinträchtigungsindikatoren, der Selbstetikettierung als „behindert“ (oder „nur“ beeinträchtigt) und sozialrechtlichen Kategorisierungen beruhen. Lebenslagen und Probleme von auf gemeinsamen Lebenslagen und Lebensverhältnissen beruhenden real existierenden Gruppen werden so, wenn überhaupt, nur hinter dem dichten Nebel des weißen Rauschens statistischer Verteilungen in äußerst blassen Konturen sichtbar (vgl. dazu Steinwede & Harand, 2022). Für die künftige Optimierung der Methodik wäre sicher noch einiges aus den Ausführungen von Iris Beck zu lernen.

Die in unserem Kontext interessante Frage ist die nach dem Verhältnis des Sammelbandes über Disability Studies zu den beiden Waldschmidt-Bänden einerseits und dem von Disability Studies und Teilhabeforschung andererseits. Geht es hier um wissenschaftliche Konkurrenzunternehmen oder doch eher um eine gemeinsame wissenschaftspolitische Arena mit gewissen Unterfraktionen? Für die zuletzt genannte Variante spricht zunächst, dass es auffällige Überschneidungen von Autor:innen und Akteur:innen gibt. Fünfzehn Autor:innen des Herausgeberbandes zu den Disability Studies sind zugleich Autor:innen von Beiträgen in Waldschmidts Handbuch. Vier Autor:innen des Bandes zur Teilhabeforschung sind zugleich Autorinnen der Bände zu den Disability Studies. Swantje Köbsell und Carla Wesselmann sind in allen drei Werken mit eigenen Beiträgen vertreten. Die Mitherausgeberin Gudrun Wansing wird im Handbuch von Waldschmidt für die „Soziologischen Disability Studies“ in Anspruch genommen. Rohrmann, der ebenfalls in dem Band zur Teilhabeforschung vertreten ist, gehört zu den Herausgebern einer der ersten deutschen Aufsatzsammlungen zu den Disability Studies (Hermes & Rohrmann, 2006). Waldschmidt und Köbsell sind Gründungsmitglieder des Aktionsbündnisses Teilhabeforschung und Mitautor:innen von dessen Gründungserklärung. Und schließlich: Die Satzung des 2023 gegründeten Vereins Aktionsbündnis Teilhabeforschung sieht vor, eine der insgesamten sieben Vorstandsposten mit eine:r Vertreter:in der Disability Studies Deutschland e. V. zu besetzen.

Vergleicht man den Band von Brehme et al. mit Handbuch und Einführung von Waldschmidt fallen in inhaltlicher Hinsicht keine Divergenzen auf. Ein Unterschied liegt allenfalls in der stärkeren Betonung der politischen Bewegung in dem Sammelband. Das beginnt bereits mit dessen erstem Satz: „'Nichts über uns – ohne uns!' lautet das Credo der internationalen Behindertenbewegungen“ (S. 9). Im Vorwort der Herausgeber:innen fällt eine umgekehrte Akzentuierung wie bei Waldschmidt in Sachen Pluralität auf: „Dieser Band plädiert eindringlich für eine weitere Expansion und Diversifizierung der Forschung in den Disability Studies und spricht sich zugleich dafür aus, Ambiguität(en) auszuhalten – also die Unabgeschlossenheit der theoretischen Debatten in den Disability Studies als Chance zusehen und sie nicht bereits abschließend geklärt zu betrachten“ (S. 21). Das kann man als Argument in Richtung von Waldschmidt lesen. Viel deutlicher ist allerdings eine Abgrenzungstendenz, die sich bereits im Untertitel mit dem Stichwort "Vereinnahmung" andeutet und die die Herausgeber:innen wiederum mit Waldschmidts Positionen gemeinsam haben. Es soll „nicht nur“ (aber auch?) Betroffenenforschung betrieben werden (S. 20), vor allem geht es aber um Abgrenzung gegenüber einer „traditionelle[n] Behinderungsforschung im 'fortschrittlichen Mäntelchen'" und der „starke[n] Dominanz der Sonderwissenschaften“ (S. 20), insbesondere der Sonderpädagogik.

Noch deutlicher werden die Diskutanten des ersten Beitrags. Dessen Text beruht auf dem Transkript des Eröffnungspanels der Disability Studies Tagung von 2018. Gisela Hermes, Petra Kuppers, Volker Schönwiese und Peter Wehrli sind prominente Aktivist:innen der deutschsprachigen Behindertenbewegung. Ihre Erfahrungen reichen in die Zeit der 1970er Jahre zurück, in der sich die legendäre Krüppelbewegung formierte. Die Slogans „Heime braucht es keine!“, „Nichts über uns ohne uns!“, „Wir sind nicht behindert, wir werden behindert!“ stammen aus dieser Zeit. Gisela Hermes betont, dass diese kritische Perspektive in Deutschland nicht als „soziales Modell von Behinderung“ benannt wurde und: „unsere Schriften der 1980er und 1990er Jahre haben wir nicht Disability Studies genannt. Das kam erst später“ (S. 27). Erinnert wird u. a. an das Jahr 1981, dem offiziell von der UN ausgerufenen "Jahr der Behinderten" (bzw. in kritischer Wendung der Bewegung: der Behinderer), in dem das legendäre "Krüppeltribunal" stattfand. Hier wurden "Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat" angeklagt, Barrieren benannt, Zustände in Heimen und sonstigen Behinderteneinrichtungen, die Lebensverhältnisse behinderter Frauen kritisiert und zunehmend auch Themen der Psychiatrie thematisch. Auch die legendären Krückenschläge, die Franz Christoph, militanter Vertreter der Krüppelbewegung, dem damaligen Bundespräsidenten Carstens auf der im selben Jahr stattfindenden Rehabilitationsmesse angedeihen ließ, werden von den Diskutanten wachgerufen.

Peter Wehrli formuliert erste Enttäuschungserfahrungen mit den Disability Studies und klagt mangelnden Erfahrungsbezug ein: „Ich hätte gerne auch von einer Universität gehört, welchen Einfluss eine Kindheit im Spital oder im Heim auf das Leben von Erwachsenen hat [...]. Wir leben mit den Erfahrungen und dem, was das mit uns gemacht hat, alleine [...]. Solche Forschungsthemen hätte ich mir von den Disability Studies erwartet. Die sind aber nie gekommen“ (S. 36). Das Thema "Vereinnahmung" taucht insbesondere am Ende der eindrücklichen Diskussion auf und wird mit den Stichworten "Inklusionspädagogik, inklusiver Forschung und Teilhabeforschung" illustriert. Insbesondere Volker Schönweise greift das in seinem Beitrag auf und verweist auf die Gefahr, nicht nur durch einen Markt der (Behinderungs-)Dienstleister:innen, sondern auch eines Wissenschaftsmarktes zum Objekt gemacht zu werden: „Es gibt auch in Zukunft die Notwendigkeit, sich mit 'unseren' Inhalten auseinanderzusetzen, die wir mit den Disability Studies verbinden, auch wenn uns dieser Begriff vielleicht genommen werden wird, so wie uns die Ideen zu Integration, Inklusion, Partizipation in der Tendenz schon genommen wurden. Neue Begriffe werden am Markt der Begriffe derzeit hervorgehoben wie Teilhabe, die dann so de-konstruiert werden, dass zum Schluss eigentlich niemand mehr weiß, was damit gemeint ist. Gerade der Teilhabebegriff kann leicht zum Opfer von Kommerzialisierung oder politischer Vereinnahmung werden“ (S. 38).

Wer es geschafft hat, die weit über 100 Seiten durchzuarbeiten, die in dem Sammelband von Wansing et al. alleine der Begriffsklärung von „Teilhabe“ gewidmet sind, könnte sich die Frage stellen, ob Volker Schönwiese Texte dieses Schlags im Auge hatte. Man tut in diesem Zusammenhang gut daran, sich mit Iris Beck daran zu erinnern, dass der Teilhabebegriff juristisch gesehen nichts weiter ist als ein „unbestimmter Rechtsbegriff“, „dessen Gehalt und dessen Reichweite [...] historisch relativ und immer wieder neu zu bestimmen ist“ (S. 41). Auch soziologisch gesehen ist Teilhabe nicht sehr viel mehr als eine abstrakte Chiffre für das, was von wem auch immer, unter welchen soziohistorischen Umständen auch immer, als Zugriff auf etwas betrachtet wird, was als soziales Gut, als Wert betrachtet wird. Dass soziale Ordnung, soziale Strukturen und soziale Ungleichheit und auch Behinderungen immer etwas mit ungleichen Teilhabemöglichkeiten zu tun haben ist eine tautologische Feststellung. Das heißt nur: Der Teilhabebegriff hat im Grunde wenig theoretisches Potential, seine Enttrivialisierung ist – wie so häufig bei soziologischem Grundlagenvokabular – nur durch soziohistorische Kontextualisierung und geduldige Analyse empirischer Teilhabeverhältnisse und damit verbundener faktischer Deutungsmuster zu leisten. Wissenschaft hat letztlich keine autonomen Werte- bzw. Güterhierarchien und damit verbundene Teilhabekriterien zu deduzieren. Dass eine große Zahl der Beiträge auf einen wie immer konzeptuell angereicherten Lebenslagenansatz abhebt, ist so durchaus nachvollziehbar. Nur: Einlösbar ist er in der Tat nur durch Empirie und Rekurs auf soziale situierte Erfahrung und nicht durch noch mehr „Theorie“ und „Dekonstruktion“.

Dass der Teilhabebegriff in dem Band offensichtlich konzeptionell überfrachtet wird, spricht nicht gegen das Etikett „Teilhabeforschung“. Der Begriff Teilhabe eignet sich gerade wegen seiner normativen Tönung, inhaltlichen Unbestimmtheit und wegen der prestigeträchtigen sozialrechtlichen Verankerung im Behinderungsbegriff des SGB IX hervorragend dazu, Anschlussfähigkeit sowohl in die Politik wie in die Wissenschaft hinein zu organisieren, breite Bündnisse zu begründen und damit „support“, durchaus auch in Sachen Forschungsressourcen zu mobilisieren. So sehr, dass sogar die Disability Studies und ihre Vertreter:innen sich imstande sehen, unter seiner Fahne einen – aus ihrer Sicht – „Pakt mit dem Teufel“ einzugehen oder auch nur: einen Fuß in der Tür zu behalten. So oder so finden diese sich unversehens eingereiht in eine Koalition mit den eigentlich perhorreszierten „Anwendungs- und Praxiswissenschaften“, und darüber hinaus in ein ausgesprochen gouvernementales, regierungsnahes institutionelles Geflecht, das man durchaus auch als eine Art Kartell betrachten kann. Es geht dabei nicht nur um die Monopolisierung staatlicher Mittel für ebenso regierungsnahe Formen sozialpolitischer Forschung, sondern auch darum – via Forschung – Einfluss auf den sozialstaatlichen Ressourceneinsatz für die Bedürfnisse und Anliegen von Bürger:innen mit Behinderungen und dessen Legitimation auszuüben. Das ist nicht denunziatorisch gemeint. Besser die Disability Studies sind dabei, als sie sind es nicht – als kritisches Korrektiv oder in welcher Rolle auch immer. Aber sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass es bei dem Unternehmen Teilhabeforschung nicht mehr nur um eine Form bewegungsnaher Emanzipationspolitik und einen Kampf um die Hegemonie über die soziokulturelle Semantik von Behinderung geht, sondern dass die Politisierung des Behinderungsbegriffs hier eine auf sozialpolitische und wohlfahrtsstaatliche Organisation und Lobbyarbeit abzielende Wendung nimmt, in dem der disziplinpolitische „Streit der Fakultäten“ (Kant) nur noch eine beiläufige Rolle spielt. Insofern sind die Mahnungen der Frauen und Männer „der ersten Stunde“ mögliche Vereinnahmungen und Usurpationen emanzipatorischer Anliegen kritisch im Blick zu behalten, nur zu berechtigt. Aber, wenn es, wie Marx als Urgroßvater aller kritischen Wissenschaft sagt, „darauf ankömmt, die Welt zu verändern“, gehört das eben dazu.

4 Ausblick

Es ging mir in diesem Beitrag darum, die m. E. grundsätzliche Unvermeidlichkeit der Politisierung der Kategorie Behinderung heraus zu stellen. Man kann als Soziolog:in daran und an den Unternehmungen von Disability Studies und Teilhabeforschung teilhaben oder auch nicht. Faktisch sind deren Vertreter:innen sehr oft selbst gelernte Soziolog:innen. Das muss kein Fehler sein. Aber angesichts des Umstandes, dass die empirische Forschungsbilanz auch nach mehr als 40 Jahren Disability Studies nach wie vor Wünsche offenlässt, ist auch klar: Sowohl für die Disability Studies wie die Teilhabeforschung könnte es, gerade wenn sie sich nun derlei gouvernementale Verstrickungen leisten, von Nutzen sein, wenn es in der disziplinär autonom institutionalisierten Soziologie (mehr?) Forscher:innen gäbe, die sich des Themas Behinderung auch unbeeinträchtigt von der Brille normativer Vorgaben annehmen, sich ohne Vorab-Bekenntnisse zu Deontologisierung und UNBRK schlicht für deren empirische Realität, einschließlich der lebensweltlichen Erfahrungen der davon betroffenen Menschen interessieren. Auch bedarf es – das kann die im Ganzen anregende Lektüre der vorgestellten Bücher ebenfalls zeigen – gelegentlich entschiedener Korrektive der so beliebten politisierten Zugriffe auf soziologische Theorien. So etwa, wenn der machttheoretische Kulturalismus Foucaults pauschal als emanzipatorisch, die durchaus verwandte soziologische Kulturtheorie Parsons dagegen als affirmativ verkauft wird, wenn ausgerechnet die genuin soziologische Krankheitstheorie des Letzteren als Ausdruck eines medizinischen/individuellen Modells gehandelt wird, wenn Goffman und dem Symbolischen Interaktionismus Naturalismus vorgeworfen wird, wenn Bourdieu umstandslos für einen poststrukturalistischen Konstruktivismus in Anspruch genommen wird oder wenn behauptet wird, Luhmanns Differenzierungstheorie argumentiere mit „Mitgliedschaften“ oder „Zugehörigkeiten“ von Menschen in gesellschaftlichen Funktionssystemen. Das alles zeugt, um es höflich zu sagen, nicht von Textkenntnis. Besonders ärgerlich ist auch die nicht nachvollziehbare Ausgrenzung des 2023 verstorbenen Behindertensoziologen Günther Cloerkes als Vertreter einer „pädagogischen Hilfswissenschaft“, der die Rolle von Kategorisierungsprozessen nicht gesehen habe (Karim in Waldschmidt 2022, S. 145–146). Wer Cloerkes' Texte liest, insbesondere die im Gefolge seiner Dissertation (Cloerkes 1980), muss zwingend zu dem Schluss kommen, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Cloerkes, selbst von Behinderung betroffen, war ein entschiedener Kritiker der Medikalisierung von Behinderung und gerade die Verflochtenheit der Konstruktion von Normalität und Behinderung hatte er ebenso im Blick wie deren soziokulturelle Relativität. In Wirklichkeit wäre Cloerkes, der zudem die sozialisatorischen Erfahrungen der Generation der Krüppelbewegung teilt, als Vertreter der Disability Studies avant la lettre zwingend zu würdigen. Insofern: Der kritische Dialog in alle Richtungen kann nur allen nützen.

Literatur

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Online erschienen: 2024-11-28
Erschienen im Druck: 2024-11-27

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
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  5. Zur Herausforderung, die Lebensführung heterogener Mittelschichten zu erforschen
  6. Und ewig grüßt die Mittelschicht
  7. Quo vadis, deutsche Mittelschicht?
  8. Essay
  9. In welcher Soziologie arbeiten (und leben) wir? Eine Einladung.
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  28. Andreas Zick / Beate Küpper / Nico Mokros (Hrsg.), Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland. Bonn: J. H. W. Dietz Verlag 2023, 424 S., kt., 17,00 €
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  32. Franz Schultheis / Stephan Egger / Charlotte Hüser, Habitat und Habitus: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 275 S., eBook, 74,99 €
  33. Rezensentinnen und Rezensenten des 4. Heftes 2024
  34. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
  35. Gesamtverzeichnis 2024 der besprochenen Bücher
  36. Gesamtverzeichnis 2024 der eingegangenen Bücher
Downloaded on 12.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2071/html
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