Rezensierte Publikation:
Nils C. Kumkar / Stefan Holubek-Schaum / Karin Gottschall / Betina Hollstein / Uwe Schimank, Die beharrliche Mitte – Wenn investive Statusarbeit funktioniert. Wiesbaden: Springer VS 2022, 337 S., kt., 42,79 €
Jedes Heft der Soziologischen Revue ist ein Spiegelbild der erstaunlichen Vielfalt der Forschungsthemen und Forschungsgegenstände der Soziologie und der konzeptionellen und methodischen Zugänge zu ihnen. Ich staune jedes Mal, wenn wieder ein fertiges Manuskript der Zeitschrift vorliegt. Mit dem Editorial dieses Heftes möchte ich Sie an diesem Staunen teilhaben lassen, indem ich die Gegenstände der größeren Besprechungsformate dieses Heftes schlaglichtartig beleuchte.
In dem Symposium, den beiden Essays und den beiden Sammelbesprechungen des vorliegenden Heftes der Soziologischen Revue geht es um die Mittelschicht, um die Handwerkskunst soziologischen Forschens, um das neue Gebiet der Datenwissenschaften, um gesellschaftliche Veränderungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie und um die unvermeidliche Politisierung der Kategorie der Behinderung.
Um die Mittelsicht geht es in dem Symposium zum Buch Die beharrliche Mitte von Nils C. Kumkar, Stefan Holubek-Schaum, Karin Gottschall, Betina Hollstein und Uwe Schimank. Nicole Burzan und Philipp Kadelke formulieren als zentrale Schlussfolgerung des Buches, „dass im Gegensatz zu Diagnosen breiter Abstiege oder Polarisierungen (etwa bei Nachtwey, 2016; Reckwitz, 2017) die Lebensführung der Mittelschicht zumindest nennenswert als unaufgeregt beharrlich charakterisiert werden kann“. Holger Lengfeld ordnet die Befunde des Buches in empirische Befunde ein, die dafürsprächen, dass – ganz im Gegensatz zu den Diagnosen des Abstiegs der Mittelschicht – in den letzten 15 Jahren „weitgehend Stabilität“ herrsche. Die der Studie von Kumkar et al. zu Grunde liegende „Leitthese, dass Angehörige der Mittelschicht in ihrer Lebensführung ‚investive‘ Statusarbeit betreiben“, hält Lengfeld durch die in dem Buch präsentierten Befunde widerlegt: „Ich würde sagen: Das Gros der Interviewten sieht einfach nur keinen ‚Sinn‘ darin, mehr aus sich zu machen als nötig. [...] Vielleicht ist der überraschende Grund für den Mismatch von These und Material ja, dass der Wohlstand unserer Gesellschaft derart groß und, bei aller auch berechtigter Kritik an sozialer Ungleichheit, auch derart breit verteilt ist, dass es für große Teile der Mitte schlicht ausreicht, ein nicht-investives Leben zu führen, um gut über die Runden zu kommen“. Gunter Weidenhaus vermutet, dass die Diskrepanz zwischen Reckwitz’ Krisendiagnostik einer in eine alte und eine neue gespaltenen Mittelschicht und der beharrlichen Mitte von Kumkar et al. etwas mit der jeweils zu Grunde liegenden Methode der Datenerhebung zu tun hat. „Während die Sinusstudien [auf die Reckwitz rekurriert; Anm. d. Verf.] im Wesentlichen Einstellungsbefragungen zu gesellschaftlichen Themen durchführen, die häufig bereits im medialen Diskurs Polarisierungsprozesse durchlaufen haben, sind narrativ-biographische Interviews [die Kumkar et al. zu Grunde legen; Anm. d. Verf.] eher dazu geeignet grundlegende Orientierung bezüglich der Lebensführung offenzulegen.“ Die eine Befragungsmethode habe dementsprechend den Effekt der Überbetonung von Polarisierungen, während die andere deren Unterbelichtung begünstige.
Den deutschen Titel des Bandes Soziologische Tricks: Wie wir über Forschung nachdenken können von Howard S. Becker hält Reiner Keller nicht so gelungen. Denn in dem Buch gehe es weder um Tricks im alltagssprachlichen Sinne noch um ein distanziertes Nachdenken über Forschung. Vielmehr, so stellt es Keller in seinem Essay heraus, geht es um soziologische Handwerkskunst, also um das wertvolle Berufswissen der Soziologie. Und es gehe darum, dieses Wissen und Können in der Berufspraxis des Forschens fruchtbar einzusetzen. Wer Howard S. Beckers Vorliebe für „jargon-freies und schnörkelloses Schreiben“ teilt, kennt vermutlich seine Kunst des professionellen Schreibens und hat sich für die eigene Schreibpraxis einige der dort präsentierten Überlegungen und Ratschläge zu eigen gemacht. Geht es dort vor allem um praktische Anleitungen für das soziologische Schreiben, so ist das hier besprochene Buch Keller zufolge grundsätzlicher und bietet „ein reich gefülltes Archiv und eine Ideensammlung, die das soziologische Forschen zur Ernsthaftigkeit und Vorsicht im Umgang mit eigenem disziplinären Vergessen gemahnen“, ein Buch, das sich am besten als Werkzeugkasten mit Denkwerkzeugen nutzen lasse. Reiner Keller ist ein exzellenter Kenner des Werks von Howard S. Becker. Das macht sein Essay auch unabhängig von dem besprochenen Buch höchst lesenswert.
Viele Universitäten und Hochschulen bieten inzwischen Studiengänge in Datenwissenschaften an, meist unter dem englischen Begriff Data Science. Was es mit diesem neuen Wissensgebiet auf sich hat, ist Thema des Bandes Datenwissenschaften und Gesellschaft von Philippe Saner, mit dem sich Niels Taubert in seinem Essay befasst. Anknüpfend an die Feldtheorie Bourdieus charakterisiert Saner die Datenwissenschaften als einen Wissens- und Tätigkeitsbereich, der im Zwischenraum zwischen bestehenden sozialen Feldern angesiedelt ist. Taubert folgt zwar den empirischen Befunden Saners, die auf „ein hohes Maß an Unbestimmtheit und Fluidität des Verständnisses der Datenwissenschaften und ihrer zentralen Konzepte“ hinweisen. Taubert sieht dennoch aber auch „deutliche Hinweise auf die Existenz von Regeln und stabilen Strukturen im Feld mit identifizierbaren Positionen der verschiedenen Akteur:innen“, weshalb es aus seiner Sicht naheliegender ist, „den Datenwissenschaften in der Feldtheorie Bourdieus den Status eines Feldes zuzuweisen“.
Im Heft 2 des Jahrgangs 2021, in dem ich mich mit dem Format der Sammelbesprechung auseinandergesetzt habe, habe ich die unweigerliche Heterogenität der in diesem Format zu besprechenden Bücher als Herausforderung für die Rezensent:innen herausgestellt. Ich schrieb: „Die besondere Herausforderung für die Rezensent:innen besteht also darin, trotz dieser Heterogenität ein übergreifendes Thema zu identifizieren, ein einheitliches Beurteilungskriterium oder einen beobachtungsleitenden Gesichtspunkt anderer Art, der bzw. das es ermöglicht, die bei einer Sammelbesprechung gewünschte Verbindung zwischen den zu besprechenden Büchern herzustellen. Gleichzeitig sollte dieser beobachtungsleitende Gesichtspunkt es aber auch erlauben, den zu besprechenden Neuerscheinungen in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden.“
Der übergreifende Bezugspunkt, unter den Yasemin Niephaus ihre Sammelbesprechung zu Neuerscheinungen zur soziologischen Befassung mit gesellschaftlichen Veränderungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stellt, ist die Frage danach, inwieweit in ihnen soziologisches Orientierungswissen für die Gesellschaft bereitgestellt wird. Ein solches Orientierungswissen bieten die besprochenen Studien nach Auffassung von Niephaus vor allem dann, wenn sie den gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie unter „Berücksichtigung der spezifischen ökonomischen Gegebenheiten des digitalen Kapitalismus“ analysieren.
Der übergreifende Gesichtspunkt, den Jörg Michael Kastl seiner Sammelbesprechung über Neuerscheinungen aus dem Feld der Disability Studies zu Grunde legt, besteht in der These, „dass es sich bei ‚Behinderung‘ um eine in besonderem Maße politisierungsfähige und -bedürftige Kategorie handelt“. Ausgangspunkt für diese These ist ein Verständnis von Behinderung, das sozialpolitisch an Boden gewinnt. Diesem Verständnis zufolge lässt sich Behinderung nicht auf körperliche Merkmale reduzieren, sondern entsteht „erst aus dem Zusammenspiel von biologischen Strukturen mit durch soziale Handlungsanforderungen erzeugten (physischen, institutionellen, symbolischen u. a.) Barrieren der sozialen bzw. sozial eingerichteten Umwelt“. Damit wird die politische Frage nach den sozial erzeugten Barrieren unweigerlich zum Bestandteil der Befassung mit Behinderung. Anhand der besprochenen Bücher zeichnet Kastl die Amalgamisierung politischer und wissenschaftlicher Ansprüche in den Disability Studies und der Teilhabeforschung nach. Deren gesellschaftspolitische Wirksamkeit positiv hervorhebend, weist er aber auch darauf hin, dass „die empirische Forschungsbilanz auch nach mehr als 40 Jahren Disability Studies nach wie vor Wünsche offenlässt“ und wünscht er sich mehr empirische Forschung zum Thema aus der Perspektive der disziplinär verfassten Soziologie.
Neben den zuvor betrachteten Besprechungen enthält das Heft zwei Doppelbesprechungen und acht Einzelbesprechungen, die Neuerscheinungen vorstellen, die – vom Co-Parenting bis zur Visuellen Soziologie – ebenfalls aus den unterschiedlichsten Bereichen der Soziologie stammen. Doch lesen Sie selbst!
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Zur Herausforderung, die Lebensführung heterogener Mittelschichten zu erforschen
- Und ewig grüßt die Mittelschicht
- Quo vadis, deutsche Mittelschicht?
- Essay
- In welcher Soziologie arbeiten (und leben) wir? Eine Einladung.
- Datenwissenschaften als Zwischenraum
- Sammelbesprechung
- Soziologisches Orientierungswissen in der COVID 19-Pandemie
- Disability Studies, Teilhabeforschung und die Soziologie – „Behinderung“ im Spannungsfeld von (Inter-)Disziplinarität und Politisierung
- Doppelbesprechung
- Perspektiven auf sozialen Zusammenhalt
- Die Wissenssoziologie nach Foucault und ihre Forschungsprogramme
- Einzelbesprechung Co-Parenting
- Christine Wimbauer, Co-Parenting und die Zukunft der Liebe: über post-romantische Elternschaft. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 298 S., kt., 29,00 €
- Einzelbesprechung Feminismus
- Katharina Hoppe, Donna Haraway zur Einführung. Hamburg: Junius 2022, 228 S., kt., 15,90 €
- Einzelbesprechung Islamischer Religionsunterricht
- Anna Körs (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht in Deutschland: Ein Kaleidoskop empirischer Forschung. Wiesbaden: Springer VS 2023, 188 S., eBook, 64,99 €
- Einzelbesprechung Organisationssoziologie
- André Kieserling / Martin Weißmann (Hrsg.), Organisierte Grenzrollen: Außendienst und Publikumskontakte in soziologischer Perspektive. Wiesbaden: Springer VS 2023, 432 S., eBook, 59,99 €
- Einzelbesprechung Phänomenologische Soziologie
- Robert Gugutzer, Das Pathos des Sozialen: Beiträge zur Neophänomenologischen Soziologie. Weilerswist: Velbrück, 2023, 300 S., kt., 29,90 €
- Einzelbesprechung Rechtsextremismus
- Andreas Zick / Beate Küpper / Nico Mokros (Hrsg.), Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland. Bonn: J. H. W. Dietz Verlag 2023, 424 S., kt., 17,00 €
- Einzelbesprechung Sportsoziologie
- Karl-Heinrich Bette / Felix Kühnle, Flitzer im Sport: Zur Sozialfigur des Störenfrieds. Bielefeld: transcript 2023, 202 S., kt., 29,50 €
- Einzelbesprechung Visuelle Soziologie
- Franz Schultheis / Stephan Egger / Charlotte Hüser, Habitat und Habitus: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 275 S., eBook, 74,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 4. Heftes 2024
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
- Gesamtverzeichnis 2024 der besprochenen Bücher
- Gesamtverzeichnis 2024 der eingegangenen Bücher
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Zur Herausforderung, die Lebensführung heterogener Mittelschichten zu erforschen
- Und ewig grüßt die Mittelschicht
- Quo vadis, deutsche Mittelschicht?
- Essay
- In welcher Soziologie arbeiten (und leben) wir? Eine Einladung.
- Datenwissenschaften als Zwischenraum
- Sammelbesprechung
- Soziologisches Orientierungswissen in der COVID 19-Pandemie
- Disability Studies, Teilhabeforschung und die Soziologie – „Behinderung“ im Spannungsfeld von (Inter-)Disziplinarität und Politisierung
- Doppelbesprechung
- Perspektiven auf sozialen Zusammenhalt
- Die Wissenssoziologie nach Foucault und ihre Forschungsprogramme
- Einzelbesprechung Co-Parenting
- Christine Wimbauer, Co-Parenting und die Zukunft der Liebe: über post-romantische Elternschaft. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 298 S., kt., 29,00 €
- Einzelbesprechung Feminismus
- Katharina Hoppe, Donna Haraway zur Einführung. Hamburg: Junius 2022, 228 S., kt., 15,90 €
- Einzelbesprechung Islamischer Religionsunterricht
- Anna Körs (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht in Deutschland: Ein Kaleidoskop empirischer Forschung. Wiesbaden: Springer VS 2023, 188 S., eBook, 64,99 €
- Einzelbesprechung Organisationssoziologie
- André Kieserling / Martin Weißmann (Hrsg.), Organisierte Grenzrollen: Außendienst und Publikumskontakte in soziologischer Perspektive. Wiesbaden: Springer VS 2023, 432 S., eBook, 59,99 €
- Einzelbesprechung Phänomenologische Soziologie
- Robert Gugutzer, Das Pathos des Sozialen: Beiträge zur Neophänomenologischen Soziologie. Weilerswist: Velbrück, 2023, 300 S., kt., 29,90 €
- Einzelbesprechung Rechtsextremismus
- Andreas Zick / Beate Küpper / Nico Mokros (Hrsg.), Die distanzierte Mitte: Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland. Bonn: J. H. W. Dietz Verlag 2023, 424 S., kt., 17,00 €
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- Einzelbesprechung Visuelle Soziologie
- Franz Schultheis / Stephan Egger / Charlotte Hüser, Habitat und Habitus: Pierre Bourdieus visuelle Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 275 S., eBook, 74,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 4. Heftes 2024
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
- Gesamtverzeichnis 2024 der besprochenen Bücher
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