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Karl-Heinrich Bette / Felix Kühnle, Flitzer im Sport: Zur Sozialfigur des Störenfrieds. Bielefeld: transcript 2023, 202 S., kt., 29,50 €

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Published/Copyright: November 28, 2024
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Karl-Heinrich Bette / Felix Kühnle, Flitzer im Sport: Zur Sozialfigur des Störenfrieds. Bielefeld: transcript 2023, 202 S., kt., 29,50 €


Schlüsselwörter: Störung; Sport; soziale Systeme; Parasit

Sport ist seit einigen Jahrzehnten Gegenstand soziologischer Forschung. Trotz vielfältiger Untersuchungen und umfangreicher Literatur zu dem Feld entdecken Bette und Kühnle einen bisher wenig beachteten Akteur: Flitzer. Flitzer definieren die Autoren als „jene Personen, die nach emsiger und heimlicher Vorbereitung plötzlich aus dem Zuschauerraum oder den Stadionkatakomben auf die Wettkampffläche sprinten und dabei die diversen Schutzvorkehrungen der Veranstalter überwinden, um sich überfallartig Spielern und Publikum zu präsentieren“ (S. 8–9). Flitzer treten in unterschiedlichen Sportarten auf. Sie bevorzugen jedoch Stadien, bei denen sich die Blicke aller Zuschauenden auf den Innenraum fokussieren, im Gegensatz zu etwa Rennstrecken, bei denen ihnen nur partielle Aufmerksamkeit zuteilwird. Flitzer können bekleidet, kostümiert, teilbekleidet oder gänzlich entkleidet sein. Dennoch sind Flitzer eine Ausnahme im Sport. Sie treten vereinzelt auf, auch wenn sie jüngst bei der EURO 2024 vermehrt Aufmerksamkeit erregten. Ihre Auftritte sind von kurzer Dauer, bevor sie vom Sicherheitspersonal entfernt werden.

Wegen dieses kurzen und vereinzelten Auftretens und vor allem in Anbetracht von zahlreichen wahrgenommen gesellschaftlichen Krisen stellt sich zunächst die Frage nach der Relevanz des eher peripheren Phänomens von Flitzern im Sport. Diese Frage haben die Autoren erahnt und thematisieren sie direkt zu Beginn des Buches. Mit Rückgriff auf Simmel (1908) oder Hirschauer (1999) argumentieren sie, dass die Soziologie menschliche Handlungsmuster untersucht, die anderen Wissenschaften als belanglos oder peinlich gelten mögen. Sie betonen, dass Forschungen zu „Störenfrieden“ Erkenntnisse über ausdifferenzierte soziale Systeme liefern, da die Systeme an der Art und Weise der Störung „durch ihre funktionale Ausrichtung und ihr Affizierungspotential ganz wesentlich beteiligt sind“ (S. 8). Die Forschung zu Flitzern als Störenfriede liefert somit Erkenntnisse zum Sport und dessen Rolle in der Gesellschaft. Ihre Erkenntnisse gewinnen die Autoren aus anderen, vor allem nicht wissenschaftlichen, Veröffentlichungen zu Flitzern, wie Zeitungsberichten, Dokumentarfilmen, anderen Videos wie TV-Auftritten in Talkshows, Podcasts und Büchern bekannter Flitzer. Die darin artikulierten Motive und Legitimationen verstehen Bette und Kühnle mit Rückgriff auf Luhmann (2000) als sozialisatorisch erlernte Konstruktionen. Diese sammeln die Autoren, um sie anschließend „soziologisch zu deuten und zu dekonstruieren“ (S. 23). Für einen empirischen Beitrag könnte die Darstellung der Methodologie allerdings detaillierter sein.

Die ersten vier Kapitel behandeln jeweils ein Element der Störung. Das erste Element ist die Nacktheit, die viele der Flitzer auszeichnet. Die Nacktheit steht Regeln der Verhüllung bestimmter Körperregionen in der Gesellschaft und im Sport gegenüber. Viele Sportarten haben detaillierte Kleidungsvorschriften, wobei Athlet:innen und ihr sportlicher Körper oft semi-erotisch inszeniert seien. Die (Semi-)Nacktheit der Flitzer wird demgegenüber als Abweichung von diesen Normen und Provokation inszeniert (S. 48). Das zweite Element ist die Grenzüberschreitung bzw. Raumentweihung. Denn im Sport ist der Stadioninnenraum gemäß sozialer Normen nur einer kleinen Gruppe vorbehalten, die diesen auch nur nach spezifischen Regeln (etwa Ein- und Auswechslung) nutzen dürfen. Zuschauer:innen sind auf die Ränge oder vor Bildschirme verbannt. Flitzer verschaffen sich zeitweise Zugang zu diesem Territorium und setzen sich damit über Normen hinweg. Je größer die Aura und der Schutz gegen Störungen des jeweiligen Territoriums sind, desto größer scheint dessen Anziehungskraft auf Flitzer.

Um das Eindringen zu ermöglichen, nutzen Flitzer die Überrumpelung, die als drittes Element in einem weiteren Kapitel thematisiert wird. Die Autoren beschreiben, dass die Flitzer durch ihr plötzliches Eindringen den Wettkampf stören und diesen für eine begrenzte Zeit unterbrechen. Damit verdeutlichen sie die „autonome Zeit“ (S. 66) des ausdifferenzierten Wettkampfes und fordern die Sicherheitskräfte heraus, diese wiederherzustellen. Flitzer planen ein, dass sie unvermeidlich eingefangen werden. Die Jagd nach ihnen ist Teil ihrer Inszenierung. Das vierte beschriebene Element ist das Erleben von Handeln. Im Wettkampf ist die Aufmerksamkeit ungleich verteilt, ebenso wie die Fähigkeiten, diese zu beeinflussen. Bei beiden existieren maßgebliche Unterschiede zwischen Zuschauenden und Athlet:innen. Zuschauende sind eher passiv, sie verfolgen den Wettkampf, den andere (stellvertretend) austragen. Aus dieser Passivität brechen die Flitzer aus (S. 77–90). Sie werden nun zum Subjekt, welches die Zuschauer:innen verfolgen und bisweilen bejubeln. Wobei die Autoren betonen, dass für letzteres ein Neutralitätsgebot gilt. Flitzer sollten nicht die Farben einer der Mannschaften tragen und auch nicht den Wettbewerbsausgang beeinflussen. Andernfalls liefen sie Gefahr, den benachteiligten Anhang gegen sich aufzubringen. Bette und Kühnle beschreiben, dass Flitzer oft den Zuspruch des Publikums vor Ort erhalten, während die TV-Übertragungen sie nicht zeigen, um nicht zur Nachahmung anzuregen.

Im fünften Kapitel setzen sich die Autoren mit Gründen des Flitzens auseinander. Dieses verorten die Autoren im „Individualitäts- und Einzigartigkeitsbegehren“ (S. 91) der Flitzer. Bette und Kühnle gehen davon aus, dass in modernen Gesellschaften der soziale Status an „Karriere in Organisationen und deren Rangzuteilung“ (S. 92) gebunden ist. Für Flitzer dagegen beschreiben sie ein posttraditionelles Leistungsverständnis, bei dem es nicht mehr darum geht, bürgerlichen Normen des Statuserwerbs zu folgen, sondern durch den Tabubruch als Individuum sichtbar zu werden. Der Flitzer Jimmy Jump beschreibt, dass er lange versuchte für Film und Fernsehen gecastet zu werden und nachdem er diese Form der Anerkennung als nicht aussichtsreich betrachtete, seine Karriere als Flitzer begann. In der Gesellschaft des Spektakels (Debord, 1996), in der Sport große Aufmerksamkeit zuteilwird, eignet sich dieser in besonderer Weise dazu. In diesem Zusammenhang beschreiben Bette und Kühnle die „parasitäre Inanspruchnahme dieses Sozialsystems durch Flitzer“ (S. 91).

Passend zu ihrem Streben nach Ruhm ist auch, dass viele Flitzer Erinnerungsarbeit betreiben, um dafür zu sorgen, dass ihre Berühmtheit auch nach Sekunden des Ruhms in Erinnerung bleibt. Die Dokumente, auf denen das Buch beruht, sind solche Zeugnisse der Erinnerungsarbeit. Bette und Kühnle arbeiten dabei heraus, dass besonders Serienflitzer Unterstützung eines Netzwerks erhalten, dies beinhaltet „Spotter“, die das Geschehen beobachten und Hinweise für den Zeitpunkt des Auftritts geben, Unterstützung bei Spezialkleidung, der Pflege der Erinnerungen oder auch finanzielle Unterstützung leisten. Damit ist der nach Individualisierung strebende Flitzer selbst Teil einer Arbeitsteilung und damit ein „typisches modernes Phänomen“ (S. 112).

Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit öffentlichen Legitimationsrhetoriken der Flitzer. Zum einen geht es ihnen darum, sich als Vorbild für andere zu inszenieren und zum anderen, sich gegen Rhetoriken zur Wehr zu setzen, die den Flitzern die Legitimität ihres Handelns absprechen. Die Flitzer sprechen ihrem Handeln einen Sinn zu. Allerdings beschreiben Bette und Kühnle die Flitzer dabei als „wenig kreativ“, da sie auf übliche „spaß-, protest-, freiheits-, natürlichkeits-, und kunstbezogenen Legitimationen“ (S. 117) zurückgreifen. Auf das Flitzen folgt im Nachgang die Sanktionierung, welche im achten Kapitel thematisiert wird. Diese erfolgt meist in Form von Betretungsverboten durch Sportveranstalter, die ihre Normen und Regeln durch die Flitzer bedroht sehen, und in Form einer aus Sicht der Autoren meist recht milden juristischen Sanktionierung, die oft eher die öffentliche Nacktheit sanktioniert. Die Flitzer wiederum antizipieren diese finanzielle Sanktionierung zumeist und nutzen ihre Verurteilung oder den Erhalt eines Bußgelds zur Inszenierung im Internet. Darüber hinaus beinhaltet das Buch im Kapitel acht einen Exkurs, der sich mit Hochstaplern beschäftigt, die sich ebenfalls im Sport bewegen und diesen nutzen, um sich auf Veranstaltungen oder Bilder zu schleichen und dadurch Anerkennung erhalten. Anders als Flitzer versuchen diese gerade nicht aufzufallen, um den Zugang zu erhalten. Ähnlich wie diese zelebrieren sie nachträglich ihren Ruhm durch Inszenierung im Internet.

Das abschließende Kapitel des Buches fasst die Erkenntnisse der einzelnen Kapitel nochmals zusammen und entwickelt weiterreichende Implikationen. Besonders interessant sind die weitergehenden Überlegungen zu parasitären Elementen des Flitzens (siehe Kap. 5). Mit Bezug auf Seres (1981) beschreiben Bette und Kühnle, dass Flitzer zwar Unordnung stiften, sie den Wirt, also den Sport, jedoch nicht zerstören. Flitzer sind auch nicht darauf aus, die Regeln des Sports zu ändern oder zu untergraben. Stattdessen analysieren die Flitzer das System des Sports genau, um herauszuarbeiten, wo eine Grenzüberschreitung aus ihrer Sicht lohnenswert erscheint und welche Normen im Sinne einer Transgression überschritten werden sollen. In diesem Kontext analysieren die Autoren weiter, dass der Sport selbst parasitäre Züge aufweist, da er Ressourcen unterschiedlicher anderer sozialer Systeme wie Wirtschaft, Politik und Massenmedien für sich in Anspruch nimmt.

Die 202 Seiten des Buches stellen eine umfassende Betrachtung eines zeitgeschichtlich jungen Phänomens dar. Dabei nimmt das Buch Bezug auf unterschiedliche soziologische Theorietraditionen, auch wenn die hauptsächliche Verortung der Autoren in der Systemtheorie deutlich wird. Es gelingt den Autoren anhand der Störung durch Flitzer soziale Normen und Regeln des Sports zu illustrieren (z. B. Rolle der Zuschauer:innen, Bedeutung des Innenraums). Dies gelingt durchweg überzeugend, und bietet gerade für Personen, die sich bisher noch nicht mit sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf den Sport beschäftigt haben, spannende Einsichten. Das Buch stellt dabei kein klassisches Lehrbuch dar. Zusätzlich liefert das Buch neue Erkenntnisse und Ansätze, etwa zum Parasitismus des Sports. Daher bietet das Buch auch für Expert:innen der Sportsoziologie spannende Ansatzpunkte.

Literatur

Debord, G. (1996) [1967]. Die Gesellschaft des Spektakels. edition TIAMAT.Search in Google Scholar

Hirschauer, S. (1999). Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit. Eine Fahrstuhlfahrt. Soziale Welt 50(3), 221–246.Search in Google Scholar

Luhmann, N. (2000). Die Politik der Gesellschaft. Suhrkamp. Search in Google Scholar

Seres, M. (1981). Der Parasit. Suhrkamp.Search in Google Scholar

Simmel, G. (1908). Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Duncker & Humbolt.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-11-28
Erschienen im Druck: 2024-11-27

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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