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Die Wissenssoziologie nach Foucault und ihre Forschungsprogramme

Saša Bosančić / Reiner Keller (Hrsg.), Diskurse, Dispositive und Subjektivitäten: Anwendungsfelder und Anschlussmöglichkeiten in der wissenssoziologischen Diskursforschung. Wiesbaden: Springer VS 2022, 325 S., eBook, 54,99 € Saša Bosančić / Folke Brodersen / Lisa Pfahl / Lena Schürmann / Tina Spies / Boris Traue (Hrsg.), Following the Subject: Grundlagen und Zugänge empirischer Subjektivierungsforschung - Foundations and Approaches of Empirical Subjectivation Research. Wiesbaden: Springer VS 2022, 329 S., eBook, 59,99 €
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Published/Copyright: November 28, 2024
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Saša Bosančić / Reiner Keller (Hrsg.), Diskurse, Dispositive und Subjektivitäten: Anwendungsfelder und Anschlussmöglichkeiten in der wissenssoziologischen Diskursforschung. Wiesbaden: Springer VS 2022, 325 S., eBook, 54,99 €

Saša Bosančić / Folke Brodersen / Lisa Pfahl / Lena Schürmann / Tina Spies / Boris Traue (Hrsg.), Following the Subject: Grundlagen und Zugänge empirischer Subjektivierungsforschung - Foundations and Approaches of Empirical Subjectivation Research. Wiesbaden: Springer VS 2022, 329 S., eBook, 59,99 €


Die beiden Sammelbände „Diskurse, Dispositive und Subjektivitäten“, herausgegeben von Saša Bosančić und Reiner Keller und „Follow the Subject“, herausgegeben von Saša Bosančić, Folke Brodersen, Lisa Pfahl, Lena Schürmann, Tina Spies und Boris Traue, geben einen Einblick in aktuelle Entwicklungen von an Foucault angelehnten Tendenzen der Wissenssoziologie in Deutschland.

Die Autor:innen kommen zumeist aus der Soziologie und angrenzenden Feldern. Sie beschäftigen sich mit einer Vielfalt empirischer Gegenstände, etwa zum Bereich Schule, Umwelt, Krankheit/Tod und neoliberalem Umbau. In „Diskurse, Dispositive und Subjektivitäten“ findet man Arbeiten zu Hochbegabtenförderung (Arne Böker), Lehrerwissen (Susann Hofbauer), Fremdsprachenunterricht in Brasilien (Dörthe Uphoff), Naturkapital (Markus Kurth und Markus Leibenath), nachhaltigem Konsum (Steffen Hamburg), utopischen Dokumentarfilmen (Mareike Zobel), Hantaviren (Sebastian Kleele, Marion Müller und Kerstin Dressel), Sterben in sozialen Medien (Katharina Gallant), Darmkrebs (Eckart Seilacher, Marius Mainz und Matthias Zündel), Pädophilie (Folke Brodersen), Trümmerfrauenpolitik in Österreich (Maria Paun-Lauggas), deutschen Emigrant:innen in China (Anno Dederichs), zu Autismus (Yannick Zobel), predictive policing (Simon Egbert) sowie zum Neuen Museum in Berlin (Jochen Kibel).

Das ist eine Vielfalt, die den Kopf durch etwas schwirren lassen kann. „Follow the Subject“ weist demgegenüber eine klar komponiertere Struktur auf. Der Band beginnt mit theoretisch und methodologisch akzentuierten Beiträgen, die das Programm der Subjektivierungsforschung umreißen. Dann wendet er sich den mehr empirischen Fragen zu, wie dem Wohnen (Bettina Barthel und Hanna Meißner), dem Niedriglohnsektor (Lena Schürmann), psychosozialer Beratung (Simon Bohn), der Stadt-Land-Migration in Japan (Lugera Lewerich), Altenpflegeheimen (Linda Maack) und der Sonderpädagogik (Lisa Pfahl und Boris Traue).

Die Leser:innen bekommen somit zwei gleichsam empirisch gemischte Sträuße präsentiert und nicht immer kann man sich angesichts der Fülle des Materials, der Probleme und Herausforderungen leicht orientieren. Was hält die Beiträge zusammen? Als theoretische Klammern dienen zwei Forschungsprogramme, die die sozialphänomenologische Wissenssoziologie in Deutschland mit poststrukturalistischen Akzenten versehen. Es werden also wissenssoziologische Klassiker von Weber, Schütz bis Luckmann auf der einen Seite mit Figuren wie Michel Foucault, Judith Butler und Ernesto Laclau/Chantal Mouffe auf der anderen zusammengebracht. So beruft sich „Diskurse, Dispositive und Subjektivitäten“ auf die wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) im Anschluss an Berger/Luckmann und Foucault, wohingegen „Follow the Subject“ für eine post-foucaultdianische sozialwissenschaftliche Subjektivierungsforschung bzw. interpretative Subjektivierungsanalyse (ISA) plädiert.

Es nicht das erste Mal, dass Forschende und ihre Forschung unter dem Schirm eines Forschungsprogramms zusammengebunden werden. Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Schulen und Feldern haben sich um Forschungsprogramme herum entwickelt, oft spontan, aber manchmal, wie in diesem Fall, in wissenschaftsstrategischer Absicht. Forschungsprogramme werden gemeinhin artikuliert, um den akademischen Diskurs zu ordnen, und zwar nicht nur inhaltlich, über Theorien, Ideen und Konzepte, sondern auch sozial, mit Blick auf die Beziehungen, die die Forschenden zueinander eingehen. Über Forschungsprogramme orientieren und positionieren sich die Forschenden. Sie sind bedeutungsoffen genug, um verschiedenster empirisch orientierter Forschung einen weiteren theoretischen Sinn zu verleihen, aber auch distinktiv genug, um die eigene Gruppe abzugrenzen und sichtbar für andere zu machen.

In diesem Fall haben wir es mit zwei Forschungsprogrammen zu tun, die einige Überschneidungen aufweisen, personell über Saša Bosančić und Folke Brodersen, die als Herausgeber bzw. Beiträger in den Bänden fungieren, sowie über die inhaltliche Verbindung der interpretativen Soziologie mit poststrukturalistischen Konzepten wie Diskurs oder Subjekt.

Theoretische Positionierungsarbeit wird vor allem in den vier ersten Beiträgen von „Follow the Subject“ geleistet. Die Einleitung skizziert die Umrisse der Subjektivierungsforschung, die die sechs Herausgeber:innen für die von diesem Band eingeläutete Buchreihe im Sinn haben. Sie bemühen das Bild von Alice in Wonderland, die sich im Kaninchenbau verliert: Wie Alice ist das Subjekt „in eine Traumlandschaft geworfen und unterschiedlichsten Herausforderungen durch Figuren, Geschehnisse und Phantasmen ausgesetzt“ (Bosančić et al., S. 2). Wir sehen hier eine Vorstellung eines Subjekts, das sich seiner eigenen Subjektivität widersetzt, das sich „an der Festlegung [seines] Selbst hadern und an der scheinbar gegebenen Unveränderlichkeit des Subjekts zweifeln“ will (Bosančić et al., S. 2). Das Subjekt wird als ein Produkt eines „Wandels der Sozialstruktur sowie der Pluralisierung und Diversität moderner Gesellschaften“ (Bosančić et al., S. 4) gesehen. Im Zentrum der vorgeschlagenen Subjektivierungsforschung steht eine „Analyse der Wechselwirkungen zwischen Subjekten und Ordnungen“, gerade auch in Reaktion „auf die liberalistischen Individualitäts- und Ordnungsmodelle spätmoderner Gesellschaften“ (Bosančić et al., S. 4). Das ist durchaus im Sinne klassischer soziologischer Akteurstheorien aber auch von Poststrukturalismus und Intersektionalitätsstudien. Die Autor:innen betonen die theoretische Offenheit ihres Projekts. Doch bei aller zu Schau gestellten Ökumene bleibt unklar, wie sich poststrukturalistische mit pragmatistischen und bewusstseinsphilosophischen Subjektbegriffen (Bosančić et al., S. 10) vertragen sollen. Und Foucaults „machtanalytische Problematisierung des Subjekts“ (Bosančić et al., S. 3) wird eher beiseitegelassen.

Die theoretischen Verortungen werden dann in dem Beitrag zur Geschichte von Subjektbegriffen von Boris Traue und Lisa Pfahl weitergeführt. Sie unterscheiden zwischen verschiedenen Typen von Subjekttheorien. Die vorgeschlagene Systematik von Subjekten der Wahrheit, der Souveränität und der Rechte ist gut informiert und deckt eine breite historische und interdisziplinäre Diskussion ab. Sie führen dann drei Begrifflichkeiten ein: „Doppelte Subjektivierung“ hebt darauf ab, dass Subjektpositionen nie einfach von außen übergestülpt werden, sondern auch aktiv verhandelt und von innen affektiv wirksam werden. „Subjektivierung durch Objektivierung“ erinnert daran, dass das Subjekt in einer als logisch und kohärent erscheinenden symbolischen Ordnung existiert, in die es zufällig geworfen ist. Und „dreifache Subjektivierung“ bezieht die Dimension von kollektiver Agency ein, von sozialen, historisch gewachsenen Bewegungen und ihrer Kritik. Traue und Pfahl bieten damit interessante konzeptuelle Weiterentwicklungen an, die über etablierte und disziplininterne Diskussionen in der Wissenssoziologie hinausgehen und eine produktive Auseinandersetzung mit den Gegenständen versprechen.

Es folgt der Beitrag von Saša Bosančič, der den Gegensatz von „starken“ Subjektbegriffen humanistisch-interpretativer Traditionen der Wissenssoziologie und von „schwachen“ Konzepten des Subjekts als diskursiven Effekts wie in Poststrukturalismus und Differenztheorie zu überwinden sucht. Im Mittelpunkt steht die Frage des Verhältnisses von Ordnung und Akteur. Bosančič schreibt Kellers Projekt der wissenssoziologischen Diskursanalyse fort, steigt aber noch tiefer in die poststrukturalistische Theoriedebatte ein, wenn er die Instabilität „selbst-destruktiver Strukturen“ unterstreicht, die sozialen Wandel auslösen können, aber auch zu “Stabilisierungen und Verfestigungen von Macht/Wissen-Komplexen” führen kann (Bosančić, S. 57). Mit Butler und Laclau unterstreicht er die „Mangelhaftigkeit“ des Subjekts (Bosančić, S. 50). Er führt einen Subjektbegriff ins Feld, der die Eigensinnigkeit der Akteure anerkennt. Bosančič ist damit der einzige Autor in den beiden Bänden, der sich zumindest indirekt mit psychoanalytischen Diskussionen auseinandersetzt, die in beiden Bänden abwesend sind. Dies ist etwas überraschend, denn ist die Psychoanalyse nicht die Subjektivierungsforschung par excellence? Positiv ist zu sehen, dass die Auseinandersetzung nicht nur mit kanonischen Referenzen, sondern auch mit aktuellen Stimmen aus anderen Sozialwissenschaften gesucht wird, insbesondere mit Daniel Wrana und Marion Ott.

Bosančič spiegelt einige der von Traue und Pfahl diskutierten Fragen und bietet dann seine Version der Subjektivierungsforschung an, die er Interpretative Subjektivierungsanalyse (ISA) tauft. Ähnlich wie in der wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) wird hier die „französische“ Theorie von Subjektpositionen mit dem „deutschen“ hermeneutischen Konzept des Deutungsmusters verbunden (Bosančić, S. 62). Wie bei Traue und Pfahl handelt es sich bei Bosančič um fein durchdachte und geschriebene, um informative und produktive theoretische Positionierungen im Schnittfeld von Wissenssoziologie und Poststrukturalismus. Zusammen setzen die zwei Beiträge die theoretischen Pflöcke, die das Programm der Subjektivierungsforschung umreißen.

Beide Beiträge pflegen den Duktus des Sowohl als Auch, eine „deutsch-französische“ Ökumene, die angesichts der abzudeckenden empirischen Breite verständlich ist, aber auch kritisch gesehen werden kann, insofern einige wichtige Fragen nur kurz angerissen oder verkleistert werden. So lässt sich etwa fragen, wie man mit Deutungsmustern arbeiten kann, ohne auf die materialistische Sinnkritik zu verzichten, die für poststrukturalistische Subjekttheorien von Derrida und Lacan grundlegend ist, aber auch für Foucaults Archäologie des Wissens (1994) oder Butlers Körper von Gewicht (1995). In einer poststrukturalistisch zugespitzten Perspektive ist Sinn ein Effekt eines Diskurses, der mit der Illusion eines sprechenden Subjekts operiert. Die Erfahrung spontanen Sinns ist demnach genauso kritisch als ideologischer Effekt zu hinterfragen wie die Figur des sprechenden, sich selbst transparenten Subjekts. Strukturalisten und Post-Strukturalisten fordern daher einen Bruch mit dem alltäglichen Sinnverstehen und einen Weg bietet die Linguistik an (bzw. ihre theoretischen Modelle). Die Linguistik will in dieser Sicht sprachliche Phänomene nicht primär inhaltlich erfassen und mit Blick auf den gemeinten Sinn rekonstruieren. Sie versucht vielmehr, die formal enkodierten Mechanismen der Sinnkonstruktion zu entziffern. So trat der linguistische Strukturalismus mit dem Versprechen an, erfahrenen („nicht-wissenschaftlichen“) Sinn zum Gegenstand abstrakter („wissenschaftlicher“) Analyse zu machen. Aus dieser Perspektive ist das sprachliche Material opak: Unter deren Oberfläche schlummert kein versteckter Sinn, der sich hermeneutisch wiedererwecken lässt. Sprache ist vielmehr ein Medium, das den Nutzer:innen mehr oder minder formalisierte Instruktionen gibt, wie Sinn je nach Kontext konstruiert und gesucht werden kann. Auch das Subjekt wird als ein solcher Sinneffekt verstanden, der aus der Enaktierung sprachlicher Strukturen resultiert (wie nach Benvenistes Ich-Hier-Jetzt-System der Äußerung oder auch in Karl Bühlers Origo-Theorie). Die subjektkritischen Diskussionen von Barthes, Foucault, Lacan bis Butler und Žižek wären ohne diesen sprachtheoretischen Hintergrund undenkbar (Angermuller, 2014).

Für meinen Teil stimme ich den Autor:innen dieser Bände in der Annahme zu, dass die Sinnkritik des Strukturalismus im Kontext sozialwissenschaftlicher Forschung nicht umgesetzt werden kann, zumindest nicht so radikal, wie das einst ersonnen war. Eine „sinnfreie“ Sozialwelt gibt es nicht, und kein soziologisches Forschungsprojekt kann sich der Illusion hingeben, es könne ohne Sinnverstehen auskommen. Gleichwohl sind die (post-)strukturalistischen Einwände gegenüber der Hermeneutik und ihren Begrifflichkeiten durchaus gewichtig. Es wäre eine spannende Aufgabe für die zukünftige Subjektivierungsforschung, diese Auseinandersetzung zu führen und die Grenzen, Widersprüche und Illusionen interpretativer Forschung zu testen: Ist hermeneutisches Verstehen nicht eine Kunstlehre, die das subjektive Sinnverstehen der Forscher:in projiziert und so gesellschaftlich individuelle Bias und gesellschaftliche Ideologien reproduziert? Und wie lassen sich interpretativ gewonnenen Ergebnisse generalisieren und auf eine allgemeinere theoretische Ebene heben? Ungeachtet der Breite und Feinheit der beiden theoretischen Beiträge weichen die Autor:innen dieser Auseinandersetzung aus, und es bleibt damit die Frage, ob die von ihnen geforderte theoretische Brückenbildung nicht auf halbem Weg aufhört. Doch in jedem Fall laden die skizzierten Ideen zu einer Fortsetzung des Gesprächs ein und ich bin gespannt auf die weiteren Entwicklungen.

Es folgen einige methodologisch akzentuierte Beiträge, wie etwa der von Folke Brodersen, Stephanie Czedik, Doris Pokitsch und Boris Traue zur Sinnlichkeit in teilnehmender Beobachtung, Interviews, Gruppendiskussionen und visuellen Analysen. Die Autor:innen betten die Problematik der Sinnlichkeit in einen breiten theoretischen Hintergrund ein und gehen dann auf sinnliche Aspekte der genannten methodischen Praktiken ein. Dieser gut informierte und innovative Beitrag stellt einen nützlichen lesenswerten Beitrag zu einer neuen methodologischen Problematik in der qualitativen Sozialforschung dar.

Die restlichen Beiträge von „Follow the Subject“ sind dann stärker auf Probleme des Gegenstands bezogen. Sie gehen mit den eingangs beschriebenen theoretischen Herausforderungen produktiv um, ohne sich strikt auf einen theoretischen Ansatz festzulegen oder ein methodologisches Rezept abzuspulen. Der Band macht alles in allem interessante neue Perspektiven auf, er stellt ein gut komponiertes Ganzes dar und er wird seinem Anspruch gerecht, einen Raum für produktive theoretisch-methodologische Dialoge zu öffnen.

Der Schwerpunkt des anderen Bands, „Diskurse, Dispositive und Subjektivitäten“, liegt auf den Anwendungen des von Reiner Keller vertretenen Programms der wissenssoziologischen Diskursforschung. Das ist zumindest der Eindruck, der sich aus der Gesamtschau aufdrängt, denn die Einleitung bleibt eine explizite Antwort auf die Frage schuldig, was den Band denn eigentlich theoretisch zusammenhält. Dispositive und Subjektivitäten werden in diesem Band eher am Rande verhandelt.

Nun kann man sich fragen, was der Sinn eines Bands ist, der die Arbeit an unterschiedlichsten empirischen Gegenständen unter einem theoretischen Schirm zusammenbringt, der nicht selbst explizit zum Thema der Auseinandersetzung gemacht wird? Wären diese Beiträge nicht besser in Bänden untergebracht, die sich auf entsprechende empirische Expertise der Gegenstände konzentrieren? Die Beiträge selbst führen theoretisch in der Regel nicht viel weiter. Sie beschränken sich auf eine knappe Referierung allgemeiner Grundsätze der WDA, wie etwa in dem ansonsten empirisch interessanten Beitrag zu den Hantaviren (Kleele, Müller & Dressel). Als roter Faden ziehen sich apodiktisch zitierte Referenzen auf Keller durch den Band, und die reichen nicht immer tief. Die Ausblendung theoretischer Alternativen und Kontroversen wird dann zum Problem, wenn, wie etwa im Beitrag zu Predictive Policing (Egbert), wissenssoziologische Referenzen bemüht werden, um die multimodale Organisation von Diskursen zu untersuchen – ein an sich wunderbares Ansinnen –, doch ohne sich mit dem großen und gut etablierten Feld multimodaler Diskursforschung auseinanderzusetzen. Einige Beiträge schlagen Verbindungen, Integrationen oder Erweiterungen der WDA vor, etwa mit dem pragmatistischen Modell der Rechtfertigungsordnung (Böker), der Laclau-Mouffe’schen Hegemonietheorie (Homburg) oder der Moscovici’schen Sozialpsychologie (Gallant). WDA erscheint hier bisweilen als ein Bauklötzchen, das es neben ein anderes Bauklötzchen zu stellen gilt. Die Referenzen wirken dann, als ob sie nur bestätigen wollen, was oft schon anderswo gesagt wurde. Es fehlt diesem Band kurz gesagt der Wille sich realen Auseinandersetzungen und neuen theoretischen Problematiken zu stellen – ein Eindruck, der sich durch das von Keller gehaltene Plädoyer für eine „kritische Wende“ eher noch verstärkt, die darin bestehen soll, dass die WDA doch verstärkt angewandt werden möge (Bosančić & Keller, S. 11).

Die theoretischen Überschneidungen der Forschungsprogramme, die von den Herausgeber:innen der zwei Bände propagiert werden, sind nicht zu übersehen, und angesichts von Bosančičs doppelter Herausgeberfunktion auch kaum überraschend. „Follow the Subject“ zeichnet sich dabei durch eine Frische aus, die im verschulten Raum der deutschen Wissenssoziologie nicht immer selbstverständlich ist. Der andere Band erweckt dagegen eher den Eindruck, als sei in theoretischer Hinsicht schon alles gesagt.

Liegt der Unterschied in der Offenheit für neue Entwicklungen nicht auch an am institutionellen Beziehungsgefüge, in das die Beteiligten eingebunden sind? Als besonders interessant erweist sich die Doppelfunktion von Bosančić, der für beide Bände verantwortlich zeichnet (bzw. gezeichnet worden ist) und damit gewissermaßen auf doppelte Weise zum Subjekt des der foucaultdianischen Wissenssoziologie in Deutschland wird. Bosančić war lange Assistent von Reiner Keller, der seit vielen Jahren die WDA propagiert, und zwar von einer Position relativ gesicherter disziplinärer Vernetzung und institutioneller Autorität aus. Etwas anders sieht es mit Blick auf Bosančićs Beziehungen zu den Herausgeber:innen des Subjektivierungsbands aus, deren institutionelle Positionen bei der Produktion des Bandes noch vergleichsweise im Fluss waren: Pfahl, Spies und Traue wurden in den letzten Jahren berufen und Bosančić 2020 habilitiert, während Brodersen und Schürmann in die Qualifikationsphase eintraten. Es sei dahingestellt, welche Effekte die institutionelle Situation der Akteure auf den Diskurs der Wissenssoziologie hat. Doch von den institutionellen Bedingungen des wissenschaftlichen Diskurses sollte niemand überrascht sein, speziell nicht in der von Foucault inspirierten Sozialforschung.

Die Propagierung eines Forschungsprogramms ist keine abwegige Strategie, um dem Karrieredruck zu begegnen und die eigene Subjektposition im wissenschaftlichen Diskurs sichtbar und legitim zu machen, besonders in Wettbewerbssystemen, in denen langfristige persönliche Abhängigkeiten eine wichtige Rolle spielen. Ich frage mich allerdings, ob Forschungsprogramme, immer das beste Mittel sind, um den kreativen und produktiven Austausch in der Wissenschaft in Gang zu halten. Sind Forschungsprogramme, die einen gewissen Alleinvertretungsanspruch reklamieren und die empirische Arbeit andere machen lassen, nicht auf bestimmte Machtverhältnisse zugeschnitten, die produktiven und kreativen Austausch ermöglichen, fördern oder eben auch behindern können? Und würde es der Wissenssoziologie und ihren Forschungsprogrammen nicht guttun, die Verbindung von Wissen und Macht zu reflektieren (vgl. Angermuller, 2024)? Dies sind genuine Fragen, und ich denke, die beiden Bände zeigen, dass Forschungsprogramme unseren Diskurs durchaus positiv befruchten können. Aber spannende wissenschaftliche Arbeit ist auch anders möglich. Daran erinnert nicht zuletzt Michel Foucault, für den die Formulierung eines Forschungsprogramms, das dann Wiederholer findet, Schule macht und den Autor zum kanonisierten Subjekt einer Disziplin macht, bestimmt nicht das war, was ihn angetrieben hat.

Es gibt auch einen weiteren nicht-diskursiven Grund dafür, dass zumindest der eine Band möglicherweise nicht ganz so beendet werden konnte, wie man sich das gewünscht hätte. Im Sommer 2021, kurz vor oder während der Fertigstellung der beiden Manuskripte, ist Saša Bosančić nach schwerer Krankheit verstorben. Das ist ein tragischer und schwerer Verlust für uns alle, ein Verlust, der mir hier beim Verfassen dieser Zeilen immer noch nahe geht. Es gebührt den verbliebenen Herausgeber:innen Dank dafür, dass sie ungeachtet dieses Schocks die Bände zu Ende geführt haben und auf diese Weise Saša und seine Arbeit für uns lebendig halten.

Literatur

Angermuller, J. (2014). Poststructuralist Discourse Analysis. Subjectivity in Enunciative Pragmatics. Palgrave Macmillan.10.1057/9781137442475Search in Google Scholar

Angermuller, J. (2024). ‘Representing Discourse Studies: The Unequal Actors of an International and Multidisciplinary Field’. In The Routledge Handbook of Cultural Discourse Studies (pp. 24–44). Routledge.10.4324/9781003207245-4Search in Google Scholar

Butler, J. (1995). Körper von Gewicht. Die Diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin Verlag.Search in Google Scholar

Foucault, M. (1994). Archäologie des Wissens. Suhrkamp.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-11-28
Erschienen im Druck: 2024-11-27

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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