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Anregungen zu einer neuen transatlantischen China-Politik

  • Hans Binnendijk , Sarah Kirchberger and Christopher Skaluba
Published/Copyright: November 27, 2020

1 Einleitung

Unter der Führung von Xi Jinping hat China seine traditionelle Strategie, die sich mit den Worten „seine Stärke verbergen und seine Kraft nähren“ umschreiben ließe, aufgegeben und damit begonnen, das Ziel der sogenannten „nationalen Erneuerung“ aggressiv zu verfolgen.[1] Diese Grand Strategy, bekannter unter der Bezeichnung „Chinesischer Traum,“ zielt darauf ab, China bis zum Jahr 2049, in dem sich die Gründung der Volksrepublik China zum hundertsten Male jährt, zur tonangebenden Weltmacht zu machen. Sie beinhaltet folgende Elemente: Festigung der Machtstellung der herrschenden Kommunistischen Partei Chinas; Ausschaltung separatistischer Bewegungen innerhalb Chinas, Aufrechterhaltung der territorialen Ansprüche Chinas und Vereinigung mit Taiwan; sowie Schutz der wirtschaftlichen Sicherheit Chinas.[2]

Im Innern führte Xis Herrschaft zu einer Hinwendung zu einem strengen Autoritarismus, der die – wenn auch sehr eingeschränkten – Bürgerrechte, die die Bevölkerung bis dahin besaß, weiter unterminierte. Außenpolitisch verfolgt Peking diese China-zentrische Strategie aggressiv und in einer Weise, die bei Nationen weltweit erhebliche Kollateralschäden verursacht. Besonders besorgniserregend sind folgende Herausforderungen: Missachtung des Völkerrechts, Förderung autoritärer Praktiken, ausbeuterische außenwirtschaftliche Maßnahmen, technologische Manipulationen, Diplomatie durch Zwangsmaßnahmen, überzogene Souveränitätsansprüche und umfassende militärische Aufrüstung. Bislang haben die transatlantischen Partner und die Demokratien der Welt keine vergleichbare Strategie, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Eine solche ist aber dringend notwendig.

Heute überprüfen viele Nationen weltweit die Konsequenzen der Grand Strategy Chinas unter Xi Jinping, und viele gelangen zu dem Schluss, dass sie versteckte Gefahren für ihre nationale Souveränität, ihr Wirtschaftswachstum und ihren demokratischen Fortschritt in sich birgt. Dieses neue Erwachen begann bereits vor der Pandemie, aber die durch Covid-19 angestoßene Charme-Offensive Chinas, die Auferlegung des Sicherheitsgesetzes für Hongkong und die „Wolf Warrior-Diplomatie,“ die Pekings Emissäre weltweit praktizieren, haben das Gegenteil des Gewünschten bewirkt und Sorgen demokratischer Nationen nur verstärkt.[3]

Josep Borrell, der Hohe Vertreter der Europäischen Union (EU) für Außen- und Sicherheitspolitik, nannte die Volksrepublik China (VRC) unlängst ein „kommunistisches Land mit einem autoritären Regime.“ Er wies darauf hin, dass „Peking sich jetzt als eine Weltmacht sieht und entsprechend handelt,“ was „zu einem Machtkampf mit den USA führt“ – und er fügte hinzu, dass „der Westen in Bezug auf China naiv gewesen ist.“[4] Dies markiert einen klaren Bruch mit früheren Hoffnungen, die Einbindung Chinas in das westliche System würde dessen Verhalten mäßigen.

In ähnlicher Weise erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kürzlich: „In einer Welt verstärkten globalen Wettbewerbs, wo wir sehen, dass uns China von der Arktis bis zum Cyberraum immer näher kommt, benötigt die NATO einen globaleren Ansatz.“[5] Er sagte der Welt am Sonntag auch, Peking habe nach den Vereinigten Staaten das zweitgrößte Verteidigungsbudget weltweit, und es investiere beträchtliche Mittel in Kernwaffen und Langstreckenraketen, die Europa erreichen könnten.[6] Auch hier zeigt sich die deutliche Erkenntnis von Chinas Absicht, als globale Militärmacht immer selbstbewusster aufzutreten.

Einzelne Länder haben ebenfalls eilig damit begonnen, ihre nationale Politik zu revidieren. Der Umgang Chinas mit Hongkong hat Großbritannien brüskiert. Ein aktueller Bericht kommt zu dem Schluss, dass „sowohl Amtsträger als auch gewöhnliche Bürger von einer Position relativer Gleichgültigkeit gegenüber China zu einer viel breiteren und tieferen Feindseligkeit übergegangen sind.“[7] In Anbetracht der verbreiteten Überzeugung, der chinesische Markt sei für Großbritannien nach dem Brexit unverzichtbar, ist dies bemerkenswert. Kleinere europäische Staaten sind im Hinblick auf die Kooperation mit China bei Infrastrukturprojekten ebenfalls vorsichtiger geworden. Der estnische Minister für Öffentliche Verwaltung Jaak Aab verkündete am 31. Juli unter Verweis auf „Sicherheitsgründe“ die Ablehnung eines von China finanzierten Plans, die estnische Hauptstadt Tallinn über einen Tunnel unter der Ostsee mit der finnischen Hauptstadt Helsinki zu verbinden.[8]

Sogar Deutschland, das lange Zeit als mächtigster Fürsprecher Chinas in Europa galt, hat sein Auslieferungsabkommen mit Hongkong ausgesetzt, während die Kritik an der behutsamen China-Politik von Bundeskanzlerin Merkel im Innern lauter wird. Am 2. August 2020 erklärte der deutsche Staatsminister für Europa, Michael Roth, die Europäer dürften „bei schwierigen Themen wie Menschenrechten, Sicherheit oder Technologie (…) die Auseinandersetzung nicht scheuen,“ während er im Hinblick auf die Mobilfunktechnologie der fünften Generation (5G) europäische Autonomie forderte, denn „auf dem Spiel steht nicht zuletzt die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.“[9]

Ähnliche Schlussfolgerungen wurden bei den jüngsten virtuellen Konferenzen des Atlantic Council mit US-amerikanischen und europäischen Experten und Wissenschaftlern gezogen. Diese Gespräche machten deutlich, dass man den schädlichen Handlungsweisen Chinas am effektivsten dadurch entgegentritt, dass man sich diese wachsende Konvergenz der Anschauungen zunutze macht – entweder um Peking dazu zu bewegen, schädliche Praktiken zu ändern, oder um die transatlantische Gemeinschaft gegen ihre Auswirkungen abzuschirmen. China kann zwar einzelne Nationen oder auch Institutionen ignorieren, aber es lenkt in der Regel ein, wenn es sich einer geschlossenen Front gegenübersieht.

US-Außenminister Michael Pompeo erkannte diese Tatsache bei seiner Rede in der Nixon Library am 23. Juli an, als er erklärte: „Wir können diese Herausforderung nicht allein bestehen.“[10] Dies deckt sich mit dem, was Borrell in seiner Erklärung vom 31. Juli sagte: „Es ist wichtig, eng mit gleichgesinnten Demokratien zu kooperieren. Die EU und die USA sollten im Zentrum dieser Bemühungen stehen, aber wir sollten auch eng mit Japan, Indien, Südkorea, Australien, Neuseeland, Kanada und anderen zusammenarbeiten.“ Tatsächlich zog NATO-Generalsekretär Stoltenberg einen ähnlichen Schluss: „NATO-Verbündete müssen diese Herausforderung gemeinsam angehen.“[11]

Obgleich der starke Druck der Regierung Trump auf China der Herausforderung, die Peking darstellt, eine wachsende internationale Aufmerksamkeit beschert hat, hat ihre oftmals unilaterale Vorgehensweise die Wirksamkeit ihrer Bemühungen stark beeinträchtigt. Es ist ein vielversprechender Anfang, dass Außenminister Pompeo auf seiner jüngsten Europareise mit mehreren mitteleuropäischen Regierungen Gespräche über China geführt hat, wenn man bedenkt, dass sich die USA bislang nur ab und an in der China-Politik mit Europa abstimmten. Allerdings tragen die Europäer eine Mitschuld daran, da sie zunächst nur langsame Fortschritte bei ihrer wechselseitigen Koordinierung machten. Dies war ihrer Fähigkeit, in einen konstruktiven Dialog mit den Vereinigten Staaten einzutreten, nicht gerade förderlich.

Ein besser abgestimmtes transatlantisches Vorgehen ist dringend notwendig, um die gegenwärtige Gelegenheit, sich gegen problematische Handlungen Chinas zur Wehr zu setzen, nicht ungenutzt vorübergehen zu lassen. Die demokratischen Partner der Vereinigten Staaten wollen schädlichen Aktivitäten Chinas Einhalt gebieten, jedoch keinen zweiten Kalten Krieg vom Zaun brechen oder alle Verbindungen zu China kappen. Sie sind in zunehmendem Maße bereit, sich zusammenzutun, um ihre gemeinsamen Interessen gegenüber einem anmaßenden China besser zu definieren und zu verteidigen. Aber dies wird nur erfolgreich sein, wenn die Zusammenarbeit in einem partnerschaftlichen Geist geschieht, bei dem nicht einseitig Washington den Ton angibt.

2 Eine neue transatlantische Strategie

Eine bessere Strategie besteht darin, gemeinsame Interessen und Ziele demokratischer Nationen zu identifizieren, um Bereiche maximal übereinstimmender Sichtweisen zu finden und dann einheitliche Initiativen zu entwickeln, die einen Effekt haben werden. Ein wichtiges gemeinsames Ziel besteht daher darin, China daran zu hindern, transatlantische sowie transeuropäische Divergenzen zu seinem Vorteil zu nutzen. Bislang hat es China im Allgemeinen geschafft, eine geschlossene Front gegen seine Politik zu verhindern. Bemühungen der Vereinigten Staaten, ihre Partner zu bestrafen, wenn sie sich nicht einseitigen US-Initiativen anschließen, werden zweifellos der divide-et-impera-Strategie Chinas in die Hände spielen. Wenn jedoch andererseits eine große Mehrheit demokratischer Nationen gemeinsam eine Reihe Initiativen ergreift, über die Einigkeit besteht, dann ist es möglich, schädlichen Handlungen Chinas effektiver entgegenzutreten und auch die verbleibenden transatlantischen Divergenzen besser zu bewältigen. Um dies zu erreichen, sollte der Grundsatz der Einstimmigkeit bei EU-Beschlüssen überdacht werden, um zu verhindern, dass China über seine engsten europäischen Partnerländer de facto ein Vetorecht erhält.

Ausgangspunkt dieser Neuausrichtung sollte eine strategische Analyse der Auswirkungen politischer Maßnahmen Chinas auf demokratische Nationen sein, um auf diese Weise zu einer gemeinsamen Einschätzung der Herausforderung zu gelangen.[12] Aufgrund sehr unterschiedlicher geopolitischer Situationen, wirtschaftlicher Interessen und Sicherheitszusagen der US-Verbündeten ist es bislang schwierig gewesen, sich auf eine gemeinsame Einschätzung der Bedrohungen zu verständigen, die von China ausgehen. Ein verstärkter Informationsaustausch könnte dies erleichtern. So könnten unter transatlantischen Institutionen zum Beispiel NATO und EU einen gemeinsamen Ausschuss aus Mitarbeitern von Nachrichtendiensten und politischen Amtsträgern bilden, um eine solche Bedrohungsanalyse vorzunehmen, und sie könnten asiatische und pazifische Partner einladen, sich daran zu beteiligen. Alternativ könnte auch eine globale Ad-hoc-Gruppe von gleichgesinnten Nationen zu diesem Zweck zusammenkommen. Während dieses Prozesses sollten besonders besorgniserregende Bereiche und Felder konvergierender Interessen deutlich werden.

2.1 Bereiche hoher Konvergenz

Eine vorläufige Analyse des Atlantic Council von Politikfeldern, in denen ein hohes Maß transatlantischer Konvergenz besteht, zeigt ganz klar, dass schlagkräftige gemeinsame Initiativen möglich sind. Die Analyse hat sich auf fünf breitgefächerte chinesische Handlungsfelder konzentriert:

  • autokratische Praktiken und Menschenrechtsverletzungen

  • Diplomatie durch Zwangsandrohung und Einflussoperationen

  • Technologiediebstahl und Cyberrivalität

  • ausbeuterische Handels- und Investitionspraktiken, und

  • aggressives Verhalten im militärischen und Sicherheitsbereich.

Es gibt unterschiedliche Grade der Konvergenz in diesen Bereichen. Das höchste Maß an Übereinstimmung betrifft offenbar die Verurteilung chinesischer Menschenrechtsverletzungen, insbesondere in Hongkong und der Provinz Xinjiang. Ausgehend von universellen Werten haben Demokratien ein gemeinsames Interesse daran, bedrohten gesellschaftlichen Gruppen, Minderheiten und Privatpersonen in China und anderen Ländern beizustehen, die Gefahr laufen, Opfer chinesischer Menschenrechtsverstöße zu werden. Aber China hat seinen wirtschaftlichen und diplomatischen Einfluss genutzt, um einzelne Nationen oder Unternehmen dazu zu nötigen, ihre Kritik an innenpolitischen Maßnahmen der chinesischen Regierung einzustellen. Man denke nur an die wirksame Bestrafung der National Basketball Association, nachdem der Manager der Houston Rockets nur einen einzigen Tweet zur Unterstützung der Demonstranten in Hongkong abgesetzt hatte und der daraufhin einen Maulkorb verpasst bekam.[13] Derartige Zensurbemühungen können erfolgreich sein, wenn jeweils nur ein Land oder eine Organisation angegriffen wird und sich dann allein zur Wehr setzen muss, viel schwieriger wird es jedoch gegen eine geschlossene Front.

Fürs erste sollten demokratische Nationen – in Abgrenzung zu dem alternativen chinesischen Regierungsmodell – die Bedeutung demokratischer Grundwerte, individueller Menschenrechte, der Informationsfreiheit, von Rechtsstaatlichkeit und Datenschutz betonen. Abgesehen von der Aussetzung von Auslieferungsabkommen und den bereits geltenden Waffenembargos sollten für spezifische Menschenrechtsverletzungen weitere koordinierte Sanktionen in Erwägung gezogen werden.

Eng damit verbunden ist ein zweiter Bereich der Konvergenz: Die Ablehnung diplomatischer Praktiken der aggressiven Einmischung oder Zwangsandrohung. Dies ist das außenpolitische Pendant zu den chinesischen Menschenrechtsverletzungen im Innern. De Verbündeten teilen das gemeinsame Ziel, die Integrität ihrer demokratischen Prozesse und öffentlichen Informationssphären zu bewahren. Die Herausforderungen, die angegangen werden müssen, reichen von Bestrafungsandrohungen gegen Nationen, Unternehmen oder Einzelpersonen, die es wagen, das offizielle chinesische Narrativ anzuzweifeln, bis zu illegaler Einflussnahme, Desinformationskampagnen und Diebstahl sicherheitssensibler Informationen durch chinesische Privatpersonen mit verdeckten Verbindungen zur Volksbefreiungsarmee. Ein weiteres Problem ist der unverhältnismäßig große Einfluss des chinesischen Einparteienstaats auf die Führung internationaler Organisationen.[14]

Mögliche Gegenmaßnahmen wären abgesprochene wirtschaftliche Vergeltungsmaßnahmen, wenn China eine Organisation zu zensieren versucht. Wichtig sind auch zügige öffentliche Reaktionen auf chinesische Desinformation, die eingehende Prüfung im Ausland tätiger „zivilgesellschaftlicher“ Akteure, Medienunternehmen und Freundschaftsvereine mit direkten Verbindungen zur Kommunistischen Partei Chinas (KPC) sowie ein tatkräftigeres Engagement in internationalen Organisationen, um dem wachsenden chinesischen Einfluss entgegenzutreten und die Kontrolle Chinas über Schlüsselpositionen oder -ausschüsse, insbesondere auf sicherheitsrelevanten Gebieten wie Menschenrechtsschutz, Polizeiarbeit oder öffentliches Gesundheitswesen zu begrenzen.

Ein dritter Bereich wachsender Konvergenz dreht sich um digitale Technologien. Die westlichen Verbündeten haben das gemeinsame Interesse, den höchstmöglichen Grad an Resilienz gegenüber ausländischer Einmischung, Überwachung und Sabotage ihrer kritischen Infrastrukturen aufrechtzuerhalten, während sie zugleich danach streben, eine industrielle Basis von Weltrang zu bewahren und ihre geistigen Eigentumsrechte zu schützen. Vielen dämmert allmählich, dass eine starke Abhängigkeit von chinesischer Telekommunikationsausrüstung sie anfällig macht für Datendiebstahl, umfassende Überwachung und Abhängigkeit von chinesischen Netzwerkausrüstern. Gleichzeitig sind private westliche Technologiefirmen mit einem ungleichen Wettbewerb seitens direkt oder indirekt staatlich subventionierter chinesischer Marktteilnehmer konfrontiert, die insgeheim Verbindungen zur KPC unterhalten und dem chinesischen Cybersicherheitsgesetz mit seinen problematischen Bestimmungen über behördliche Zugriffsbefugnisse auf private Nutzerdaten unterliegen. Wenn man dem tatenlos zusieht, besteht die Gefahr, dass die globalen digitalen Standards von chinesischen Standards dominiert werden. Unter den Demokratien hat sich hier nur zögerlich eine gemeinsame Sicht herausgebildet, weil chinesische Technologien de facto staatlich subventioniert werden und daher billiger sind und weil westliche Technologien mitunter weniger leistungsfähig sind.[15]

Im Fall der 5G-Technologie von Huawei wurden Fortschritte gemacht, da Großbritannien, Australien, Neuseeland, Japan, Frankreich und andere Länder die Beteiligung von Huawei begrenzt bzw. untersagt haben, während Deutschland und andere noch immer ihre Optionen abwägen.[16] Dieses neu erwachte Bewusstsein könnte mehrere weitere Initiativen voranbringen, wie etwa Verhandlungen über globale digitale Standards, ein Verfahren zur Regulierung des Handels mit kritischen Technologien mit China, staatliche Bemühungen, westliche Technologien, die mit subventionierten chinesischen Firmen konkurrieren, zu subventionieren oder anderweitig zu schützen oder auch „Rahmennationen“-Konzepte, bei denen sich technologisch fortgeschrittene Länder mit weniger leistungsfähigen Ländern zusammentun, um nach und nach technologisch unabhängig von China zu werden.

2.2 Bereiche eingeschränkter Konvergenz

Konvergenz lässt sich womöglich schwerer auf dem vierten Gebiet erreichen: Wirtschaft, Handel, Investitionen, Schulden und geistige Eigentumsrechte. Das Risiko auseinanderstrebender Politiken ist hier größer, weil viele westliche Nationen ihre eigenen Wege gegangen sind, auch wenn die Verbündeten ein gemeinsames Interesse daran haben, gleiche Rahmenbedingungen für diejenigen ihrer Unternehmen zu schaffen und zu sichern, die nicht nur in China, sondern in allen Ländern der Belt and Road Initiative (BRI) – der Neuen Seidenstraße – und selbst in ihren Heimatmärkten mit den riesigen, von der KPC kontrollierten chinesischen Staatsunternehmen konkurrieren müssen. Hier hat der Rückzug der Regierung Trump aus der Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) und der Transpazifischen Partnerschaft die Basis für koordinierte Vorgehensweisen untergraben.

China verfügt über unterschiedlich starke wirtschaftliche Hebelkräfte gegenüber vielen Verbündeten und Partnern der Vereinigten Staaten und stärkt seinen Einfluss durch strategische Infrastrukturinvestitionen im Rahmen der BRI. EU-Mitgliedstaaten verfolgen unterschiedliche politischen Strategien. Die meisten EU-Staaten haben individuelle BRI-Absichtserklärungen mit China unterzeichnet, während die EU als Organisation den Lockreiz von BRI-Investitionen für ihre Mitglieder dadurch zu verringern versuchte, dass sie 2018 eine eigene „Konnektivitätsstrategie“ auflegte.[17] Unterdessen haben die Vereinigten Staaten parallele Handelskriege sowohl mit China als auch der EU angezettelt, nur um ein „Phase Eins“-Handelsabkommen mit China ohne Rücksichtnahme auf seine anderen Handelspartner zu schließen. Dadurch, dass die US-Regierung Handelskonflikte sowohl mit natürlichen Partnern als auch systemischen Herausforderern vom Zaun gebrochen hat, hat sie sich um ihre Fähigkeit gebracht, in transatlantischer Geschlossenheit zu handeln, um ihre strategischen Ziele zu erreichen.

Trotzdem sind mehrere wirtschaftliche Initiativen möglich. Erstens sollten neue transatlantische und transpazifische Handels- und Investitionsabkommen angestrebt werden. Lieferketten-Schwachstellen in strategischen Bereichen sollten behoben und Investitionen in kritische Technologiesektoren gründlicher unter die Lupe genommen werden. Transatlantische Partner könnten ihre Politik gegenüber der BRI sorgfältiger abstimmen, um sowohl in Europa als auch entlang der Neuen Seidenstraße die wachsende Abhängigkeit von China zu verringern. Das Umfassende Investitionsabkommen zwischen der EU und China, über das nach wie vor verhandelt wird, könnte multilateralisiert werden. Es könnten gemeinsame Strategien erarbeitet werden, um Zugang zu chinesischen Märkten zu erhalten. China könnte dazu ermuntert werden, schneller von Kohle auf nachhaltige Energien umzustellen. China sollte dazu gedrängt werden, an globalen Umschuldungsverhandlungen teilzunehmen. In Europa würde mehr Unterstützung für die Drei-Meere-Initiative Risiken verringern, die mit den wirtschaftlichen Vorstößen Chinas in Mitteleuropa verbunden sind. Und es könnten multilaterale Mechanismen eingerichtet werden, um sicherzustellen, dass China die Wirtschaftsabkommen, die es geschlossen hat, auch einhält.

Die letzte Kategorie, Verteidigung und Sicherheit, weist Elemente sowohl von Konvergenz als auch von Divergenz auf. Innerhalb Europas erkennen US-Verbündete die sicherheitspolitischen Folgen, die mit chinesischen Investitionen in kritische Infrastruktur verbunden sind, und beobachten aufmerksam gemeinsame russisch-chinesische Manöver in der europäischen Region, die Vorboten einer intensiveren Verteidigungskooperation zwischen Moskau und Peking oder auch ein Einfallstor für verstärkte militärische Aktivitäten Chinas im europäischen Operationsgebiet sein könnten. Trotzdem gibt es zahlreiche mögliche Divergenzpunkte. Die zunehmenden konventionellen militärischen Fähigkeiten Chinas, insbesondere Fortschritte im Raketen- und Marinebereich, zwingen die Vereinigten Staaten dazu, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Europäer erkennen bislang noch keine konventionelle militärische Bedrohung durch China für europäisches Territorium, und russische Cyber- und Hybridaktivitäten beunruhigen sie mehr als chinesische.

Während sich das US-Militär zunehmend darauf konzentriert, das zuletzt aggressivere chinesische Vorgehen in der Taiwan-Straße und im Ost- und Südchinesischen Meer zu kontern, sind nur wenige europäische Streitkräfte in nennenswertem Umfang an diesen Einsätzen beteiligt. Sollte es zu einem bewaffneten Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China kommen, würden europäische Staaten allenfalls bescheidene Beiträge dazu leisten. Europäische NATO-Mitglieder würden sich dann einer Situation gegenübersehen, in der sich die Aufmerksamkeit und die Fähigkeiten der USA hauptsächlich auf Asien, nicht auf Europa, konzentrieren würden.

Dennoch haben demokratische Länder ein gemeinsames Interesse daran, China von einer militärischen Aggression gegen Taiwan abzuhalten – nicht zuletzt aufgrund des damit verbundenen Risikos eines Konfliktes zwischen Großmächten, mit unabsehbaren Folgen für US-Verbündete und die NATO. Auch sind sie bestrebt, die Freiheit der Seewege und den Zugang zu den globalen Gemeinschaftsgütern im Allgemeinen aufrechtzuerhalten und den militärischen Fußabdruck Chinas in ihren Regionen zu begrenzen. Dazu gehört auch, den Zugang der Volksbefreiungsarmee und von ihr kontrollierter Organisationen und Personen zu Hightech-Forschung, kritischer Infrastruktur und Dual-Use-Technologien zu beschränken.

In Asien können eine Reihe kooperativer transatlantischer militärischer Maßnahmen ergriffen werden. Eine größere europäische Beteiligung an Marinemanövern entweder durch einzelne Nationen oder im Rahmen eines Bündnisses im indopazifischen Raum wäre nützlich. Hilfreich wären auch mehr Austauschprogramme für europäische Offiziere, zusammen mit US-Militärangehörigen in Asien Dienst zu tun. Dies könnte eine abschreckende Wirkung haben. Die NATO könnte in Asien sogar ein kleines Hauptquartier errichten. Der wichtigste Beitrag, den Europa leisten kann, um den sicherheitspolitischen Herausforderungen durch China in Asien zu begegnen, besteht jedoch darin, seine eigene Fähigkeit, militärischen Herausforderungen durch Russland entgegenzutreten, zu stärken und den Vereinigten Staaten einen Teil ihrer europäischen Lasten abzunehmen.

Auch außerhalb Asiens und in anderen Domänen wie etwa in Bezug auf Kernwaffen und den Weltraum bestehen Herausforderungen. Im nuklearen Bereich gefährden US-Bemühungen, China in die Gespräche über die Begrenzung strategischer Waffen einzubinden, die Verlängerung des New-START-Abkommens, solange China sich mit der gleichen Vehemenz verweigert, mit der die USA die Einbeziehung Chinas verlangen. Die Folgen werden in Europa spürbar sein. Schließlich gibt es keinen nennenswerten transatlantischen Dialog beziehungsweise keine echte Koordinierung der Bemühungen, der schleichenden Ausweitung des chinesischen Einflusses in Afrika, dem Nahen Osten und Lateinamerika entgegenzutreten.

Die NATO hat bereits signalisiert, dass sie sich im Umgang mit sicherheitspolitischen Herausforderungen durch China verstärkt mit Demokratien in Asien abstimmen will. Dabei wäre es für die NATO möglicherweise sinnvoll, asiatische Partnerschaften, die im Allgemeinen bilateral organisiert sind, vermehrt multilateral anzugehen. Die Allianz sollte bei der Erarbeitung eines neuen Strategiekonzepts, die vermutlich im nächsten Jahr stattfinden wird, China größere Beachtung schenken. Und die NATO könnte damit beginnen, systematisch sicherheitsrelevante, problematische Verhaltensweisen zu überwachen und publik zu machen. Die NATO könnte, eventuell in Italien oder Griechenland, ein Kompetenzzentrum „China“ errichten, da diese Länder von einer realistischeren Sicht der chinesischen Ambitionen profitieren würden. Sie sollte auch auf die Drosselung chinesischer Investitionen in kritische Infrastrukturen hinwirken, die militärische Operationen der NATO behindern könnten.

Auch in Bezug auf die globalen Gemeinschaftsgüter könnte die Kooperation ausgeweitet werden. Die NATO könnte mit den arktischen Nationen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass chinesische Marineschiffe sich von der Arktis fernhalten, und die NATO hätte auch Möglichkeiten, gemeinsame Marinemanöver von China und Russland unattraktiver zu machen. So könnten zum Beispiel europäische Seestreitkräfte für jedes chinesische Marineschiff, das an einem gemeinsamen Manöver mit Russland in europäischen Gewässern teilnimmt, ein Schiff entsenden, das an US-amerikanischen Übungen zur Gewährleistung der Freiheit der Schifffahrt im Südchinesischen Meer teilnimmt.

2.3 Umsetzung einer neuen Strategie

Diese gemeinsamen Anstrengungen müssen nicht in einem Katalog umfassender Anforderungen gebündelt werden. Sie sind vielleicht leichter zu stemmen, wenn sie ad hoc und pragmatisch angegangen werden. Dies würde es auch erlauben, dass sich demokratische Nationen einvernehmlich darauf verständigen.

Sobald sich konkrete transatlantische Initiativen abzeichnen, müssen sie so ausbalanciert werden, dass sie nationalen Prioritäten Rechnung tragen. Die Prioritäten der Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der nationalen Sicherheit und die Bereiche der Konvergenz können diametral entgegengesetzt sein. So ist es vermutlich die oberste Priorität der Vereinigten Staaten im Umgang mit China, seine asiatischen Verbündeten zu verteidigen und zugleich einen offenen Konflikt mit China zu vermeiden. Die chinesische Diplomatie des Zwangs zu kontern hat vielleicht in Europa eine höhere Priorität als in den Vereinigten Staaten, weil Europa verwundbarer und ein Hauptopfer dieser Praktik ist.

Gleichzeitig sollten Kanäle für den Dialog mit Peking auch unter schwierigen Umständen und bei heiklen Themen offengehalten werden – nicht nur mit dem politischen Zentrum, sondern auch mit anderen Gruppen innerhalb Chinas, die gelegentlich gemeinsame Interessen mit demokratischen Nationen haben mögen. Diese Bemühungen sollten in erster Linie darauf gerichtet sein, China zu Verhaltensänderungen zu bewegen.

In Anbetracht des breiten Spektrums der Herausforderungen durch China müssen neue Institutionen gegründet oder die Aufgaben bestehender Institutionen neu definiert werden. So könnte ein spezieller, gemeinsamer China-Ausschuss von USA und EU gegründet werden, wobei die NATO als eine institutionelle Stimme zu Sicherheitsfragen einbezogen werden könnte. Sowohl die Vereinigten Staaten als auch die EU führen regelmäßig Gespräche mit China über eine breite Palette von Themen. Einige dieser Treffen könnten trilateral werden. Um China in einen Menschenrechtsdialog einzubinden, könnte man sich etwas Ähnliches wie die Schlussakte von Helsinki von 1975 vorstellen, insbesondere „Korb 3“ über Menschenrechte. China könnte sich regelmäßig mit einer Gruppe der größten demokratischen Staaten – manchmal auch „D10“ genannt – treffen, um sich über Menschenrechte und damit zusammenhängende Aspekte dieser Agenda auszutauschen. Ein NATO-China-Rat könnte nach dem Vorbild des NATO-Russland-Rats für den regelmäßigen Dialog über sicherheitspolitische Anliegen eingerichtet werden.[18] Ein zeitnaher Schwerpunkt von dessen Arbeit könnten Gebietsstreitigkeiten im Süd- und Ostchinesischen Meer sein. Auch bestehende Gruppierungen wie die Gruppe der Zwanzig (G20) könnten zu diesem Zweck umgestaltet werden.

3 Was wäre die Alternative?

Demokratische Nationen teilen das Ziel, chinesische Verhaltensweisen zu zügeln, die ihren Interessen schaden. Solche Initiativen haben, gemeinsam durchgeführt, viel größere Erfolgsaussichten, als wenn man sie getrennt in Angriff nimmt. Europäische Akteure präzisieren ihre Forderungen und legen eindeutigere Grenzen fest, aber eine umfassende transatlantische Koordination wäre wahrscheinlich noch weitaus erfolgreicher.

Falls koordinierte Anstrengungen, wie sie hier vorgeschlagen wurden, nicht unternommen werden, wird sich China kaum von seinen gegenwärtigen Verhaltensweisen abbringen lassen, und die Vereinigten Staaten könnten bei ihren eigenen Bemühungen, chinesische Herausforderungen zu kontern, noch konfrontativer und einseitiger vorgehen. Damit wären die Voraussetzungen für tiefere transatlantische Spaltungen und potenzielle Konflikte zwischen den beiden Supermächten geschaffen. Eine bessere Option ist verfügbar.


Anmerkungen

Der vorliegende Text erschien zuerst als Veröffentlichung des Atlantic Council unter dem Titel „Capitalizing on Transatlantic Concerns About China“ am 24. August 2020. Abdruck der deutschen Übersetzung mit Erlaubnis des Atlantic Council (www.atlanticcouncil.org)


Published Online: 2020-11-27
Published in Print: 2020-11-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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