Seit dem 16. Jahrhundert sind Regelungen zur Pflichtabgabe von Druckwerken auf lokaler Ebene bekannt, zum Ende des 17. Jahrhundert gab es dann auch in größeren Gebieten Deutschlands geltende Erlasse zur Abgabe, seit 1663 in Bayern und seit 1696 in Hamburg. Ende 2024 jährt sich nun zum 200. Male die Kabinettsorder Preussens vom 28. Dezember 1824 zur verpflichtenden Ablieferung zweier Exemplare von Neuerscheinungen durch Verleger, davon eines an die königliche Bibliothek in Berlin und eines an die regional zuständige Universitätsbibliothek. Mit Inkrafttreten dieser Regelung war ein Großteil des heutigen Deutschlands von einer Pflichtregelung umfasst. Eine nationale Abgabeverpflichtung wurde durch den Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig in Zusammenarbeit mit dem Königreich Sachsen ab Jahresbeginn 1913 etabliert, per Verordnung geregelt bzw. gesetzlich abgesichert wurde der Anspruch der Deutschen Bücherei (DDR) bzw. der Deutschen Bibliothek (BRD) aber erst 1955 bzw. 1969!
Diese Vorgeschichte und die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland haben dazu geführt, dass die Sammlung von Pflichtexemplaren eine Aufgabe ist, der sich die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) und die Regionalbibliotheken in den Ländern gemeinsam stellen. Seitdem die Sammlung digitaler (textbasierter) Medien ebenfalls zu den Aufgaben der Pflichtbibliotheken gehört, wurde die Zusammenarbeit weiter vertieft. Das gilt für die DNB seit 2006. Als erstes Bundesland regelte Baden-Württemberg 2007 die Pflichtablieferung unkörperlicher Medienwerke in seinem Pflichtexemplargesetz, es folgten viele weitere Bundesländer, zuletzt Berlin im Jahr 2021. Einzig für Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen steht weiterhin eine Regelung zur E-Pflicht aus.
Hatten frühere Abgabeverpflichtungen noch die Ausübung der Zensur zum Ziel oder auch die Absicherung von Urheberrechten, so ist heute der Hauptzweck des Pflichtexemplars die Erhaltung des (textbasierten) digitalen und nicht-digitalen Kulturerbes. Dies ist allerdings immer schwerer zu erreichen – schon im 20. Jahrhundert kam es zu einer massiven Vermehrung des Aufkommens an Publikationen in gedruckter Form. Spätestens im 21. Jahrhundert ist die massiv anwachsende Menge digitaler Werke kaum noch zu beherrschen. In der digitalen Welt gibt es Medienarten, die eine Entsprechung bei den Druckwerken haben, z. B. E-Books, E-Journals, E-Paper, aber auch völlig neue Publikationsformen wie Blogs, Beiträge in Social Media, Websites, etc. mit unglaublicher Dynamik (mit teilweise vielfacher Aktualisierung täglich). Daneben ist die Bestandserhaltung und die Langzeitarchivierung der gesammelten Stücke sicherzustellen, was ein nicht minder herausforderndes Unterfangen darstellt.
Die am Pflichtexemplar beteiligten Bibliotheken in den Ländern hatten bereits 2013 die sich ändernden Rahmenbedingungen in einem Sonderheft des Bibliotheksdienstes dargestellt – damals lag der Schwerpunkt auf der gesetzlichen Regelung der E-Pflicht, die in einigen Bundesländern schon erfolgt war, in anderen aber erst noch erwartet wurde. Heute, 11 Jahre später, geht es um mehr – um eine Positionsbestimmung bei der Erfüllung des Pflichtauftrags: Was ist der historische Hintergrund der Sammlung? Was ist leistbar aktuell und in Zukunft im Kontext der Weiterentwicklung der Medienlandschaft, aber auch im Wissen über die eigenen personellen und technischen Möglichkeiten? Was benötigen die heutigen bzw. die künftigen Nutzer? Wie lässt sich die eigene Pflichtexemplarsammlung bewahren – auch für zukünftige Generationen?
Ich freue mich, dass sich alle Bundesländer und die Deutsche Nationalbibliothek dazu bereitgefunden haben, in jeweils eigenen Beiträgen in diesem Sonderheft die aktuelle Lage beim Pflichtexemplar in ihren Häusern zu schildern und sich den obigen Fragen zu nähern. Allerdings ist mir auch bewusst, dass viele Antworten noch nicht gegeben werden können, sei es, weil konkrete Regelungen fehlen, z. B. zur E-Pflicht, zum Umfang der zu sammelnden Medienarten, zu den Nutzungsmöglichkeiten digitaler Bestände oder weil der Blick in die Zukunft immer ein ungewisser sein wird und uns die Entwicklung bald vor völlig neue Aufgaben stellen könnte …
Über den Autor / die Autorin

Dr. Felix Geisler, MLIS
© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Editorial
- Aus den Verbänden
- Bibliotheken sichern das kulturelle Erbe
- Kindersoftwarepreis TOMMI: Kinderjury in Bibliotheken gestartet
- Tagungsberichte
- Emerging Library Leaders’ Summer School for Asia-Pacific
- Themenheft: Das Pflichtexemplar in Deutschland – Stand und Perspektive
- Das Pflichtexemplar in der Deutschen Nationalbibliothek
- Das Pflichtexemplar in Baden-Württemberg
- Das Pflichtexemplar in Bayern
- Das Pflichtexemplar in Berlin
- Das Pflichtexemplar in Brandenburg
- Das Pflichtexemplar in Bremen
- Das Pflichtexemplar in Hamburg
- Das Pflichtexemplar in Hessen
- Das Pflichtexemplar in Mecklenburg-Vorpommern
- Das Pflichtexemplar in Niedersachsen
- Das Pflichtexemplar in Nordrhein-Westfalen
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- Das Pflichtexemplar im Saarland
- Das Pflichtexemplar in Sachsen
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- Das Pflichtexemplar in Schleswig-Holstein
- Das Pflichtexemplar in Thüringen
- Notizen und Kurzbeiträge
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