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Global Review 2014: Warnungen vor Russland gab es zu genüge, sie wurden nur nicht beachtet

Published/Copyright: May 13, 2022

Die deutsche Russlandpolitik macht derzeit einen abrupten Kurswechsel durch. Die Bundesregierung scheint begriffen zu haben, dass Russland die strategische Konfrontation mit dem Westen sucht. Viele politisch Verantwortliche tun heute so, als ob das alles für sie völlig überraschend kommt. Das ist aber falsch: sowohl aus dem Bereich der Wissenschaft wie auch aus dem Kreis der Verbündeten sind die Bundesregierung und Politiker und Politikerinnen immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Politik der Partnerschaft mit Russland spätestens seit der Annexion der Krim im Februar 2014 ihr Ende gefunden hat.

Wie dieser Verdrängungsmechanismus abläuft, hat der geschäftsführende Herausgeber dieser Zeitschrift selber erfahren. Im Frühjahr 2014 hatte Prof. Dr. Joachim Krause nach Aufforderung durch den damaligen Außenminister Frank Walter Steinmeier für den Global Review des Auswärtigen Amtes ein Kurzpapier verfasst, in welchem er darlegen sollte, was an der deutschen Außenpolitik verbessert werden könne. Er schrieb damals unter anderem:

„Die Annexion der Krim sowie die derzeit beginnende Zerstörung der Ukraine durch Russland sind nicht nur im ukrainischen Kontext zu sehen, sondern markieren auch die generelle Absage Russlands an die Zusammenarbeit mit dem Westen (NATO und EU). Die Rede Putins vor der Duma vom 18.3.2014 stellt den vorläufigen Höhepunkt einer strategischen Kursänderung dar, die sich spätestens 2007 ankündigte und nicht durch westliche Fehler in der Ukraine Politik erklärt werden kann. Verantwortlich für die gegenwärtige Lage ist vielmehr die politische Klasse Russlands, die in sozialdarwinistischen und nationalistischen Kategorien des 19. Jahrhunderts denkt und die zunehmend darauf angewiesen ist, außenpolitische Konflikte zur Stabilisierung ihrer Herrschaft zu nutzen. Russland hat viele Brücken hinter sich abgebrochen, es setzt seine Interessen mit machiavellistischer List durch, ändert Grenzen mit Gewalt und schert sich wenig um die Empörung im Westen. Es ist zu befürchten, dass Russland nicht nur die Ukraine spaltet oder übernimmt, sondern auch in Moldawien die Abspaltung Transnistriens und anderer Teile betreibt. Die Erfolge Putins haben in Russland eine Welle des Nationalismus ausgelöst und könnten ihn dazu ermutigen, auch die Destabilisierung und Rückeroberung der NATO-Staaten Estland, Lettland und Litauen vorzunehmen. Westliche Nachrichtendienste weisen darauf hin, dass russische Streitkräfte bereits die Besetzung der baltischen Staaten üben. Die NATO ist auf diesen Ernstfall kaum vorbereitet. Putin könnte hier eine Chance sehen, die NATO entscheidend zu demütigen und damit ihren politischen Niedergang einzuleiten.

Das Ziel der deutschen – wie der europäischen – Politik ist es bislang gewesen, Russland an die kooperative, multilaterale Welt des Westens heran zu führen. Diese Politik hat jahrelang den Revisionismus, die Re-Imperalisierung und die Re-Militarisierung der russischen Politik unter Putin unterschätzt und die Bedeutung wirtschaftlicher Verflechtung und von Verträgen überschätzt. Diese Politik ist heute erst einmal gescheitert. Derzeit setzt die Bundesregierung auf De-Eskalation, was so lange richtig ist, wie es gelingt Russland von der weiteren Destabilisierung und der Besetzung der Ukraine (oder ihrer Teile) abzuhalten. Für den Fall, dass Russland die Ukraine weiter destabilisiert und dort einmarschiert, gibt es keine Konzepte – außer Gesprächsangeboten, deren Zielrichtung bestenfalls Schadensminimierung sein kann, und Sanktionen, die angesichts der gegenseitigen Verflechtung nur begrenzt wirksam bleiben.

Es ist offen, was und wie viel von der Ukraine übrigbleibt – die Optionen des Westens sind begrenzt. Die NATO kann aber exponierte Mitgliedstaaten schützen und wird daher eine neue Abschreckungspolitik gegenüber Russland einleiten müssen. Diese Abschreckung wird anders aussehen als zu Zeiten des Kalten Krieges. Nicht mehr die Abwehr einer kontinentalen Invasion durch Ankoppelung an das amerikanische Nuklearwaffenarsenal wird das Ziel sein, sondern eine Form der Abschreckung, die auf bestimmte lokale oder regionale Bedrohungen zugeschnitten ist. Das ist machbar, denn die militärischen Kapazitäten Russlands sind begrenzt. Die deutsche Außenpolitik sollte nicht Bremser dieser Debatte sein, sondern diese fördern und konzeptionell gestalten. Dabei ist das größte Augenmerk auf die schwächste Stelle der NATO zu richten: die Sicherheit der baltischen Staaten.

Wir werden uns für die kommenden Jahre auf konfrontative Beziehungen zu Russland einstellen müssen, es sei denn, Deutschland will die westlichen Bindungen aufgeben und eine Position der Äquidistanz zwischen Russland und dem Westen einnehmen (was fatal wäre, aber offenbar von einem großen Teil der deutschen Bevölkerung präferiert wird). Mit einem feindlich gesinnten Russland zu leben, ist keine Katastrophe. Solange es gelingt, Russlands militärische Ambitionen durch Abschreckung zu zügeln, kann dieser Konflikt kontrolliert gehalten und auch kontrolliert beendet werden. Angesichts der makro-ökonomischen Entwicklungstrends ist zu erwarten, dass der Westen auch diesen Konflikt mit Russland erfolgreich durchstehen wird – vorausgesetzt deutsche Außenpolitik vermag einen Kurs zu fahren, der sich frei von Angst und von Illusionen hält …“

Dieses Papier fand keine Beachtung im Auswärtigen Amt. Über Dritte erfuhr der Verfasser, dass er als „Kalter Krieger“ abqualifiziert worden sei. Derzeit kann man viele der Papiere auf einer Webseite anschauen, die seinerzeit für den Global Review 2014 von externen Autoren verfasst worden sind. Den Beitrag von Professor Krause sucht man dort vergebens. https://web.archive.org/web/20160419232651/http://www.aussenpolitik-weiter-denken.de/de/themen.html.

Published Online: 2022-05-13
Published in Print: 2022-05-09

© 2022, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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