Home Tingyang Zhao: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2020, 266 Seiten
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Tingyang Zhao: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2020, 266 Seiten

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Published/Copyright: November 27, 2020

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Zhao Tingyang Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung Berlin Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2020 1 266


Der 1961 geborene Zhao Tingyang gilt heute als einer der einflussreichen chinesischen Staatsphilosophen und unternimmt den anspruchsvollen Versuch, die „Welt mit chinesischen Charakteristika“ auf Grundlage der jahrtausendealten Geschichte des Landes zu erklären und auch für westliche Denker nachvollziehbar zu machen. Er ordnet sich damit in das kanonische Denken des Staatspräsidenten XI Jinping ein, indem er verdeutlich, dass China als ein Staatswesen neuer Art mit westlichen Kategorien nur unzulänglich zu beschreiben sei. Ausgangspunkt sei Tianxia, zu deutsch: „Alles unter einem Himmel“, ein Begriff für eine inklusive, hierarchische und zugleich natürliche Ordnung, die im alten China aus staatlicher Sicht auch den Herrschaftsanspruch des Kaisers begründete. Dieses System sei mit der Ablösung der Ming-Dynastie durch die mandschurische Qin-Dynastie ab dem Jahr 1649 unter Druck geraten und sei Auslöser des Niedergangs Chinas gewesen. In Europa habe zur gleichen Zeit infolge der Neuordnung des Westfälischen Friedens der Aufstieg begonnen. Es habe sich das System der Nationalstaaten entwickelt und das Gedankengut der Aufklärung sich durchgesetzt. Damit werde auch die Qualität der Zäsur aus chinesischer Sicht deutlich: die Jahre 1649 bis 1948 stellten für China einen Kulturbruch mit unglücklicher politischer Zwangspause und ausländischen Interventionen dar. Heute jedoch beanspruche das Reich der Mitte in historischer Kontinuität wieder seine globale Mitte. Für den Westen hingegen breche China in eine bisher stabile Agenda ein.

In seiner Analyse wählt Zhou Tingyang zwei Zugänge: Einmal die Globalisierung, die zwar die Inklusion der Welt befördere, aber, so der Verfasser: „Offen bleibt jedoch die Frage, ob die Globalisierung automatisch zu einer einigermaßen der Vernunft gemäßen Weltordnung führen wird bzw. ob eine von der Globalisierung automatisch generierte Ordnung eine der Koexistenz sein wird …“ (S. 34). Vernunft wird von Zhou als relationale Rationalität definiert, weil absolute Rationalität dort an Grenzen stoße, wo sie mangels Rückkopplung schädigend wirke, also Rationalitätsfallen auslöse. Dies erinnert an den Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant, der Verweis hierauf fehlt allerdings. Nur eine politische Philosophie, die keine Revanche produziere, sei laut Zhou positiv – ganz anders als bei Carl von Clausewitz, Raymond Aron oder René Girard, die die bestmögliche Antwort auf Aktionen des Gegners als Normalität betrachten, die aber zwangsweise zur Eskalation führe. Auch werde, und hier verweist Zhou auf Immanuel Kant, die republikanische Verrechtlichung des Staats, die der aufgeklärte Absolutismus beschritt, nicht Frieden bringen, weil damit nicht parallel ein gutartiger Mensch entstünde.

Der zweite Zugang findet sich für Zhou in den Staatsphilosophien von Thomas Hobbes und Sun Zi. „Anders als Hobbes sah Sun Zis Urzustand ein Grundelement, ein Gen der Kooperation vor …“ und er formuliert kontrastiv zu den französischen Existentialisten: „Die Koexistenz geht der Existenz voran“ (S.18). Der Mensch sei eigentlich gut, womit er sich von Meng Zi abgrenzt. Hobbes und Sun Zi seien folglich die beiden Pole des Urzustands, woraus eine Art Sun Zi-Hobbes-Hypothese folgt: Der Urzustand sei der eines Zusammenschlusses der Gruppe nach innen und des Kampfs nach außen. Hobbes Existenz sei Existenz in Furcht, Sun Zis Existenz sei Existenz in Kooperation.

Für die politische Ordnung führt Zhao aus, es existierten Grenzen der Verallgemeinerung der Demokratie als universellem Prinzip und gleichermaßen auch der Gerechtigkeit, wie dies auch John Rawls einräume (S. 28–34). Sie seien nur gültig unter den diskriminierenden Bedingungen der Nationalstaaten. Damit aber stünden sie im Gegensatz zu dem Prinzip der Inklusion. Beide westlichen Friedensmodelle, Frieden durch hegemoniale Dominanz oder Frieden durch ein Gleichgewicht der Kräfte seien nach Ansicht von Zhou nicht stabil. Daraus ergäben sich zwei prinzipielle Notwendigkeiten: (1) Es müsse eine Überordnung der Weltsouveränität für Dinge globaler Relevanz über die staatliche Souveränität geben. Und es müsse (2) ein Regelsystem bzw. einen Ordnungsrahmen geben, der die innerstaatliche Souveränität für die intern zu regelnden Dinge organisiert. Wie dies konkret zu institutionalisieren sei, was also die internen Freiheitsgrade sein könnten, bleibt bei Zhou offen.

Die chinesische Geschichte liefere aber im Rahmen harter Rivalität, des Zerfalls und der Einigung oder dem Aufbau tributärer Systeme interessante Beispiele für Regelungen der internen Souveränität, die der Autor in dem Buch aufzeigt. Nicht nur der aktuelle chinesische Entwicklungspfad wird damit eingeschlossen, einschließlich der Formel „ein Land, zwei Systeme“. Auch ein föderativer politischer Aufbau, eine soziale Marktwirtschaft und eine grundlegende Subsidiarität der Institutionen stünden dazu nicht im Widerspruch. Gerade China zeigt auch, dass Konkurrenz Gesellschaft und Wirtschaft belebe: Große Innovationen fänden regelmäßig in Phasen territorialer Konkurrenz statt, und auch Deng Xiao Ping hat die ökonomische Konkurrenz zunächst über den Wettbewerb der Regionen organisiert. Das gäbe der Konzeption die Perspektive, ein kooperatives Dach für den Systemwettbewerb zu bilden – wenn ein Ordnungsrahmen gewährt wird, der politische und ökonomische Evolution im Sinne eines Entdeckens von Neuem erlaubt.

Zhao Tingyang wird in China als „Regierungsphilosoph“ gehandelt. Daher sollten seine Argumente im Rahmen des Systemwettbewerbs vom Westen aufgegriffen und eingefordert werden. In Zhaos Philosophie ist nicht der marxistische Unterbau, sondern der idealistische Überbau von Bedeutung, also das Bewusstsein bestimme das Sein. Eine solche Auseinandersetzung würde ein Bekenntnis zu den kulturellen Wurzeln einer erfolgreichen Wirtschaft und mehr Ehrlichkeit einfordern, als dies der reine Kampf um Technologiezugang und Zölle erlaubt. Und er würde gerade dem Westen guttun, denn er hat bis heute nicht wirklich begriffen, dass der Wettstreit zwischen der Welt mit chinesischer Prägung und der mit westlicher Prägung nicht (nur) auf Güter- und Finanzmärkten ausgetragen wird. Gerade den gegenwärtigen Wirtschaftskrieg mit den USA sehen chinesische Intellektuelle – ganz in der Tradition ihrer großen Meister wie Sun Zi, Tan DaoJi und Ch‘iI Chi-kuang – auch als staatsphilosophische Herausforderung. Chinareisende, vor allem solche aus Politik und Wirtschaft, sollten das Buch vor Reiseantritt dringend lesen!

Published Online: 2020-11-27
Published in Print: 2020-11-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Die (unvollkommene) Rückkehr der Abschreckung
  6. Auf der Suche nach politischer Rationalität nuklearer Abschreckung
  7. Neue Herausforderungen erfordern neue Ideen: Elemente einer Theorie des Sieges in modernen strategischen Konflikten
  8. Zur Bedeutung von Kernwaffen unter Bedingungen strategischer Rivalität – analytische Denkanstöße
  9. Iran und Israel: Ist ein Krieg unvermeidlich?
  10. Kurzanalysen und Berichte
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  13. Forum – welche Politik ist angesagt gegenüber China und Russland?
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  15. Russlandpolitik in der Kontroverse
  16. Russlandpolitik in der Kontroverse
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  18. Russland
  19. Sergey Sukhankin: Instruments of Russian Foreign Policy: Special Troops, Militias, Volunteers, and Private Military Enterprises. Washington, D.C.: The Jamestown Foundation, 2019
  20. Richard Sokolsky/Eugene Rumer: U.S.-Russian Relations in 2030. Washington, D.C.: Carnegie Endowment for International Peace, Juni 2020
  21. Mathieu Boulègue/Orysia Lutsevych: Resilient Ukraine. Safeguarding Society from Russian Aggression. London: Chatham House, Juni 2020
  22. Naher Osten
  23. Peter Salisbury: Risk Perception and Appetite in UAE Foreign and National Security Policy. London: Chatham House, Juli 2020
  24. Ilan Goldenberg/Elisa Catalano Ewers/Kaleigh Thomas: Reengaging Iran. A New Strategy for the United States. Washington D.C.: CNAS, August 2020
  25. International Crisis Group: Taking Stock of the Taliban’s Perspectives on Peace. Brüssel, August 2020
  26. Europäische Sicherheit
  27. Peter Rudolf: Deutschland, die NATO und die nukleare Abschreckung. Berlin: SWP, Mai 2020
  28. Jana Puglierin/Ulrike Esther Franke: The big engine that might: How France and Germany can build a geopolitical Europe. Berlin/London: European Council on Foreign Relations, Juli 2020
  29. Digitale Sicherheit
  30. Kenneth Geers: Alliance Power for Cyber Security. Washington, D.C.: The Atlantic Council, August 2020
  31. Daniel Kliman/Andrea Kendall-Taylor/Kristine Lee/Joshua Fitt/Carisa Nietsche: Dangerous Synergies. Countering Chinese and Russian Digital Influence Operations. Washington, D.C.: Centers for a New American Security, Juni 2020
  32. JD Work/Richard Harknett: Troubled vision: Understanding recent Israeli-Iranian offensive cyber exchanges. Washington D.C.: The Atlantic Council, Juli 2020
  33. Ökonomische Aspekte des internationalen Wandels
  34. Bayern LB Research/Prognos: Das Ende der Globalisierung – braucht Deutschland ein neues Geschäftsmodell? Wie Unternehmen jetzt die Weichen richtig stellen. München: Prognos, Juni 2020
  35. Buchbesprechungen
  36. David Shambaugh (Hg.): China and the World. New York: Oxford University Press 2020, 394 Seiten
  37. Tingyang Zhao: Alles unter einem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Berlin: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2020, 266 Seiten
  38. Campbell Craig/Frederik Logevall: America’s Cold War. The Politics of Insecurity. Second Edition. Cambridge, MA und London: Harvard University Press 2020, 443 Seiten
  39. Christopher Hill: The Future of British Foreign Policy. Security and Diplomacy in a World after Brexit, London: Polity Press 2019, 238 Seiten
  40. Jason Lyall: Divided Armies. Inequality & Battlefield Performance in Modern War. Princeton und Oxford: Princeton University Press 2020, 528 Seiten
  41. Ben Saul/Dapo Akande: The Oxford Guide to International Humanitarian Law. Oxford: Oxford University Press 2020, 480 Seiten
  42. James D. Bindenagel: Germany from Peace to Power. Can Germany lead in Europe without dominating? Bonn: Bonn University Press 2020, 223 Seiten
  43. Bildnachweise
  44. Iran and Israel: The Inevitable War?
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