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Jana Puglierin/Ulrike Esther Franke: The big engine that might: How France and Germany can build a geopolitical Europe. Berlin/London: European Council on Foreign Relations, Juli 2020

  • Rainer Meyer zum Felde
Published/Copyright: November 27, 2020

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Puglierin Jana Franke Ulrike Esther The big engine that might: How France and Germany can build a geopolitical Europe Berlin/London European Council on Foreign Relations Juli 2020


Jana Puglierin und Ulrike Esther Franke haben im Juli 2020 eine bemerkenswerte Studie des European Council on Foreign Relations (ECFR) vorgelegt. Es handelt sich um die Auswertung einer Umfrage, dem „ECFR Coalition Explorer Survey of European Policymakers and Experts“, unter maßgeblichen außen- und sicherheitspolitischen Entscheidern, Politikberatern und Experten in den 27 EU-Mitgliedstaaten, die mit Europapolitik befasst sind[1]. Die Autorinnen analysieren anhand der ermittelten Antworten, welchen Einfluss Deutschland und Frankreich innerhalb der EU ausüben könnten und sollten, wenn beide die Pandemie-Krise für ein engeres Zusammenwirken nutzten. Zusammengefasst, seien die EU-Mitgliedstaaten geopolitisch noch nicht auf dem Laufenden und müssten zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik finden. Frankreich und Deutschland sollten das Momentum, welches sie in der Corona-Krise durch ihr Einverständnis zu einem Recovery Fund aufgebaut haben, dazu nutzen, der EU eine stärkere geopolitische Stimme zu geben. Zusammen hätten beide alles was nötig ist: Verbindungen nach Süden und Osten sowie Ambition und Pragmatismus. Die Studie ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie besorgniserregend große Unterschiede in den außenpolitischen Präferenzen der 27 EU-Mitgliedstaaten und auch zwischen Deutschland und Frankreich schlüssig aufzeigt. Dies gilt insbesondere auch für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik, und man fragt sich, wie diese je überbrückt werden sollen.

Im ersten Teil der Studie wird in allgemeiner Hinsicht, über sämtliche EU-relevante Politikfelder hinweg, die Einschätzung der Bedeutung Deutschlands und Frankreichs durch die 27 EU-Mitgliedstaaten analysiert. Im Ergebnis messen die Befragten Deutschland, knapp vor Frankeich, die insgesamt größte Bedeutung in Europa bei; es werde am häufigsten kontaktiert, werde als die am meisten „reponsive“ und an vertiefter Integration interessierte Nation eingeschätzt und sei damit am einflussreichsten. Frankreich wird in Europa als ebenso einflussreich und wichtig wie Deutschland angesehen, aber stets hinter Deutschland platziert, mit großem Abstand vor den Niederlanden (seitdem das Vereinigte Königreich ausgeschieden ist). Nur die befragten französischen Eliten hätten das Selbstverständnis, ihr Land als ersten Akteur Europas anzusehen. Beim Kriterium „am meisten enttäuschend“ wird nach Ungarn und Polen Frankreich auf dem dritten Platz genannt, vor Deutschland; besonders enttäuscht über Frankreich äußern sich die Osteuropäer. Zugleich weist die Untersuchung eine Frustration im Binnenverhältnis zwischen Deutschlands und Frankreichs nach. Macron habe alles darangesetzt, die EU radikal zu reformieren, während Merkel den institutionellen status quo als hinreichend ansehe und lediglich zu kosmetischen Reformen bereit sei.

Im zweiten Teil der Untersuchung geht es um die Aussichten für ein geopolitisches Europa. Europa sehe sich von Großmachtrivalität und Nullsummenspiel-Denken, dem Aufstieg eines immer rabiateren China, einem revisionistischen Russland und einem Amerika umgeben, dessen Präsident skeptisch bis offen feindselig gegenüber der EU eingestellt sei. Die Pandemie beschleunige diese Trends, vertiefe die Bruchlinien und erodiere den Multilateralismus weiter. Vor diesem Hintergrund verfolgten Macron, Merkel und von der Leyen zwar gemeinsam das Ziel, ein stärkeres und unabhängigeres Europa zu schaffen, das die Welt mitgestalte, statt selbst von anderen gestaltet zu werden. Aber die Umfrage zeige große Unterschiede und weit voneinander abweichende Prioritäten auf. Geopolitische Themen stünden in Frankreich offenkundig viel höher auf der Agenda als in Deutschland: Fünf der französischen „Top Ten“-Themenfelder seien außenpolitscher Art, nur drei der deutschen. Frankreichs höchste Priorität sei „Verteidigung“; in Deutschland falle dieses Thema nicht einmal unter die „Top Ten“. Unter die „Top Five“ fallen in Frankreich Verteidigung, China und Europäische Außenpolitik, in Deutschland nur China. Dabei werde die deutsche Sicht von den meisten EU-Mitgliedstaaten geteilt: Fiskalpolitik, Migration, Klima, Märkte und Digitales (Frankreich nur Klima und Fiskalpolitik); Frankreich kümmere sich somit nicht um Felder, die alle anderen für sehr wichtig halten.

Trotz Übereinstimmung über die neue geopolitische Lage ziehen nach Puglierin und Franke die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident aus ihr sehr unterschiedliche Konsequenzen. Infolgedessen klage Paris über die mangelnde Bereitschaft in Deutschland, sich den geopolitischen Realitäten zu stellen und den fehlenden Sinn für die Dringlichkeit, umgekehrt klage man in Berlin über unnötige Spaltungen und nur halbgare Vorschläge aus Paris.

Auch die Untersuchungsergebnisse über eine europäische Politik gegenüber den drei Großmächten USA, Russland und China zeigten jeweils ein sehr gespaltenes EU-Europa. In der Amerika-Politik befürworteten von Finnland bis Griechenland sämtliche osteuropäischen Mitgliedstaaten sowie Spanien, Italien, Portugal und die Niederlande, den transatlantischen Verbund mit den USA in der Sicherheitspolitik zumindest aufrechtzuerhalten oder darüber hinaus noch auszubauen – auch mit einem wiedergewählten Präsidenten Trump. Demgegenüber tendierten Frankreich, Deutschland, Belgien, Schweden und Österreich dazu, eine Lockerung der Bindungen vorzubereiten.

In der Russlandpolitik sei das Bild etwas anders: die nord-, ost- und mitteleuropäischen Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschland sowie Spanien und Portugal, seien für restriktive Maßnahmen gegen Russland oder (Polen, Litauen) für eine Einhegung; Frankreich, Belgien, Italien, Österreich, Slowenien, Griechenland und Bulgarien seien für einen Verhandlungskompromiss mit Russland.

Nur in der China-Politik seien sich fast alle einig, China pragmatisch als Partner und zugleich als Rivalen zu sehen. Noch in keinem EU-Land wird China hauptsächlich als strategischer Rivale gesehen. In Südosteuropa wird es von Griechenland und Bulgarien ausschließlich als Partner gesehen; hier hat China offenkundig bereits den Fuß in der Tür. Die Autorinnen sind besorgt über diesen Mangel an Bewusstsein für die strategischen Implikationen des Aufstiegs Chinas. Dieser Mangel sei das größte Hindernis für ein geopolitischeres Europa, während sowohl die USA als auch China ihre Beziehungen zu Europa zunehmend durch das Prisma ihrer Rivalität sähen. Deutschland und Frankreich sollten gemeinsam darauf hinwirken, dass die USA und China die EU-Mitgliedstaaten nicht gegeneinander in Stellung bringen können.

Nicht zuletzt ist die Studie eine wertvolle Quelle zur Verteidigungspolitik. Nach Jahrzehnten geringer Bedeutung dieses in der EU notorisch umstrittenen Themenfelds, hätten die aufziehenden Sturmwolken zu intensiven Aktivitäten geführt, die mit dem Ausscheiden Großbritanniens auch leichter gefallen seien (European Defence Fund, Permanent Structured Co-operation). Zugleich bestünden aber gerade auch hier große Unterschiede: Deutschland bevorzuge EU-geführte Missionen unter inklusiver Beteiligung möglichst vieler EU-Mitgliedstaaten, Frankreich hingegen Koalitionen der Willigen und Fähigen auch außerhalb des EU-Rahmens. In Deutschland bestehe ein „Ziel erreicht-Syndrom“, was das „Europa der Verteidigung“ betrifft, und hier werde dieses Thema „de-priorisiert“. Grund dafür sei, dass deutsche Entscheider nach wie vor die NATO und die kollektive Bündnisverteidigung, mit den USA in der Führungsrolle, als entscheidend ansehen und daher den europäischen Pfeiler in der Allianz stärken wollen. Frankreich stünde der NATO schon seit jeher skeptischer gegenüber, und Macron stelle sein Land darauf ein, dass die NATO scheitere und die Europäer für ihre Sicherheit selbst sorgen müssten. Zusätzlich spalte seine Neigung zu Appeasement mit Russland die EU. Beides, das „Ziel erreicht-Syndrom“ und „Appeasement“, beruhe aber auf falschen Annahmen. Solange Deutschland und Frankreich auf derartig unterschiedlichen Wegen unterwegs und wechselseitig enttäuscht voneinander seien, werde das europäische Projekt keine Fortschritte machen können. Beide müssten zusammenfinden und hätten dann das Potential, die EU zu einen: Frankreich habe die Unterstützung der südlichen, Deutschland die der östlichen Mitgliedstaaten.

Die aktuelle Corona-Pandemie sehen die Autorinnen als Gelegenheit für Berlin, den bisherigen „ultra-pragmatic, status qou-minded course of non-action“ (Josef Janning) zu ändern und das entstandene Momentum deutsch-französischer Zusammenarbeit für die Entwicklung einer kohärenteren EU-Außenpolitik zu nutzen.

Die verdienstvolle Umfrage des ECFR und die Ergebnisanalyse durch die beiden renommierten Autorinnen zeigen ein besorgniserregendes Bild. EU-Europa ist in den wichtigsten Fragen seiner Sicherheit zutiefst gespalten – wie es mit der Bedrohung durch Russland als strategischem Gegner und der Systemrivalität des aufsteigenden China umgehen soll, und wie es seine transatlantischen Bindungen mit den USA im neuen Kontext geopolitischer Großmächterivalität gestalten soll.

Trotz Einigkeit in der Zielsetzung, die EU zum geopolitischen Spieler zu machen, anstatt zum Spielfeld anderer werden zu lassen, besteht kein Einvernehmen unter den 27 – auch nicht zwischen Deutschland und Frankreich über den verteidigungspolitischen Weg zu diesem Ziel. Über die fortbestehende Notwendigkeit einer Einbindung der USA bestehen zwischen den Nord- und Osteuropäern sowie Deutschland einerseits und den Südeuropäern sowie Frankreich andererseits sehr unterschiedliche Auffassungen. Das gleiche gilt für die europäische Politik gegenüber den USA, Russland und China. Selbst der politische Stellenwert des Themas „Verteidigung“ und die Frage, ob europäische Verteidigung als europäischer Pfeiler in der bewährten NATO oder in einer „souveränen“ und „autonomeren“ EU angestrebt werden sollte, ist in der EU und auch zwischen ihren beiden führenden Nationen strittig. Diesem ernüchternden Befund kann man nur beipflichten.

Zuzustimmen ist den Autorinnen in ihren Empfehlungen an die Europäer, sich der Notwendigkeit einer gemeinsamen Außenpolitik bewusst zu werden. Richtig ist auch ihr Rat an Paris und Berlin, sich in der Verteidigungspolitik aufeinander zuzubewegen – Frankreich muss die Bedrohungswahrnehmung der östlichen Mitgliedstaaten ernster nehmen, Deutschland muss dem Thema „Verteidigung“ weitaus höhere Priorität geben als bisher. Die Auffassung der Autorinnen, dass es für Deutschland deshalb höchst wichtig sei, kleinere Auslandseinsätze in „Koalitionen von willigen EU-Mitgliedstaaten“ außerhalb des EU-Rahmens zu akzeptieren, trifft aus Sicht des Verfassers allerdings nicht den wirklichen Punkt. Für Deutschland stellt sich vor allem die Frage, ob es willens ist, zum Schutz Europas die ihm angetragene Rolle als Rückgrat der konventionellen Abschreckung und Verteidigung gegenüber Europas strategischem Gegner Russland auszufüllen. Wer dies militärisch zu leisten vermag, wird immer auch an niedriger ambitionierten Interventionseinsätzen „a la francaise“ in der Sahelzone mitwirken können, umgekehrt aber nicht. Und auch in der EU sollte Konsens bleiben, dass für Abschreckung und kollektive Bündnisverteidigung in Europa auf lange Sicht weiterhin die Nordatlantische Allianz – mit oder ohne massive US-Truppenpräsenz in Europa – der maßgebliche Rahmen sein wird, nicht die EU-27.

https://www.ecfr.eu/publications/summary/the_big_engine_that_might_how_france_and_germany_can_build_a_geopolitical_e

Published Online: 2020-11-27
Published in Print: 2020-11-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  32. JD Work/Richard Harknett: Troubled vision: Understanding recent Israeli-Iranian offensive cyber exchanges. Washington D.C.: The Atlantic Council, Juli 2020
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  41. Ben Saul/Dapo Akande: The Oxford Guide to International Humanitarian Law. Oxford: Oxford University Press 2020, 480 Seiten
  42. James D. Bindenagel: Germany from Peace to Power. Can Germany lead in Europe without dominating? Bonn: Bonn University Press 2020, 223 Seiten
  43. Bildnachweise
  44. Iran and Israel: The Inevitable War?
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