Zusammenfassung
Zur Aufrechterhaltung der Frühen Hilfen während der Covid-19-Pandemie mussten Fachkräfte, Familien und Kommunen ihre Unterstützungsangebote verstärkt auf digitale Formate verlagern, um die Corona-Schutzregelungen einzuhalten. Dies stellte alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen, da die Frühen Hilfen in ihrer Grundkonzeption auf persönlichen Kontakten beruhen. Mit der Erprobung digitaler Lösungen wurden jedoch auch die Chancen, die eine Ergänzung der persönlichen Kontakte durch digitale Angebote bietet, deutlich sichtbar.
Abstract
To sustain early childhood intervention services during the Covid-19 pandemic, professionals, families, and communities had to move their support services to a digital distance. This posed particular challenges for all involved, as early childhood intervention is based on face-to-face contact in its basic design. However, as digital solutions were tested, the opportunities offered by supplementing face-to-face contacts with digital offerings also became apparent.
Einleitung
Die Frühen Hilfen basieren auf persönlichen Kontakten zwischen Fachkraft und Familie. Im persönlichen Kontakt, oftmals im häuslichen Umfeld, kann die Fachkraft Mütter und Väter beraten und begleiten, kann sich einen umfassenden Eindruck von den Unterstützungsbedarfen, den Sorgen und Nöten, aber auch den individuellen Stärken der Familie verschaffen und so dazu beitragen, dass die Familiengründung oder -erweiterung gut gelingt. Diese persönliche Beziehung bildet das Fundament der Frühen Hilfen, die seit 2012 bundesweit flächendeckend ausgebaut wurden [1]. Der erste Lockdown während der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 stellte Fachkräfte und Familien von einem Tag auf den anderen vor die Herausforderung, zur Aufrechterhaltung der frühzeitigen, familienunterstützenden Maßnahmen auf andere Formen, v.a. auch digitale, auszuweichen.
Datenbasis
Gefördert aus Mitteln der Bundesstiftung Frühe Hilfen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) mehrere Studien mit unterschiedlicher Methodik zum Thema „Familien in der Covid-19-Pandemie“ durchgeführt. Im Frühjahr 2020 und 2021 erfolgten zwei Befragungen von Fachkräften der Frühen Hilfen zur Situation und Betreuung von Familien und im Spätherbst 2020 eine qualitative Befragung einer kleinen Mütterstichprobe. Zudem enthielt die NZFH-Kommunalbefragung 2021 zusätzliche Items zur Umsetzung der Frühen Hilfen während der Pandemie.
Frühe Hilfen in die Distanz verlagern
Die kontaktbeschränkenden Maßnahmen im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 hatten zunächst gravierende Auswirkungen auf die Frühen Hilfen insgesamt und insbesondere auf die Umsetzung der gesundheitsorientierten Familienbegleitung (Erste NZFH-Fachkräftebefragung 2020) [2]. In der gesundheitsorientierten Familienbegleitung werden Familien mit Unterstützungsbedarf im häuslichen Umfeld durch speziell fort- und weitergebildete Gesundheitsfachkräfte, insbesondere Familienhebammen und Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegende, längerfristig betreut. Um den Anforderungen des Infektionsschutzes zu entsprechen, verlagerten viele dieser Fachkräfte ad hoc ihre Beratungs- und Betreuungstätigkeit ausschließlich oder überwiegend vom Hausbesuch auf insbesondere die telefonische Begleitung. Neben dieser wurden teilweise auch Videochat, E-Mail oder Messengerdienste genutzt. Hausbesuche wurden nur noch in Ausnahmen bei sehr stark belasteten Familien oder zur Krisenintervention durchgeführt – unter Beachtung der Abstands- und Hygieneregelungen sowie teilweise auch im Freien z. B. in Form von Spaziergängen, oft wurde die Dauer der Hausbesuche verkürzt.
Die Anfangsphase der Pandemie war durch ein hohes Maß an Unsicherheit und dementsprechend einer besonderen Vorsicht geprägt. Im Laufe der Pandemie erfolgte dann – so das Ergebnis der zweiten Fachkräftebefragung 2021 [3] – bei der Umsetzung der Frühen Hilfen, auch der aufsuchenden, längerfristigen Betreuung und Begleitung durch Gesundheitsfachkräfte, eine schrittweise „Normalisierung“ der Hilfeerbringung. Intensität und Art der Hilfeleistung entsprachen jedoch noch nicht wieder der Situation von vor der Pandemie. Knapp 60% der befragten Fachkräfte gaben im Mai 2021 an, dass sich die Anzahl der Hausbesuche gegenüber dem ersten Lockdown vor einem Jahr wieder „etwas“ oder „deutlich“ erhöht habe, bei einem Viertel gab es hingegen noch keine Veränderung hin zur vorpandemischen „Normalität“. 17% berichteten sogar 2021 von einer gegenüber 2020 noch weiter reduzierten Anzahl von Hausbesuchen. Die zweite Fachkräftebefragung fiel in die Zeit der „Bundes-Notbremse“, in der zwischen April und Juni 2021 bundesweit weitreichende Kontaktbeschränkungen in Regionen mit hoher Inzidenz galten (https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/bundesweite-notbremse-1888982). Vor diesem Hintergrund ist der Befund, dass die Hilfeerbringung noch nicht wieder wie in der vorpandemischen „Normalität“ erfolgte, nicht überraschend. Vielmehr zeigt sich in der gegenüber 2020 berichteten Erhöhung der Hausbesuche die hohe Bedeutung des persönlichen Kontakts in der längerfristigen Betreuung, die trotz geltender Kontaktbeschränkungen, wo möglich, wieder durchgeführt wurden.
Obwohl der persönliche Kontakt zu den Familien insgesamt wieder häufiger stattfand, blieben telefonische und neue digitale Lösungen, die alternativ oder ergänzend zum Hausbesuch eingesetzt wurden, von Bedeutung. Die Begleitung der Familien erfolgte weiterhin ergänzend zu den verstärkt wieder aufgenommenen persönlichen Kontakten insbesondere telefonisch und per Messenger-Diensten: Jeweils ca. zwei Drittel der Fachkräfte geben an, dass sie diese Medien in den letzten drei Monaten einsetzten. Auch Beratung mit Bildübertragung (z. B. Videochat) wurde durchgeführt: Dies gab etwa jede vierte Fachkraft an.
Ähnlich wie die Fachkräfte in den Frühen Hilfen berichteten auch die Koordinatorinnen und Koordinatoren der kommunalen Netzwerke Frühe Hilfen davon, wie die Angebotslandschaft in den Kommunen den Anforderungen des Infektionsschutzes angepasst wurde. So gaben 81,4% aller Befragten in der NZFH-Kommunalbefragung [4] an, dass in ihrer Kommune Angebote zur Telefonberatung für Familien entwickelt und ausgebaut wurden. In mehr als der Hälfte aller Kommunen (58,9%) war dies auch bei der Onlineberatung der Fall, jedoch häufiger in städtischen Räumen (63,4%) als in ländlichen (51,0%).
Digitalisierung in den Frühen Hilfen sinnvoll weiterentwickeln
Die Bewertung der digitalen Lösungen in den Frühen Hilfen stellt sich ausgesprochen differenziert dar [3]. So sahen Fachkräfte die telefonischen und digitalen Formate einerseits als einen Pluspunkt, da durch Wegfall von Anfahrtswegen mehr Zeit für die Arbeit mit den Familien blieb und auch regelmäßigere (kürzere) Kontakte möglich waren. Andererseits berichteten die Fachkräfte auch von spezifischen Herausforderungen, die mit der „Hilfe auf Distanz“ verbunden waren. Jede vierte Fachkraft beschrieb ihre Arbeit als „erschwert“, „belastend“ oder „nicht zufriedenstellend“. Mit Sorge wurde bei Reduzierung der persönlichen Kontakte, bspw. bei einem Hausbesuch, auch auf die Qualität der Betreuungsarbeit geblickt. Der persönliche Kontakt und Eindruck fehlten, was mit der Befürchtung einherging, in den Familien „etwas zu übersehen“ [3].
Ähnlich zwiegespalten war auch die Sicht der befragten Mütter. Die kontaktbeschränkenden Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens wurden verstanden und weit überwiegend als notwendig und sinnvoll akzeptiert. Mütter bestätigten jedoch auch die Aussagen der Fachkräfte, dass die Verlagerung der Familienunterstützung vom persönlichen Kontakt in die Distanz zu qualitativen Einbußen bei der Hilfeleistung führte: Obwohl die telefonische oder digitale Betreuung „auch geklappt“ habe, fehlte den befragten Müttern die persönliche, Sicherheit gebende Ebene [3].
Trotz dieser differenzierten Rückschau auf die Situation der Frühen Hilfen in der Pandemie konnten sich 42% der Fachkräfte vorstellen, dass Elemente der digitalen Betreuung und Begleitung über die Pandemie hinaus erhalten bleiben. Sie denken dabei vor allem an die Videotelefonie sowie generell an Telefonate oder Kurznachrichten, die für kurzfristige oder „kleinere“ Fragen oder Anliegen „zwischendurch“ geeignet erscheinen, ebenso wie für das schnelle Reagieren in Akutsituationen. Außerdem relevant für „Nach-Pandemie-Zeiten“ könnten aus Sicht einiger Fachkräfte „Online-Elternabende“ bzw. digitale Beratung und Austausch in Gruppen zu speziellen Themen wie Schlafen oder Ernährung sein. Diese digitalen Elemente können dazu beitragen, persönliche Kontakte zwischen Familie und Fachkraft zu rahmen, zu organisieren und zu ergänzen, sind jedoch nicht dazu geeignet, sie zu ersetzen.
Auch von der Mehrheit der kommunalen Koordinatorinnen und Koordinatoren der Netzwerke Frühe Hilfen wird die Digitalisierung – vor allem in Flächenlandkreisen – durchaus als Chance zur Qualitätsentwicklung begriffen [4]: So gaben 67,5% der Kommunen an, den Auf- und Ausbau digitalisierter Angebote und Kommunikationsstrukturen im Netzwerk als konzeptionelles Ziel zur Weiterentwicklung der Frühen Hilfen zu verfolgen. 4,4% sahen dieses Ziel bis zum Jahresende 2020 bereits als erreicht an.
Fazit
Die Entwicklung und Umsetzung digitaler Lösungen in den Frühen Hilfen war zunächst aus der Not der Pandemie geboren. Um den Anforderungen des Infektionsschutzes zu genügen, mussten die Angebote innerhalb kürzester Zeit in die Distanz verlagert werden, in einem Tätigkeitsfeld, das in seiner Grundkonzeption auf persönlichen Kontakten zwischen Fachkraft und Familie beruht. In Reaktion auf die Pandemie waren Fachkräfte, Familien und Kommunen gezwungen, digitale Lösungen zu erproben. Dabei offenbarte sich zum einen, wie grundlegend persönliche Kontakte in den Frühen Hilfen nach wie vor sind, zum anderen aber auch, dass verschiedene Aspekte der Digitalisierung das Feld der Frühen Hilfen als Ergänzung durchaus bereichern können.
Autorenerklärung
Autorenbeteiligung: Die Autorin trägt Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und hat der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Das Projekt wurde gefördert aus Mitteln der Bundesstiftung Frühe Hilfen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Interessenkonflikt: Die Autorin erklärt, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: In Übereinstimmung mit der Deklaration von Helsinki wurden die Teilnehmer über das genaue Verfahren der Studie informiert und haben freiwillig teilgenommen. Alle Teilnehmer gaben ihre Zustimmung.
Author Declaration
Author contributions: The author has accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: The project received funding by the Federal Foundation for Early Childhood Intervention of the Federal Ministry for Family Affairs, Senior Citizens, Womenand Youth Conflict of interest: Author statets no conflict of interest. Ethical statement: In accordance with the Helsinki Declaration, the participants were informed about the exact procedure of the study and took part voluntarily.
Literatur
1. Renner I, Saint V, Neumann A, Ukhova D, Horstmann S, Böttinger U, et al. Improving psychosocial services for vulnerable families with young children: strengthening links between health and social services in Germany. Br Med J 2018;363:k4786.10.1136/bmj.k4786Search in Google Scholar PubMed PubMed Central
2. Scharmanski S, Van Staa J, Renner I. Aufsuchende Familienbegleitung in der COVID-19-Krise durch Ge-sundheitsfachkräfte der Frühen Hilfen. Die Hebamme 2020;33:20–8.10.1055/a-1213-8025Search in Google Scholar
3. Renner I, van Staa J, Neumann A, Sinß F, Paul M. Frühe Hilfen aus der Distanz – Chancen und Herausforderungen bei der Unterstützung psychosozial belasteter Familien in der COVID-19-Pandemie. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021;64:1603–10.10.1007/s00103-021-03450-6Search in Google Scholar PubMed PubMed Central
4. Peterle C, Küster EU. Kommunale Frühe Hilfen während der Corona-Pandemie. Fak-tenblatt zu den NZFH-Kommunalbefragungen. Herausgegeben vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen (NZFH). Köln, 2023.Search in Google Scholar
©2023 Ilona Renner, published by De Gruyter, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.
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- Ursachen und Prävention von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung
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