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Frühzeitige Bewertung von Auswirkungen bei der Einführung neuer Produktvarianten

Relevanz und Kritikalität für Fabriksysteme
  • Mehmet Demir

    Mehmet Demir, M. Sc., geb. 1998, studierte Wirtschaftsingenieurwesen mit dem Schwerpunkt Produktionstechnik an der Leibniz Universität Hannover. Seit 2023 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachgruppe Fabrikplanung am Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) der Leibniz Universität Hannover.

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    , Lennart Hingst

    Dr.-Ing. Lennart Hingst, geb. 1989, studierte Technische Logistik an der Universität Duisburg-Essen und arbeitete von 2015 bis 2019 als Intralogistik- und Materialflussplaner. Im Jahr 2019 wechselte er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in die Fachgruppe Fabrikplanung des Instituts für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) der Leibniz Universität Hannover. Nach seiner Promotion am IFA arbeitet er seit 2023 als Senior Projektmanager Fabrikplanung bei Phoenix Contact.

    , Matthias Schmidt

    Prof. Dr.-Ing. habil. Matthias Schmidt, geb. 1978, studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Leibniz Universität Hannover und arbeitete anschließend als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Produktionsanlagen und Logistik (IFA). Nach seiner Promotion zum Dr.- Ing., wurde er Leiter des Bereichs Forschung und Industrie des IFA und habilitierte dort. 2018 wurde er Inhaber des Lehrstuhls für Produktionsmanagement und ab 2019 Leiter des Instituts für Produktionstechnik und -systeme (IPTS) an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit 2024 hat er die Leitung des IFA übernommen.

    und Peter Nyhuis

    Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Nyhuis, geb. 1957, studierte Maschinenbau an der Leibniz Universität Hannover. Nach seinem Studium arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA). Nach seiner Promotion zum Dr.-Ing. habilitierte er und sammelte Berufserfahrung als Managerim Bereich Supply Chain Management in der Elektronik- und Maschinenbaubranche. Von 2003 bis 2024 leitete er das Institut für Fabrikanlagen und Logistik an der Leibniz Universität Hannover.

Veröffentlicht/Copyright: 10. Dezember 2024
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Abstract

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Unternehmen ein vielfältiges Produktportfolio anbieten, das den individuellen Wünschen der Kunden entspricht. Dies führt zu einer zunehmenden Variantenvielfalt und steigenden Kosten in Fabriksystemen. Die frühzeitige Erkennung der Unwirtschaftlichkeit von Produktvarianten vor Produktionsbeginn ist dabei von entscheidender Bedeutung. In diesem Beitrag wird die Relevanz und Kritikalität von Entscheidungen über die Einführung zusätzlicher Produktvarianten für Fabriksysteme aufgezeigt. Darauf aufbauend werden Anforderungen an ein Bewertungs- und Entscheidungsmodell formuliert, das die Vorhersage von Folgekosten im Fabriksystem ermöglicht.

Abstract

To remain competitive, companies must offer a diverse product portfolio that meets the individual needs of their customers. This leads to an increasing number of variants and rising costs in factory systems. The early detection of uneconomical product variants before production begins is of crucial importance. This article shows the relevance and criticality of decisions on the introduction of additional product variants for factory systems. Based on this, requirements for an evaluation and decision model are formulated that enables the prediction of followup costs in the factory system.

Einleitung

Im Laufe der 1970er-Jahre wandelte sich der Markt von einem Verkäufermarkt, bei dem Kunden nur aus einem begrenzten Portfolio von Produkten wählen konnten, zu einem Käufermarkt [1]. Der Wandel zum Käufermarkt, in dem Kunden dank fortschreitender Produktionstechnologien aus einer Vielzahl von Produkten auf gesättigten Märkten wählen können, erfordert eine verstärkte Kundenorientierung als Strategie, um die langfristige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern [2, 3, 4]. In der Konsequenz dessen passen viele Unternehmen ihr Produktprogramm an, indem sie ihre Angebotspalette von einer homogenen und schmalen Produktlinie mit nur wenigen Varianten zu einer heterogenen und breitgefächerten Produktpalette erweiterten, die eine große Vielfalt an unterschiedlichen Produkten mit geringer Stückzahl umfasst [3, 4, 5]. Um weitere Marktanteile zu gewinnen und ihre Kundenorientierung weiter zu stärken, streben Unternehmen die Besetzung immer kleinerer Nischen mit spezifischen und kundenindividuellen Produktvarianten an [4]. Das stellt produzierende Unternehmen vor die Herausforderung, fortlaufend Anpassungen ihrer Produkte vorzunehmen und somit eine stetig wachsende Anzahl von Produktvarianten in Fabriksysteme zu integrieren [6]. Studien haben gezeigt, dass erfolgreiche Unternehmen im Vergleich zu weniger erfolgreichen Unternehmen wesentlich weniger Produkte und Bauteile haben [7]. Unternehmen wird daher empfohlen, das Ziel zu verfolgen, die Anzahl der Produktvarianten zu reduzieren [5]. Dies widerspricht der Annahme der Unternehmen, dass eine große Variantenvielfalt zu positiven Unternehmensergebnissen führt [8]. Inzwischen droht die Komplexität des Produktportfolios die Unternehmen zu überfordern, was zu weiteren Anstrengungen führt, die wuchernde Variantenvielfalt einzudämmen [2].

Die Integration einer zunehmenden Vielfalt an Produktvarianten in bestehende Produktionsprozesse führt zu einer steigenden Anzahl von Fabrikplanungsprojekten und erhöht die Komplexität der internen Logistikprozesse [9, 10]. Dabei sind die Auswirkungen jeder neuen Produktvariante auf die Fabrik besonders relevant, da sie erhebliche Kosten nach sich ziehen können. Eine frühzeitige Bewertung der Auswirkungen der Einführung einer neuen Produktvariante auf ein Fabriksystem ist dabei entscheidend, um die nachhaltige Wirtschaftlichkeit der Unternehmen nicht zu gefährden und ihre begrenzten Ressourcen optimal einzusetzen. Da das gesamte Fabriksystem nicht als alleinstehendes Gestaltungsobjekt bewertet werden kann, wird es in einzelne Fabrikobjekte unterteilt, die die einzelnen Komponenten der Fabrik darstellen [2,11]. Eine wesentliche Herausforderung für Unternehmen resultiert derzeit aus der fehlenden Möglichkeit einer klaren und frühzeitigen Unterscheidung zwischen wertschöpfender und wertvernichtender Produktvariante [12].

In diesem Beitrag wird zunächst das eingangs beschriebene Problem der Einführung neuer Produktvarianten in bestehende Fabriksysteme detailliert erläutert. Anschließend wird eine forschungsleitende Arbeitshypothese formuliert. Basierend auf den aktuellen Herausforderungen durch die Variantenvielfalt werden Anforderungen an ein zu entwickelndes Bewertungs- und Entscheidungsmodell definiert, das eine frühzeitige Abschätzung der Auswirkungen ermöglicht. Abschließend erfolgt ein Fazit und Ausblick auf das weitere Vorgehen.

Steigende Variantenvielfalt: Herausforderungen für Unternehmen

Gemäß der DIN 199 ist eine Variante dadurch gekennzeichnet, dass sie eine ähnliche Form und/oder Funktion sowie einen hohen Anteil an gleichen Bauteilen oder Baugruppen wie das bestehende Produkt aufweist [13]. Die Variantenvielfalt hingegen ist wie folgt definiert: „Variantenvielfalt ist gekennzeichnet durch die Anzahl der unterschiedlichen Ausführungsformen eines Teiles, einer Baugruppe oder eines Produktes“ [4]. In den letzten Jahrzehnten ist die Variantenvielfalt kontinuierlich und teilweise drastisch angewachsen [12]. Dieser Trend ist nicht nur in großen Unternehmen, sondern auch in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) zu beobachten [14]. Die historisch gewachsene Variantenvielfalt in vielen Unternehmen ist auch das Resultat einer unzureichenden, regelmäßigen Bereinigung des Produktprogramms, bei der alte Produkte nicht in dem Maße vom Markt genommen werden, wie neue Produkte eingeführt werden [4].

Die effiziente Verteilung begrenzter Ressourcen auf verschiedene Varianten stellt für KMU eine Herausforderung dar, da sie häufig mehrere oder sogar alle Varianten in ihre betrieblichen Abläufe integrieren müssen. Zusätzlich verfügen KMU über begrenzte Ressourcen, während größere Unternehmen den Vorteil haben, auf mehrere Produktionsanlagen zurückgreifen zu können. So hat der Volkswagen-Konzern zum Beispiel ein umfassendes Variantenmanagement für alle seine Marken implementiert [21]. Eine geringfügige Steigerung der Variantenvielfalt kann durch bestehende Ressourcen (Fläche, Betriebsmittel und Personal) bewältigt werden. Jedoch ist festzustellen, dass eine Variantenvielfalt, die die Kapazitätsgrenzen des Fabriksystems übersteigt und nicht mehr durch die vorhandenen Ressourcen bewältigt werden kann, erhebliche Kosten verursacht. Solche Kosten entstehen beispielsweise durch die Notwendigkeit, zusätzliches Personal einzustellen und zu schulen sowie durch Investitionen in flexible Fertigungstechniken oder komplexe EDV-Systeme [15, 16]. Aufgrund der eingangs erläuterten internern und externern Veränderungstreibern ist eine grundlegende Variantenvielfalt aber oft unvermeidlich, wodurch variantenbedingte Kosten im Fabriksystem zwangsläufig entstehen [17]. Daher ist es wichtig, in Fabriksystemen, die nahe an ihrer Kapazitätsgrenze betrieben werden oder über nicht ausreichende Kapazitäten verfügen, die Einführung einer zusätzlichen Produktvariante sorgfältig abzuwägen und die damit verbundenen Aufwände im Voraus abzuschätzen.

Wirtschaftliche Auswirkungen der steigenden Variantenvielfalt in Fabriksystemen

Unternehmen sind der Ansicht, dass insbesondere ein erweitertes Produktsortiment einen positiven Einfluss auf die Kundenzufriedenheit hat und zu einer Umsatzsteigerung durch höheren Absatz oder höhere Preise führen kann [8]. Obwohl diese Strategien vielversprechend erscheinen mögen, gehen sie mit einem erhöhten Aufwand und zusätzlichen Kosten bei der Umsetzung einher und führen zu einer erhöhten Produkt- und Prozesskomplexität im Unternehmen [4, 18]. Die Variantenvielfalt hat signifikante Auswirkungen auf die Kosten in verschiedenen Unternehmensbereichen, insbesondere in der Entwicklung und Konstruktion, im Einkauf, in der Prosduktion, im Vertrieb und in der Logistik [18]. Im Rahmen der Entwicklung entstehen beispielsweise zusätzliche Kosten für die Erstellung und Verwaltung der Produktdokumentation sowie für die Wartung von zusätzlichen Teilen und Stammdaten [7]. In der Fertigung machen sich die kostenbezogenen Auswirkungen der Variantenvielfalt insbesondere durch erhöhten Aufwand bei der Erstellung von Arbeitsplänen, der Bereitstellung und Anpassung von Werkzeugen und Vorrichtungen, Schulungen sowie durch Auslastungsschwankungen bemerkbar [7]. Zudem erfordern eine komplexere Kapazitätsplanung, Rüstungsaufwände und Anlaufverluste aufgrund kleinerer Losgrößen zusätzliche Kosten [7]. Die Einführung einer neuen Produktvariante führt in der Logistik zu erhöhtem Planungsaufwand, Schwierigkeiten bei der Belieferung der Produktion, erhöhtem Lagerplatzbedarf, größeren Ersatzteilbeständen, der Notwendigkeit einer Neubestimmung der Materialflüsse und potenziellen Änderungen im Logistiksystem [3]. Die durch Produktvarianten verursachten Kosten treten überwiegend in indirekten Bereichen auf: Etwa 70 Prozent entfallen auf Lagerhaltung, Transport und Kommissionierung, während nur 30 Prozent direkte Material- und Arbeitskosten betreffen [19]. Dies stellt Unternehmen vor die Herausforderung, die indirekten Bereiche vollständig zu berücksichtigen. Indirekte Kosten manifestieren sich häufig in Form von erhöhten Lagerhaltungskosten oder komplexeren Kommissionierungsprozessen. Diese Kosten sind nicht immer sofort sichtbar, da sie sich über verschiedene Abteilungen verteilen und häufig erst im Betrieb aufgedeckt werden. Die konkreten kostentechnischen Auswirkungen im Zuge der Einführung einer neuen Variante sind weitgehend unbekannt, ebenso wie die genaue Einschätzung der Auswirkungen auf die einzelnen Abteilungen [3]. Oftmals werden die zusätzlichen Kosten durch Produktvarianten von Unternehmen systematisch unterschätzt [12]. Das Mitspracherecht bei der Bestimmung von Varianten wird hauptsächlich von den Bereichen Marketing und Entwicklung ausgeübt, während die hauptleidtragenden Bereiche, die Produktion und Logistik, wenig bis gar kein Mitspracherecht haben [3, 20]. Dabei zeigen Untersuchungen, dass zwischen 50 Prozent und 80 Prozent der kostenbezogenen Aufwendungen, die auf die Vielzahl von Produktvarianten zurückzuführen sind, in den Bereichen Produktion und Logistik anfallen [7].

Die Reduzierung von Produktvarianten bietet Kostenvorteile durch vereinfachte Logistik, reduzierte Rüstkosten und verbesserte Automatisierbarkeit durch häufigere Wiederholung weniger Prozesse [1]. Oftmals beginnen die Bemühungen zur Reduzierung der Variantenvielfalt jedoch erst nach dem Produktionsstart, wenn die Varianten bereits ins Produktionsprogramm aufgenommen und Investitionen getätigt wurden [20]. Nach der Einführung einer Produktvariante und den damit verbundenen Investitionen hat eine spätere Reduzierung der Variantenvielfalt aufgrund der Kostenremanenz nur noch einen geringen Effekt [5]. Der Begriff Kostenremanenz bezeichnet das Phänomen, dass bei der Reduzierung der Variantenvielfalt die zuvor getätigten Investitionen und damit verbundenen Kosten nicht in gleichem Maße reduziert werden können [21]. Dies liegt daran, dass bei dem Versuch, die Variantenvielfalt zu verringern, die getätigten Investitionen und die damit verbundenen Kosten nicht im gleichen Maße reduziert werden können [21]. Bild 1 zeigt, dass bei einer Reduzierung der Produktvarianten nach Produktionsbeginn das ursprüngliche Kostenniveau aufgrund desasymmetrischen Kostenverhaltens nicht wieder erreicht werden kann.

Bild 1 Kostenremanenz bei der Reduzierung von Produktvarianten nach Produktionsbeginn (i. A. an [6, 20, 21])
Bild 1

Kostenremanenz bei der Reduzierung von Produktvarianten nach Produktionsbeginn (i. A. an [6, 20, 21])

Ein Bauteil, das im Zuge einer neuen Variante in das Fabriksystem integriert wird und variantenbedingte Kosten von 50.000 € verursacht (z. B. durch zusätzliche Lagerflächen und -technik), bietet nach der Einführung aufgrund der Kostenremanenz ein Einsparpotenzial von lediglich 15.000 € [7]. Außerdem hat die kurzfristige Einführung einer neuen Produktvariante langfristige Auswirkungen, da zum Beispiel Unternehmen in der Europäischen Union auch Jahre später noch Ersatzteile für bestimmte eingeführte Produktvarianten bereitstellen müssen [22].

Schlussfolgerung

Aufgrund der Kostenremanenz und den langfristigen Auswirkungen von Produkteinführungen setzen Unternehmen ihre ökonomische Nachhaltigkeit aufs Spiel, wenn sie unwirtschaftliche Produktvarianten ins Produktionsprogramm aufnehmen. Es muss daher sichergestellt werden, dass die Auswirkungen der Einführung einer neuen Produktvariante auf das Fabriksystem transparent aufgezeigt werden, um diese weitreichenden Auswirkungen in Unternehmen noch vor dem Produktionsbeginn zu vermeiden. Ein Strategiewechsel von der Variantenreduzierung nach Produktionsbeginn hin zu einer gezielten Vermeidung von Produktvarianten erfordert eine fundierte Prognose der Auswirkungen auf die Fabrik und deren Betriebsabläufe [17]. Daher müssen mögliche variantengetriebene Kosten und Auswirkungen auf die Fabrik im Vorfeld abgeschätzt werden, um sie vor der Einführung eines neuen Produktes oder einer Variante mit dem Vertrieb und der Entwicklung diskutieren zu können [3]. Aktuell vernachlässigen Analysen von Variantenauswirkungen die Phasen vor dem Produktionsbeginn [17, 18]. Insbesondere für KMU ist es entscheidend, irreversible Kosten zu vermeiden, da sie vor der Herausforderung stehen, ihre begrenzten Ressourcen auf verschiedene Varianten zu verteilen. Daher müssen KMU Strategien entwickeln, um die Auswirkungen neuer Produktvarianten vor dem Produktionsbeginn vollständig zu erfassen und diese in den Entscheidungsprozess einzubeziehen, insbesondere im Hinblick auf die Kosten sowie die Bereiche Produktion und Logistik.

Arbeitshypothese

Die Einführung neuer Produktvarianten führt zu direkten und indirekten Auswirkungen auf das Fabriksystem. Wenn die Kapazität eines Fabrikobjekts überschritten wird, sind fabrikplanerische Maßnahmen erforderlich, um die Leistungsfähigkeit der Fabrik sicherzustellen. Die Auswirkungen und Maßnahmen müssen noch vor dem Produktionsbeginn bewertet werden, um unwirtschaftliche Produktvarianten frühzeitig zu identifizieren. Die forschungsleitende Arbeitshypothese lautet daher: „Durch die frühzeitige und systematische Bewertung der Auswirkungen neuer Produktvarianten auf das Fabriksystem können Unternehmen, insbesondere KMU, unwirtschaftliche Produktvarianten noch vor dem Produktionsbeginn vermeiden und ihre begrenzten Ressourcen effizienter nutzen.“ Diese Hypothese dient zur Untersuchung, ob die Implementierung eines Bewertungs- und Entscheidungsmodells mit Vorstudiencharakter dazu beitragen kann, die Kosten und Auswirkungen neuer Produktvarianten im Voraus abzuschätzen und somit die langfristige Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Nachhaltigkeit produzierender Unternehmen zu sichern.

Anforderungen an ein Bewertungs- und Entscheidungsmodell

Für ein zu entwickelndes Bewertungs- und Entscheidungsmodell zur frühzeitigen Bewertung neuer Produktvarianten in Fabriksystemen müssen im ersten Schritt Anforderungen an dieses definiert werden. Dazu wurden aus der beschriebenen Problemstellung folgende Anforderungen abgeleitet:

Ganzheitliche Betrachtung des Fabriksystems

Das Modell muss alle relevanten Fabrikobjekte einbeziehen um das System Fabrik ganzheitlich zu erfassen.

Erfassung und Abbildung von Wechselwirkungen

Das Modell soll die Wechselwirkungen zwischen den Produktmerkmalen einer neuen Variante und den Fabrikobjekten sowie die internen Wechselwirkungen zwischen Fabrikobjekten und Produktmerkmalen berücksichtigen.

Berücksichtigung von Kapazitätsgrenzen

Das Modell muss die Kapazitätsgrenzend er einzelnen Fabrikobjekte berücksichtigen.

Ableitung von Maßnahmen bei Kapazitätsüberschreitungen

Das Modell muss Handlungsempfehlungen bereitstellen, die bei der Überschreitung von Kapazitätsgrenzen ergriffen werden.

Ex-ante-Bewertung von Auswirkungen

Das Modell muss Auswirkungen und Maßnahmen vor der Einführung einer neuen Produktvariante bewerten.

Allgemeingültigkeit

Das Modell muss auf unterschiedliche Fabriksysteme und Produktvarianten angewendet werden können.

Praktische Anwendbarkeit

Das Modell soll in der Praxis leicht implementierbar und anwendbar sein.

Zusammenfassung und Ausblick

Der vorliegende Beitrag verdeutlicht die Herausforderungen, denen Unternehmen durch die wachsende Variantenvielfalt gegenüberstehen sowie die Notwendigkeit einer frühzeitigen Bewertung neuer Produktvarianten. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit einer Produktvariante hat oberste Priorität. Erst wenn diese sichergestellt ist, sollten weitere für das Fabriksystem relevante Zielgrößen wie die Durchlaufzeit oder Liefertreue betrachtet werden, die durch die Einführung der Produktvariante beeinflusst werden können. Die Kostenremanenz und die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen von Produktvarianten machen die Notwendigkeit eines Bewertungs- und Entscheidungsmodells mit Vorstudiencharakter deutlich, besonders für KMU, die mit knappen Ressourcen operieren. Die definierten Anforderungen an das zu entwickelnde Modell, bilden die Kriterien für die Entwicklung eines effizienten Instruments zur nachhaltigen Variantenvermeidung. Nur durch eine systematische und frühzeitige Bewertung können Unternehmen die Einführung unwirtschaftlicher Produktvarianten vermeiden, ihre Ressourcen effizienter nutzen und ihre langfristige Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Nachhaltigkeit sicherstellen. Die Entwicklung eines Bewertungs- und Entscheidungsmodells mit Vorstudiencharakter wird ein zentraler Bestandteil der weiterführenden Forschung sein. Ein zukünftiger Forschungsschwerpunkt liegt in der Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen Produktvarianten und Fabrikobjekten, der Definition von Kapazitätsgrenzen der Fabrikobjekte und der Entwicklung von Handlungsempfehlungen bei Kapazitätsüberschreitungen. Im nächsten Schritt wird basierend auf den definierten Anforderungen eine systematische Literaturrecherche durchgeführt, um bestehende Ansätze zu identifizieren und zu bewerten. Darauf aufbauend wird ein methodisches Vorgehensmodell entwickelt, mit dem ein Bewertungs- und Entscheidungsmodell erarbeitet und die Arbeitshypothese überprüft werden kann.


Hinweis

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen von den Mitgliedern des ZWF-Advisory-Board wissenschaftlich begutachteten Fachaufsatz (Peer Review).



Tel.: +49 (0) 511 762-18180

Funding statement: Das Projekt „Modell zur Bewertung von variantengetriebenen Kosten einer Fabrik und Entscheidungsunterstützung zur Einführung von neuen Produktvarianten (VaKoFa)“ [01F23287N] wird im Rahmen des Programms „Industrielle Gemeinschaftsforschung“ durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.

About the authors

Mehmet Demir

Mehmet Demir, M. Sc., geb. 1998, studierte Wirtschaftsingenieurwesen mit dem Schwerpunkt Produktionstechnik an der Leibniz Universität Hannover. Seit 2023 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachgruppe Fabrikplanung am Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) der Leibniz Universität Hannover.

Dr.-Ing. Lennart Hingst

Dr.-Ing. Lennart Hingst, geb. 1989, studierte Technische Logistik an der Universität Duisburg-Essen und arbeitete von 2015 bis 2019 als Intralogistik- und Materialflussplaner. Im Jahr 2019 wechselte er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in die Fachgruppe Fabrikplanung des Instituts für Fabrikanlagen und Logistik (IFA) der Leibniz Universität Hannover. Nach seiner Promotion am IFA arbeitet er seit 2023 als Senior Projektmanager Fabrikplanung bei Phoenix Contact.

Prof. Dr.-Ing. habil. Matthias Schmidt

Prof. Dr.-Ing. habil. Matthias Schmidt, geb. 1978, studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Leibniz Universität Hannover und arbeitete anschließend als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Produktionsanlagen und Logistik (IFA). Nach seiner Promotion zum Dr.- Ing., wurde er Leiter des Bereichs Forschung und Industrie des IFA und habilitierte dort. 2018 wurde er Inhaber des Lehrstuhls für Produktionsmanagement und ab 2019 Leiter des Instituts für Produktionstechnik und -systeme (IPTS) an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit 2024 hat er die Leitung des IFA übernommen.

Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Nyhuis

Prof. Dr.-Ing. habil. Peter Nyhuis, geb. 1957, studierte Maschinenbau an der Leibniz Universität Hannover. Nach seinem Studium arbeitete er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Fabrikanlagen und Logistik (IFA). Nach seiner Promotion zum Dr.-Ing. habilitierte er und sammelte Berufserfahrung als Managerim Bereich Supply Chain Management in der Elektronik- und Maschinenbaubranche. Von 2003 bis 2024 leitete er das Institut für Fabrikanlagen und Logistik an der Leibniz Universität Hannover.

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Published Online: 2024-12-10
Published in Print: 2024-12-20

© 2024 Mehmet Demir, Lennart Hingst, Matthias Schmidt und Peter Nyhuis, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Editorial
  3. Die Zukunft der Produktionsnetzwerke – effizient, flexibel, intelligent und nachhaltig
  4. Produktionsstrategien
  5. Simulation und Bewertung von Fahrzeug-Produktionsstrategien
  6. Mit vorausschauenden Produktionsstrategien Wachstum in sich wandelnden Märkten erreichen
  7. Produktionsnetzwerke
  8. Standortstrategieentwicklung und Roadmapping in globalen Produktionsnetzwerken
  9. Kreislauffähige Produktionsnetzwerke
  10. Produktionsplanung
  11. Auswirkungen von Laststeuerungsprogrammen auf Lieferketten
  12. Digitaler Produktpass
  13. Verursachungsgerechte CO2-Bilanzierung für den Digitalen Produktpass
  14. Digitales Ecosystem
  15. Intelligente Wertschöpfungsnetzwerke für individuelle Fahrzeugentwicklung
  16. Supply-Chain-Management
  17. Modulares Simulationsmodell für das operative Supply-Chain-Management
  18. Variantenmanagement
  19. Frühzeitige Bewertung von Auswirkungen bei der Einführung neuer Produktvarianten
  20. Wirtschaftlichkeit
  21. Nutzen- und Kostenbestimmung von Technologien
  22. Echtzeitkommunikation
  23. Rescheduling zyklischer Echtzeitkommunikation
  24. Presshärten
  25. Höhere Duktilität durch verhinderte Austenitisierung
  26. Künstliche Intelligenz
  27. Generative Künstliche Intelligenz als Assistenz in der Instandhaltung
  28. Prozessmodell zur Entwicklung KI-basierter Geschäftsmodelle
  29. Digitale Transformation
  30. Gemba-Digitalisierung 4.0? Digitale Transformation auf Japanisch
  31. Vorgehensmodell zur Analyse und Auswahl einer IoT-Plattform für KMU
  32. Datenmanagement
  33. IIoT-basierte Geschäftsmodelle für Komponentenhersteller
  34. Vorschau
  35. Vorschau
Heruntergeladen am 8.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zwf-2024-1167/html
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