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Gemba-Digitalisierung 4.0? Digitale Transformation auf Japanisch

  • Hajo Holst

    Prof. Dr. Hajo Holst ist Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Osnabrück. Seine Forschungsinteressen gelten der Digitalisierung und der Dekarbonisierung der Automobilindustrie, dem Wandel von Industriearbeit und den Langfristfolgen der Corona-Pandemie in der Arbeitswelt. Zudem beschäftigt er sich seit Jahren mit der Implementierung von Lean Production in Deutschland.

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    , Katsuki Aoki

    Prof. Dr. Katsuki Aoki ist Professor für Management an der School of Business Administration der Meiji Universität in Tokio, Japan. Seine Forschungsinteressen gelten Zulieferbeziehungen, Innovation und globalen Strategien mit einem besonderen Fokus auf organisationalen Voraussetzungen kontinuierlicher Verbesserung (Kaizen).

    , Takefumi Mokudai

    Prof. Dr. Takefumi Mokudai ist Professor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Kyushu Universität in Japan. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen auf Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Lean Production, strategischer Flexibilität in F&E-Investitionen und Starts an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Industrie.

    and Martin Schröder

    Dr. Martin Schröder ist Associate Professor am College of Policy Science an der Ritsumeikan Universität in Osaka, Japan. Seine Forschung beschäftigt sich hauptsächlich mit wirtschaftlicher Integration in der ASEAN-Region, insbesondere Liefernetzwerke der Automobilindustrie, sowie der strategischen Nutzung von Schwellenländern durch Automobilzulieferer sowie Digitalisierung der Automobilindustrie.

Published/Copyright: December 10, 2024

Abstract

In der japanischen Automobilindustrie hat sich die digitale Transformation in den letzten Jahren beschleunigt. Anhand von Use Cases zeigt der Beitrag, dass IoT und KI an Bedeutung gewonnen haben, Smart-Factory-Konzepte inzwischen verbreitet sind und viele Unternehmen DX-Abteilungen eingerichtet haben. Zugrunde liegt der Dynamik ein an japanischen Management-Prinzipien anknüpfender Pfad der digitalen Transformation, der sich in mehreren Punkten von der in Deutschland verbreiteten expertengetriebenen Digitalisierung unterscheidet.

Abstract

The digital transformation in the Japanese automotive industry has accelerated in recent years. Based on case studies, the article shows that IoT and AI have gained in importance, smart factory concepts are now widespread and many companies have set up DX departments. The dynamics are based on a path of digital transformation closely linked to Japanese management principles, which differs in several respects from the expertdriven digitalization widespread in Germany.

Einleitung

Die digitale Transformation ist in aller Munde. Die meisten Prognosen gehen davon aus, dass sich die industrielle Produktion durch moderne Sensorik, IoT-Systeme, Machine Learning und vor allem generative KI in den nächsten Jahren tiefgreifend wandeln wird [1, 2]. In den cyber-physischen Systemen der Zukunft kommunizieren Maschinen in Echtzeit mit Werkstücken, Kunden und Lieferketten, um, unterstützt von KI, autonom agile Anpassungen an Nachfrage- und Umweltänderungen zu realisieren [3]. Verbunden mit dem technologischen Wandel ist auch eine Transformation von Industriearbeit [4, 5]. Traditionelle Qualifikationen – und mit ihnen wahrscheinlich ganze Berufsbilder – werden an Bedeutung verlieren [6], während in den Organisationen zugleich neue digitale Kompetenzen entwickelt werden müssen.

Die japanische Automobilindustrie als Untersuchungsgegenstand

Der Beitrag beleuchtet, wie japanische Automobilunternehmen die digitale Transformation angehen. Für deutsche Praktiker:innen und die Digitalisierungsforschung ist die japanische Automobilindustrie aus mehreren Gründen interessant. Erstens richtet die internationale Produktionsund Arbeitsforschung ihren Blick seit den 1990er-Jahren vermehrt nach Japan: Japanische Managementprinzipien und das Toyota-Produktionssystem gelten weltweit als Leitbilder der industriellen Produktion [7, 8]. Zweitens steht nicht nur die deutsche Automobilindustrie unter Druck, auch japanische Unternehmen stehen vor Herausforderungen. Lange Zeit galten japanische Hersteller und Zulieferer als Technologieführer, vor allem im Bereich der Hybridantriebe waren die Unternehmen Vorreiter. Toyota ist zwar, gemessen an den Absatzzahlen, immer noch der weltweit größte Automobilhersteller. Vor allem chinesische Anbieter haben beim Absatz von batterieelektrischen Fahrzeugen jedoch aktuell die Nase vorn. Aufgrund dieser Situation wird auch in japanischen Unternehmen intensiv über eine Weiterentwicklung der traditionellen Managementsysteme durch digitale Technologien diskutiert. An diesem Punkt setzt der Beitrag an. Folgende Fragen sollen beantwortet werden: Wie gehen japanische Unternehmen die digitale Transformation an? Welche Technologien werden mit welchen Zielen in der Produktion eingesetzt, wie werden digitale Systeme eingeführt und welche Wechselwirkungen bestehen zwischen der digitalen Transformation und den japanischen Lean-Prinzipien?

Die hier präsentierten Befunde gehen auf ein Forschungsprojekt zur Digitalisierung in der deutschen und der japanischen Automobilindustrie zurück. Im Zentrum steht die neue Generation digitaler Technologien, die in Deutschland unter dem Label „Industrie 4.0“ diskutiert werden [9], in Japan aber eher unter dem Begriff „Internet of Things“ (IoT) firmieren. Gemeint sind vernetzte und autonom kommunizierende Maschinen, digitale Zwillinge, cyber-physische Systeme (CPS), Maschine Learning (ML) und Formen künstlicher Intelligenz (KI) [3, 10]. Angeleitet wird das Projekt von einer in der sozialwissenschaftlichen Digitalisierungsforschung verbreiteten sozio-technischen Perspektive, die von der Multifunktionalität von Technik ausgeht: Digitale Technologien können auf unterschiedliche Art und Weise eingesetzt werden [2, 5]. Gemeinsam gehen die Autoren Unterschieden in der Nutzung digitaler Technologien in japanischen und deutschen Automobilunternehmen nach. Empirisch basiert der Beitrag primär auf acht Fallstudien, die von den Autoren im Rahmen einer gemeinsamen Forschungsreise in Japan im März 2024 durchgeführt wurden. Neben Fabrikführungen wurden in den Fallunternehmen Interviews mit Managementvertretern, Führungskräften, Digitalisierungsexperten und Interessenvertretungen geführt. Um die Dynamik der digitalen Transformation in japanischen Automobilunternehmen nachzeichnen zu können, werden zudem sieben Fallstudien aus dem Jahr 2019 einbezogen. Drei dieser Unternehmen wurden 2024 erneut besucht, zum Teil mit identischen Interviewpartnern.

Rückblick: Gemba-Digitalisierung

Während der ersten gemeinsamen Forschung in der japanischen Automobilindustrie im Herbst 2019 konnten wir einen Digitalisierungspfad beobachten, der sich in mehreren Punkten von dem in Deutschland verbreiteten expertengetriebenen Modus unterschied und den wir in einem Beitrag in der ZWF als „Gemba-Digitalisierung“ bezeichneten [11, 12]. „Gemba“ ist japanisch und bedeutet „der eigentliche Ort“. In der stark vom TPS geprägten japanischen Managementlehre steht Gemba für den Ort, an dem die Wertschöpfung erbracht wird – in der industriellen Produktion ist das primär der Shopfloor [13]. In seiner ursprünglichen Bedeutung beinhaltet Gemba jedoch mehr als einen Fokus auf Wertschöpfung. Inbegriffen ist auch der Respekt für das praktische Wissen – in der Soziologie häufig als Erfahrungswissen bezeichnet [14] – derjenigen, die die betrachteten Prozesse ausführen. Den in Japan verbreiteten Gemba-Ansatz ernst zu nehmen, bedeutet deswegen auch, akademischem Reflexionswissen nicht per se einen höheren Wert als dem Erfahrungswissen von Produktionsarbeitenden beizumessen.

Während die Digitalisierung in deutschen Industrieunternehmen Ende der 2010er-Jahre häufig von Expertenstäben vorangetrieben wurde und vielfach die Wahrnehmung vorherrschte, dass die Einführung neuer Technologien in eine zentral formulierte Digitalisierungsstrategie eingebettet sein sollte, dominierten in den meisten der von uns besuchten japanischen Unternehmen kleinräumige Digitalisierungsexperimente: Mit vergleichsweise geringen Investitionen und in der Regel unter Beteiligung von Produktionsarbeitenden wurden mit einfachen IoT-Systemen konkrete Shopfloor-Probleme adressiert. Drei Elemente waren kennzeichnend für den Pfad der Gemba-Digitalisierung: die ausgeprägte Shopfloor-Orientierung der Digitalisierungsaktivitäten, ihr pragmatischer Low-Cost-Ansatz und der Respekt für das Erfahrungswissen der Produktionsarbeitenden. Hinzu kam, dass die Digitalisierungsaktivitäten nicht nur implizit der in den Unternehmen verankerten Gemba-Kultur folgten, sondern diese sogar explizit – das zeigte sich in vielen Interviews – stützen sollten. Im Vergleich mit der – in den Worten eines japanischen Interviewpartners – in Deutschland verbreiteten „big digitalization“ brachten die in der japanischen Managementphilosophie verankerten Shopfloor-Experimente (zumindest, wenn diese erfolgreich waren) schnelle Erfolge bei vergleichsweise geringen Investitionen und erhöhten zugleich die Akzeptanz neuer digitaler Technologien auf dem Shopfloor.

Neben den Stärken wurden in der ersten Erhebungsrunde 2019 auch Herausforderungen des Gemba-Pfades deutlich: Die meisten Unternehmen waren sich bewusst, dass die im Rahmen von Shopfloor-Experimenten pragmatisch entwickelten digitalen Lösungen perspektivisch in einheitliche Systeme der IoT-Nutzung (Datenstandards, Hardware, Software) überführt werden müssen, um die wirtschaftlichen Potenziale der Digitalisierung umfassend heben zu können.

Drei Use Cases der digitalen Transformation

Im Folgenden werden drei aktuelle Use Cases aus der japanischen Automobilindustrie vorgestellt. Dabei zeigt sich, dass die digitale Transformation in den Fallunternehmen in den letzten Jahren deutlich an Fahrt gewonnen hat: Aus den kleinräumigen Shopfloor-Experimenten sind digitale Systeme geworden, die potenziell die gesamte Organisation durchdringen und dabei Produktions- und Arbeitsprozesse verändern. Zugleich zeigen die Use Cases auch, dass die Beschleunigung der digitalen Transformation nicht zu einem Bruch mit dem Gemba-Pfad geführt hat. Die Orientierung an konkreten Shopfloor-Herausforderungen, der pragmatische Low-Cost-Ansatz und der Respekt für das Erfahrungswissen der Produktionsarbeitenden prägen in den Unternehmen bis heute die digitale Transformation (Bild 1).

Bild 1 
Digitale Transformastion in der japanischen Automobilindustrie
Bild 1

Digitale Transformastion in der japanischen Automobilindustrie

Die ersten beiden Use Cases fokussieren „Smart Factory“-Konzepte, die beide – bei allen Unterschieden im Technikeinsatz und den konkreten Zielstellungen – direkt aus erfolgreichen Shopfloor-Experimenten hervorgegangen sind. Der dritte Use Case nimmt eine DX-Abteilung in den Blick wie sie in den letzten Jahren von mehreren Fallunternehmen aufgebaut wurde. Ihr Ziel ist die kulturelle Verankerung der Nutzung von Echtzeitdaten, KI-basierten Tools und anderen digitalen Applikationen auf dem Shopfloor.

Use Case 1: „Small Smart Factory“ für den dateninitiierten Kaizen

Das erste Fallunternehmen ist ein kleiner japanischer Zulieferer mit gut 400 Beschäftigten, der für verschiedene Endhersteller Motor-, Getriebe- und Karosserieteile produziert. Bei unserem ersten Besuch war das Unternehmen ein leuchtendes Beispiel für den Pfad der Gemba-Digitalisierung. Im Rahmen eines Kaizen zur Steigerung der Produktivität hatten Shopfloor-Mitarbeiter ein erstes kostengünstiges IoT-System entwickelt. Um Echtzeitdaten über Zustände von Maschinen zu erzeugen, die nicht über eine PLC-Schnittstelle verfügten, wurden an den Andon-Lampen der Maschinen optische Sensoren angebracht. Aus dieser „kleinen“ Digitalisierungslösung entwickelte sich bis 2024 ein Management-Dashboard, das das Rückgrat der vom CEO propagierten Vision einer „Small Smart Factory“ bildet, deren primäres Ziel die Beschleunigung und Intensivierung des Kaizen ist. Dazu wurde die Dateninfrastruktur sukzessive ausgebaut: Inzwischen sind 90 Prozent des Maschinenparks an das IoT-System angeschlossen, parallel wurde das Dashboard um zusätzliche Echtzeitdaten erweitert. Zwar ist die Erweiterung der Dateninfrastruktur mit höheren Investitionen verbunden als die ersten IoT-Experimente. Das Unternehmen hielt jedoch an dem pragmatischen Low-Cost-Ansatz fest, keine neuen Anlagen anzuschaffen, sondern ältere Maschinen mit vergleichsweise kostengünstiger Sensorik in das IoT-System einzubinden.

Die Weiterentwicklung des Dashboards hat die Rolle von Echtzeitdaten im Kaizen gestärkt. Durch das auf die gesamte Fabrik ausgeweitete und um neue Datenarten erweiterte IoT-System werden die Beschäftigten von der Datensammlung entlastet und können sich auf die Problemanalyse und -lösung konzentrieren. Neben einem datenunterstützten Kaizen sehen wir zudem erste Beispiele für einen dateninitiierten Kaizen. In das Dashboard wurden nämlich mehrere Visualisierungstools und ein auf generativer KI basierendes Reporting integriert. Beide Technologien sollen auf bislang unbekannte Verschwendungen und Probleme aufmerksam machen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist ein Kaizen, der zur Verringerung des Energieverbrauchs in der Produktion führte. Ausgangspunkt des Verbesserungsprozesses waren Visualisierungen des Dashboards, die zeigten, dass fast zwei Drittel des Energieverbrauchs auf Warte- und Stillstandzeiten von Maschinen entfiel, aus einer Lean-Perspektive also Energie-Muda darstellten. Auch wenn das Problem von dem digitalen System identifiziert wurde, in der Lösungsfindung spielte das Erfahrungswissen der Produktionsarbeitenden die zentrale Rolle. Im ersten Schritt identifizierten die Mitarbeiter jene Maschinen, die sich problemlos während der Stillstandzeiten abschalten lassen. Nach und nach wurden zudem kostengünstige technische Lösungen entwickelt, mit denen sich auch der Energieverbrauch von Maschinen mit längeren Aufwärm- oder Hochlaufzeiten reduzieren ließ. Wirtschaftlich und ökologisch war dieser dateninitiierte Verbesserungsprozess ein großer Erfolg. Ohne größere Investitionen konnte der Energieverbrauch um 26 Prozent reduziert werden. Durch die „Small Smart Factory“ – darauf weist der CEO hin – haben sich sowohl die Beteiligung der Mitarbeitenden am Kaizen als auch die jährlichen Einsparungen, die durch Verbesserungsaktivitäten erreicht werden, deutlich erhöht.

Use Case 2: Digitaler Zwilling zur Komplexitätsbewältigung

Der zweite Use Case umfasst das digitale Vorzeigewerk eines international operierenden japanischen Baumaschinenherstellers. An zwei Linien werden Baumaschinen nach Kundenwünschen hergestellt. Wie im ersten Fall begann auch beim Baumaschinenhersteller die Digitalisierung mit kleinräumigen Shopfloor-Experimenten. Zentrales Ziel der relativ weit umgesetzten „Smart Factory“ ist die Bewältigung der Komplexität, die aus der kundenorientierten Einzelfertigung resultiert. In der Vergangenheit erzeugten Qualitätsprobleme hohe Kosten – dies umfasst Fertigungs- und Montagefehler, die noch in der Fabrik festgestellt wurden, aufgrund der Größe der Maschinen jedoch nur aufwändig zu korrigieren waren, wie auch solche, die erst beim Kunden im Einsatz auf Baustellen sichtbar wurden. Kern der Smart Factory ist ein digitaler Zwilling, in dem die Echtzeitdaten von Maschinen und Materialflüssen mit Daten über die Arbeitsprozesse zusammenlaufen. In den (teil)-automatisierten Bereichen der Press- und Schweißanlagen sowie der Lackiererei werden die Maschinendaten ausgelesen, außerdem finden an mehreren Stellen des Fertigungsprozesses automatisierte optische Qualitätskontrollen statt. Die Logistik erfolgt über AGV (automated guided vehicle), deren Daten ebenfalls in das digitale Abbild der Fabrik einfließen. In der Montage, die aufgrund der kundenorientierten Einzelfertigung nur wenig automatisiert ist, hat der digitale Zwilling einen Standardisierungsschub ausgelöst. Über Tabletts erhalten die Mitarbeiter Informationen über den nächsten Arbeitsschritt (inklusive der jeweils zu montierenden Teile und der zu verwendenden Werkzeuge), zudem muss jeder Arbeitsschritt quittiert werden. So ist sichergestellt, dass alle Arbeitsschritte gemäß den Vorgaben und in der vorgesehenen Reihenfolge ausgeführt werden. Die Daten des Digitalen Zwillings dienen der Qualitätskontrolle, stehen für Kaizen-Aktivitäten zur Verfügung und werden auf dem Shopfloor von den Hancho (Teamleader) für das tägliche Line Balancing genutzt. Interessant ist, dass eine Automatisierung der Feinplanung durch ein Manufacturing Execution System (MES) nicht vorgesehen ist. Die Daten des Digitalen Zwillings sollen den Menschen beim Line Balancing unterstützen.

Use Case 3: DX-Abteilung für die Transformation des „Mindsets“

Im Mittelpunkt des dritten Use Cases steht die DX-Abteilung eines japanischen Automobilherstellers. Mit etwas über 200 Mitarbeitern ist die Abteilung vergleichsweise klein. Rund 100 Beschäftigte arbeiten dort permanent, der Rest umfasst Mitarbeiter, die temporär in die DX-Abteilung entsendet werden und dann als Multiplikatoren wieder zurück in ihre Heimatabteilungen gehen. Für diesen Qualifizierungsprozess wurden insgesamt 22 verschiedene Rollen definiert, die auf die verschiedenen Bereiche der Organisation zugeschnitten sind. Als Multiplikatoren wirken die für die digitale Transformation geschulten Mitarbeiter, indem sie im Arbeitsalltag Echtzeitdaten und neue digitale Tools zum Beispiel auf der Basis von generativer KI oder ML nutzen, dabei ihre Kollegen von deren Nützlichkeit überzeugen und auf diese Weise die digitale Transformation in der gesamten Organisation verankern. Für den Bereich der industriellen Produktion bedeutet dies: Die in der DX-Abteilung qualifizierten Mitarbeiter übersetzen im Arbeitsalltag Shopfloor-Probleme in digitale Lösungswege (Welche Daten könnten mit welchen Tools Antworten liefern?) und setzen sie zugleich in konkrete technische Lösungen um, mit denen andere Mitarbeiter auf dem Shopfloor Fehler analysieren oder Verbesserungsvorschläge evaluieren können. Zugrunde liegt diesem Ansatz die – in nahezu allen Fallunternehmen verbreitete – Überzeugung, dass der Schlüssel für eine erfolgreiche digitale Transformation im „Mindset“ der Mitarbeiter liegt. Die Nutzung von Echtzeitdaten und digitalen Tools soll auf dem Shopfloor und in allen anderen Bereichen des Unternehmens zur Normalität werden. Falls dieser Ansatz erfolgreich ist, wird sich die digitale Transformation in den Fallunternehmen in den kommenden Jahren spürbar beschleunigen.

Fazit

Die Use Cases zeigen, dass die digitale Transformation in japanischen Automobilunternehmen in den letzten Jahren deutlich an Fahrt gewonnen hat. Aus den kleinräumigen Shopfloor-Experimenten mit IoT-Systemen sind durch räumliche (Integration weiterer Maschinen und Produktionsbereiche), inhaltliche (neuer Datenarten) und technologische Erweiterungen (neuer Sensorik und Analysetools) sukzessive umfassende digitale Systeme geworden, die potenziell die gesamte Organisation durchdringen und Produktions- und Arbeitsprozesse verändern. Trotz der beschleunigten Digitalisierung ist es in den Fallunternehmen bisher nicht zu einem Bruch mit dem in japanischen Managementprinzipien verankerten Gemba-Pfad gekommen. Selbst der dateninitiierte Kaizen (Use Case 1) setzt in der Lösungsfindung weiterhin auf das Erfahrungswissen der Produktionsarbeitenden. Der digitale Zwilling (Use Case 2) wird genutzt, um die Qualität in der kundenorientierten Einzelfertigung zu erhöhen, ohne die zentrale Rolle des Menschen zum Beispiel im Line Balancing zu untergraben. Und die DX-Abteilung (Use Case 3) nimmt die Transformation zumindest teilweise aus den Händen der Experten und verankert die Nutzung von Echtzeitdaten und digitalen Tools im Arbeitsalltag auf dem Shopfloor.

Das Festhalten am Gemba-Pfad ist aus zwei Gründen bemerkenswert: Erstens setzt der Rollout der IoT-Systeme zwangsläufig eine gewisse Stärkung der zentralen IT-Einheiten voraus. Einheitliche Datenstandards müssen festgelegt und in der gesamten Fabrik (oder dem gesamten Unternehmen) durchgesetzt werden, zugleich muss eine durchgängige Dateninfrastruktur aufgebaut werden. Trotz der aktiveren Rolle der zentralen IT spielt der Shopfloor in den Unternehmen weiterhin eine zentrale Rolle in den Digitalisierungsaktivitäten. Zweitens sind Technologien wie generative KI, ML oder der Digitale Zwilling aufgrund ihrer technischen Eigenschaften durchaus kompatibel mit einer expertengetriebenen Digitalisierung. In vielen Unternehmen nicht nur in Deutschland werden diese Technologien von Ingenieuren, Technikern und Planern ohne größere Beteiligung des Shopfloors gestaltet und eingeführt. Die Use Cases zeigen, dass sich – ganz im Sinne der in diesem Beitrag verfolgten sozio-technischen Perspektive – auch avancierte digitale Technologien mit einer Shopfloor-Orientierung, einem pragmatischen Low-Cost-Ansatz und mit Respekt für das Erfahrungswissen der Produktionsarbeitenden erfolgreich einführen lassen.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Auch in Japan setzt sich der Gemba-Pfad der digitalen Transformation nicht automatisch um. In unserem Sample finden sich auch zwei Fallunternehmen, die eher einen expertengetriebenen Digitalisierungsansatz verfolgen. Das Management des ersten Unternehmens orientiert sich traditionell stark an amerikanischen Ansätzen; in dem zweiten Fall erodierte die etablierte Gemba-Perspektive nach Übernahme durch ein ausländisches Unternehmen. Letztlich geht der Gemba-Pfad der digitalen Transformation auf Managemententscheidungen zurück. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass auch nicht-japanische Unternehmen von den hier dargestellten Beispielen lernen können. Zum anderen treiben auch nicht alle japanischen Automobilunternehmen die digitale Transformation mit Nachdruck voran. Auch in Japan gibt es Unternehmen, die der Digitalisierung deutlich skeptischer begegnen. Unser Sample dürfte sich aus Digitalisierungsvorreitern zusammensetzen. Das heißt aber nicht, dass wir nur Greenfield-Fabriken oder neue Produktionsanlagen besichtigt haben. Im Gegenteil, der Gemba-Pfad hat ausgesprochene Stärken in der digitalen Transformation bestehender Fabriken mit alten Maschinenbeständen.

Abschließend soll noch auf eine Herausforderung hingewiesen werden, die in mehreren Unternehmen thematisiert wurde. Dass die digitale Transformation aktuell den Gemba-Pfad stützt, ist sicherlich auch darin begründet, dass die neuen Tools auf Mitarbeiter treffen, die in der Gemba-Kultur sozialisiert wurden. Die Unternehmen sind sich jedoch bewusst, dass die eingesetzten avancierten digitalen Technologien langfristig die Beteiligung der Produktionsarbeitenden an den Kaizen-Aktivitäten untergraben könnten. Wie sich zum Beispiel der dateninitiierte Kaizen langfristig auf Mitarbeitergenerationen auswirken wird, die nicht schon vor der Technikeinführung im Kaizen-Denken sozialisiert wurden, lässt sich heute noch nicht verlässlich prognostizieren. Deswegen wird genau beobachtet, wie sich die Nutzung generativer KI, ML oder anderen neuer digitaler Tools auf die Kompetenzentwicklung neuer Shopfloor-Mitarbeiter auswirkt. Die Fallunternehmen sehen in der Gemba-Kultur eine Produktivitäts-, Flexibilitäts- und Innovationsressource, die auch durch die digitale Transformation nicht untergraben werden soll.


Hinweis

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen von den Mitgliedern des ZWF-Advisory-Board wissenschaftlich begutachteten Fachaufsatz (Peer Review).



Tel.: +49 (0) 541 969-4615

Funding statement: Teile der Forschung werden von DFG im Rahmen des SPP 2267 „Digitalisierung der Arbeitswelten“ gefördert (Projektnummer 442459396).

About the authors

Prof. Dr. Hajo Holst

Prof. Dr. Hajo Holst ist Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Osnabrück. Seine Forschungsinteressen gelten der Digitalisierung und der Dekarbonisierung der Automobilindustrie, dem Wandel von Industriearbeit und den Langfristfolgen der Corona-Pandemie in der Arbeitswelt. Zudem beschäftigt er sich seit Jahren mit der Implementierung von Lean Production in Deutschland.

Prof. Dr. Katsuki Aoki

Prof. Dr. Katsuki Aoki ist Professor für Management an der School of Business Administration der Meiji Universität in Tokio, Japan. Seine Forschungsinteressen gelten Zulieferbeziehungen, Innovation und globalen Strategien mit einem besonderen Fokus auf organisationalen Voraussetzungen kontinuierlicher Verbesserung (Kaizen).

Prof. Dr. Takefumi Mokudai

Prof. Dr. Takefumi Mokudai ist Professor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Kyushu Universität in Japan. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen auf Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und Lean Production, strategischer Flexibilität in F&E-Investitionen und Starts an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Industrie.

Dr. Phil. Martin Schröder

Dr. Martin Schröder ist Associate Professor am College of Policy Science an der Ritsumeikan Universität in Osaka, Japan. Seine Forschung beschäftigt sich hauptsächlich mit wirtschaftlicher Integration in der ASEAN-Region, insbesondere Liefernetzwerke der Automobilindustrie, sowie der strategischen Nutzung von Schwellenländern durch Automobilzulieferer sowie Digitalisierung der Automobilindustrie.

Literatur

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Published Online: 2024-12-10
Published in Print: 2024-12-20

© 2024 Hajo Holst, Katsuki Aoki, Takefumi Mokudai und Martin Schröder, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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Downloaded on 8.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zwf-2024-1172/html
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