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Eine Referenzarchitektur für das Industrial Metaverse

  • Marco Ullrich

    Marco Ullrich, M.Eng., geb. 1994, studierte Automatisierung und Robotik und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Produktion und Informatik in Sonthofen der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten. Neben Automatisierungsthemen sind seine Forschungsschwerpunkte der Einsatz Digitaler Zwillinge in der produzierenden Industrie sowie das Industrial Metaverse. Er arbeitete zuvor als Servicetechniker bei der Firma WITTENSTEIN SE sowie als Entwicklungskonstrukteur bei der Firma MULTIVAC GROUP.

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    , Jonas Heller

    Jonas Heller, M.Eng., geb. 1989, studierte Automatisierung und Robotik und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Produktion und Informatik in Sonthofen der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten. Neben Automatisierungsthemen sind seine Forschungsschwerpunkte die Entwicklung und der Einsatz Digitaler Zwillinge in der produzierenden Industrie. Er arbeitete zuvor als Konstrukteur und Koordinator im Sondermaschinenbau bei der Firma Robert Bosch GmbH sowie als Konstrukteur bei der Firma Highvolt Prüftechnik Dresden GmbH.

    , Jonas Knüpper

    Jonas Knüpper, M.Sc., geb. 1993, studierte nach der Ausbildung zum Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung Ingenieurinformatik an der Technischen Universität Ilmenau. Nach verschiedenen Anstellungen als Softwareentwickler, unter anderem für eingebettete Systeme ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Produktion und Informatik angestellt, wo er seinen Forschungsschwerpunkt auf feldbusnahe Simulationen und eingebette Software gelegt hat.

    and Bernd Lüdemann-Ravit

    Prof. Dr.-Ing. Bernd Lüdemann-Ravit, geb. 1970, Diplom in Informatik, Promotion in Elektrotechnik/Robotik, Er arbeitete u.a. als IT-Systemgestalter, Projektleiter Digitale Produktionsplanung und Manager IT für die Digitale Fabrik bei Mercedes-Benz AG in Sindelfingen und Stuttgart, Heute ist er Leiter des Instituts für Produktion und Informatik und Leiter des StartUp Center der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Kempten.

Published/Copyright: March 13, 2024

Abstract

Das Industrial Metaverse scheint der nächste große Game Changer in der modernen Industrie zu werden und wird diese signifikant verändern. Die Vision ist nicht nur die Simulation einer einzelnen Anlage, wie sie Unternehmen heute beispielsweise bei der virtuellen Inbetriebnahme einsetzen, sondern ganzheitlicher Anlagenverbunde aus heterogenen Maschinen samt Fabrikperipherie und Infrastruktur – einer Digitalen Fabrik. Um das Industrial Metaverse zum Leben zu erwecken, wird eine Vielzahl zusätzlicher Technologien und Innovationen benötigt, als lediglich Digitale Zwillinge. Dieser Beitrag schlägt eine ganzheitliche Referenzarchitektur eines Industrial Metaverse vor und fokussiert auf dessen Nutzen.

Abstract

The Industrial Metaverse looks to become the next big game changer in modern industry and will change it significantly. In addition to the simulation of a single plant, as used by companies today in virtual commissioning, for example, the vision is the simulation of holistic plant networks consisting of heterogeneous machines including factory infrastructure and peripherals – a digital factory. To bring the industrial metaverse to life, a large number of additional technologies and innovations are needed, not just digital twins. This article proposes a holistic reference architecture for an industrial metaverse and focuses on its benefits.

Einführung

Das Industrial Metaverse scheint, der nächste große Game Changer in der modernen Industrie zu werden. Es wird die Industrie signifikant verändern, schreibt der Technologieexperte Matthew Ball. [2]

Um zu bewerten, ob das Industrial Metaverse der nächste Gamechanger sein wird, muss der Begriff zunächst definiert werden. Aktuell kristallisieren sich drei Ausprägungen eines Metaverse heraus: Das Consumer Metaverse (einer Zusammenarbeit über Spiele und Online-Plattformen), das Commercial Metaverse (Gemeinsame, immersive Erlebnisse mit 3D-Inhalten und Livezeitdaten) und das Industrial Metaverse (Industrielle Prozesse simulieren, vorhersagen und automatisieren). [3]

Die Vision eines Industrial Metaverse ist neben der Simulation einer einzelnen Anlage, wie sie Unternehmen heute beispielsweise bei der virtuellen Inbetriebnahme einsetzen, die Simulation ganzheitlicher Anlagenverbunde aus heterogenen Maschinen samt Fabrikperipherie und Infrastruktur – einer Digitalen Fabrik. [13] Anderst ausgedrückt: Eine Integration heterogener Digitaler Zwillinge unterschiedlicher Simulationssoftwarehersteller in einer virtuellen 3D-Plattform. Die 3D-Geometrien von verschiedenen Anlagen, Maschinen, Hallen und der gesamten Umgebung können über verschiedene Services, wie einer Simulation Engine, AI-Engine und weiteren Applikationen genutzt werden. [14]

Weitere Anforderungen an ein Indutrial Metaverse sind die Multiuser-Fähigkeit (nach Zheng et al. [14] „Man-in-the-Loop“) sowie die Möglichkeit, 3D-Geometrien in einem standardisierten Datenformat zu bearbeiten. Eine allgemeingültige Definition fehlt heute noch und ist vielleicht auch gar nicht nötig, denn unserer Meinung nach steht der Nutzen einer Anwendung im Fokus. Das Konglomarat an angewandten Methoden kann als Industrial Metaverse definiert werden. Dies sollte aber nicht an erster Stelle stehen. Die essentielle Basis besteht aus heterogenen Digitalen Zwillingen, die nach Definition von Michael Grieves und John Vickers [6] jeweils ein reales Gegenstück besitzen. Je nach dem ob bereits ein reales Gegenstück besteht, oder ob die Fabrik, respektive die Anlage sich noch in einem Planungszustand befindet, wird auch von Digitalen Zwillings-Prototypen gesprochen. [6]

Dieser Beitrag schlägt eine ganzheitliche Referenzarchitektur eines Industrial Metaverse vor und fokussiert auf dessen Nutzen. Das Herzstück des Industrial Metaverse ist mehr als die in der virtuellen Inbetriebnahme entstandenen Digitale Zwillinge. Um das Industrial Metaverse zum Leben zu erwecken, werden eine Vielzahl zusätzlicher Technologien und Innovationen benötigt, welche die vorgeschlagene Referenzarchitektur bündelt. Diese Architektur wird durch drei Säulen gebildet (Bild 1): Die erste Säule beinhaltet den Transfer der Digitalen Zwillinge aus deren Autorensystemen in eine 3D-Integrationsplattform sowie die darin stattfindende Interaktionen zwischen den Digitalen Zwillingen. Die Zweite Säule umfasst die IT-Infrastruktur, das Datenmanagement- und die Security-Mechanismen. Der wesentliche Nutzen des Gesamtsystems für die Produktion bildet Säule 3 mit dem synchronen Betrieb der Digitalen Zwilinge mit der realen Produktionsanlage.

Bild 1 Referenzarchitektur eines Industrial Metaverse
Bild 1

Referenzarchitektur eines Industrial Metaverse

Anwendungsfälle

Ein Industrial Metaverse generiert in den Lebenszyklusphasen unterschiedliche Mehrwerte. Die einzelnen Phasen sind nicht hart getrennt, sondern fließen ineinander über: Im Fabrikentstehungsprozess können aus Sicht eines Original Equipment Manufacturer (OEM), wie z. B. eines Automobilherstellers, einzelne Lieferanten integriert werden. Digitale Modelle der entstehenden Fabrikbestandteile, wie z. B. einzelne Maschinen, Anlagen, Logistikperipherien und weiteren Ressourcen, können simultan in einer virtuellen Fabrik aufgebaut werden. Diese Modelle enthalten bereits detaillierte Informationen aus dem Anforderungsmanagement des OEM und können somit direkt interdisziplinär validiert werden. In der Inbetriebnahmephase können der Anlagenverbund samt Peripherie sowie die überlagerten Systeme, wie z. B. Produktionssteuerungen oder das Manufacturing Execution System (MES), virtuell in Betrieb genommen werden. Damit kann ein OEM zum Beispiel auf Störungen, die in der Simulation erkannt wurden, noch mit Maßnahmen in der realen Fabrik reagieren. In der betriebssynchronen Phase, d. h. im laufenden Betrieb des Anlagenverbundes, kann durch eine Kopplung der Anlage und Simulation das Industrial Metaverse weiterhin Mehrwerte generieren, auch unter Nutzung von Künstlicher Intelligenz, um die Produktion beispielsweise hinsichtlich Steuerstrategie, Energiebedarf, Zeitverhalten, Intralogistik zu optimieren. Außerdem lassen sich Fehlerzustände im Digitalen Zwilling aufgezeichnen und dienen somit nachträglich zur effizienten Fehlersuche. Das betriebssynchrone Industrial Metaverse lässt die Vision des „Predictive Manufacturing“, eine vorrausschauende Produktion, näher rücken. Predictive Manufacturing nutzt Datenanalyse und Prognosen, um zukünftige Ereignisse in der Fertigung vorherzusagen und so Betriebsprozesse zu optimieren und Ausfälle zu minimieren.

3D-Integrationsplattform und Säule 1 – 3D-Datentransfer

Eine 3D-Integrationsplattform ist im ein virtueller Raum, in dem verschiedene heterogene Digitale Zwillinge in einem standardisierten Geometriedatenformat integriert werden. Diese werden dort unter Einsatz eines geeigneten Renderers dargestellt. Die Ausführung erfolgt mittels modellbasierten, virtuellen oder Hardware-Steuerungen unter Einsatz einer kinematischen Modellierung und der Simulation der Starrkörperphysik. Eine zentrale Eigenschaft des Industrial Metaverse ist das kollaborative Arbeiten an den Digitalen Zwillingen. Eine Herausforderung ist es, Digitale Zwillinge aus ihren Autorensysteme heraus in ein standartisiertes Datenformat zu konvertieren und in die 3D-Integrationsplattform zu integrieren und deren Abläufe zu steuern. Der 3D-Integrationsplattform-Anbieter NVIDIA Omniverse bezeichnet die Instanz zur Konvertierung und Anbindung der Autorensysteme als Konnektor. Die aktuelle Forschung untersucht verschiedene Architekturoptionen zur Integration Digitaler Zwillinge in ein Industrial Metaverse [9]. Dabei fokussiert dieser Beitrag für die vorgestellte Refernzarchitektur auf drei mögliche Ansätze zur Realisierung (Bild 2): Zum einen kann aus einer Simulationssoftware heraus der Digitale Zwilling statisch in das standartisierte Geometridatenformat umgewandelt und in die 3D-Integrationsplattform importiert werden. Es werden dabei keine Bewegungen aus dem Autorensystem synchronisiert, sprich es handelt sich um ein statisches Modell. Zum anderen werden bei einer Live-Synchronisierung mittels eines unidirektionalen Konnektors Geometrieänderungen, also Bewegungen in dem Autorensystem, in die 3D-Integrationsplattform synchronisiert. Ändert sich etwas im Autorensystem, ändert sich auch der Digitale Zwilling in der 3D-Integrationsplattform. Wird der Digitale Zwilling in der Plattform manipuliert, wird die Änderung jedoch nicht in das Autorensystem zurückgespiegelt. Bei einer Live-Synchronisierung mittels eines bidirektionalen Konnektors werden Änderungen im Autorensystem sowohl als auch im Digitalen Zwilling in der 3D-Integrationsplattform jeweils in das andere System synchronisiert. Als letzte und dritte Möglichkeit können in den Autorensystemen Simulationsabläufe aufgezeichnet und in das standartisierte Datenformat umgewandelt werden. Die aufgezeichneten Abläufe können daraufhin in der 3D-Integrationsplattform eventbasiert abgespielt werden. Das heißt: Viele Aufzeichnungen verschiedener Simulationen können mittels Zeitstempel interaktiv orchestriert werden. Ein weiterer signifikanter Unterschied der sogenannten Recorded Files ist es, dass die Simulationen in der 3D-Integrationsplattform unabhängig von den Simulationssoftware abgespielt werden können. Das heißt: Im Gegensatz zu den anderen Konnektoren, denn dessen Autorensysteme müssen alle bei einer Live-Synchronisierung aktiv laufen.

Bild 2 Unterschiedliche Möglichkeiten der Intergration von 3D-Geometriedaten von Autorensystemen in die 3D-Integrationsplattform
Bild 2

Unterschiedliche Möglichkeiten der Intergration von 3D-Geometriedaten von Autorensystemen in die 3D-Integrationsplattform

Säule 2 – IT-Infrastruktur einer Referenzarchitektur

Der Aufbau einer für das Industrial Metaverse geeigneten IT Infrastruktur richtet sich maßgeblich nach den Anforderungen, die an die umzusetzende Architektur gestellt werden. Neben allgemeinen Anforderungen an IT-Architekturen wie Security und Datensicherheit, Interoperabilität und Standardisierung, Effizienz im Ressourcenmanagement sowie Modularität und Systemautonomie berücksichtigen IT-Architekturen im Industrie-4.0-Umfeld erweiterte Faktoren des industriellen Anwendungsfalls. Dabei stehen die echtzeitfähige Erfassung von Prozessdaten sowie deren Verarbeitung im Big Data Kontext im Fokus [1].

In einer nach dem Schichtenprinzip betrachteten Architektur, stellen physikalische Komponenten die Basisschicht einer vertikalen Verteilung dar (RAMI4.0) [10], welche in Verbindung mit Konnektivität und primitiven Verarbeitungsschritten als Edge-Ebene bezeichnet wird [7]. Diese Ebene hat operativen Charakter (OT – vgl. Bild 3). Gateways stellen die anfallenden Produktionsdaten den höheren Schichten zur Verfügung und trennen das häufig zu isolierende Produktionsumfeld von der weit verfügbaren und integrativen IT-Umgebung [4]. Auf den aufbauenden Schichten werden neben Integrationstechnologien auch Datenoperationen wie Aggregation und Speicherung angeordnet, wobei sich die konkrete Schichtendefinition am spezifischen Anwendungsfall orientiert.

Bild 3 IT-Infrastrukturebenen
Bild 3

IT-Infrastrukturebenen

Auf der höchsten Schicht der vertikalen Achse finden sich Business Intelligence und applikationsübergreifende Kollaboration, welche vorverarbeitete Informationen nutzen (IT – vgl. Bild 3). Durch die Verarbeitungsschritte zwischen den Schichten und der damit verbundenen Informationsanreicherung kann bei aufsteigender vertikaler Achse auch zunehmender Ressourcenbedarf und Kommunikationslatenz festgestellt werden.

Infolge dessen entstehen unterschiedliche Anforderungen an die Schichten der Architektur, welche durch verteilte Infrastruktur umgesetzt werden. Während prozessnahe Verarbeitungsschritte mit kritischem Zeitverhalten Edge-Devices als Verarbeitungsplattform nutzen, erfolgen rechenintensive Analysen von umfangreichen Datensätzen im Cloud Computing Ansatz auf ressourcenreichen Remote-Serversystemen.

Eine Abbildung des Industrial Metaverse auf eine IT Infrastruktur erfolgt anhand der erweiterten Anforderungen. Die virtuelle Inbetriebnahme eines Anlagenverbundes erfordert Kollaboration von heterogenen Digitalen Zwillingen in einer Szene. Somit werden Anforderungen bis an die höchste Ebene der Referenzarchitektur gestellt. Zusätzlich benötigt eine geometriedatenverarbeitende 3D-Integrationsplattform Hardwareressourcen, welche zumeist nicht von Edge-Devices abgedeckt werden können und die Ausführung auf einem Remote-Server bekräftigen.

Die Integration der heterogenen Digitalen Zwillinge kann phasenabhängig alle Schichten umfassen. Während die in der Fabrikplanungsphase durchzuführenden Vorabsimulationen rein virtuelle Modelle nutzen, setzt die betriebssynchrone Phase die Existenz einer realen Anlage voraus. Für die Inbetriebnahmephase spielt die Schichtenarchitektur nur eine untergeordnete Rolle. Viel mehr werden Dienste unterschiedlicher Integrationstiefen genutzt [14]. Beispiele sind Simulations- und Kommunikationsdienste. Die Orchestrierung und Organisation dieser Dienste findet in der übergeordneten Applikationsschicht statt. Dabei stellen die Dienste Anforderungen an die Ausführungseinheiten. So ist die Integration einer HiL-simulierten physikalischen Komponente über eine Edge-Laufzeitumgebung und die für reale Komponenten etablierten Kommunikationstechnologien möglich. Auch die Organisation von Materialflusssimulationen wird hardwareunabhängig, beispielsweise integriert in eine Containerumgebung, ermöglicht.

Somit lässt sich festhalten, dass eine für das Industrial Metaverse geeignete Infrastruktur eine ressourcenreiche IT-Umgebung voraussetzt, um die spezifischen Anforderungen umzusetzen. Hierzu gehören neben der Multiuser-Kollaborationsfähigkeit auch die 3D-Visualisierung, welche eine ressourcenreiche und für verteilte Clients erreichbare Plattform benötigen. Während die zu orchestrierenden Dienste flexible Hardware-Anforderungen aufweisen und sich somit im industriellen Netzwerk verteilen lassen, setzt die Betriebssynchrontität eine Anbindung der Edge-Ebene voraus. Die Referenzarchitektur setzt sich demnach zumindest aus den zwei genannten Ebenen zusammen. Je nach Anwendungsfall und Anforderungen können jedoch dazwischen weitere Verarbeitungseinheiten als Schichten definiert werden.

Säule 3 – Betriebssynchronität

Betriebssynchrone Simulationen werden durchgeführt, um reale betriebliche Prozesse zu modellieren und zu analysieren, wobei der Schwerpunkt auf der Unterstützung des laufenden Betriebs liegt. Diese Simulationen erfolgen synchron zum tatsächlichen Betriebsablauf. Im Gegensatz dazu führen parallele Simulationen, welche auf verschiedenen Prozessoren gleichzeitig ausgeführt werden, zu einer Beschleunigung der Simulationsberechnung. Als Grundlage dieser Simulation bieten sich die Modelle der virtuellen Inbetriebnahme an. [11] Diese werden mit dem Industrial Metaverse verbunden. Das Industrial Metaverse kann durchaus auch ohne die Kopplung von Simulation und Realität ausgeführt werden. Dann handelt es sich ausschließlich um eine Simulation. Betriebssynchrone Simulationen haben das Ziel, den realen Betrieb zu optimieren, Risiken zu minimieren und fundierte Entscheidungen zu erleichtern. Im Detail eröffnet die Betriebssynchronität im Industrial Metaverse neue Möglichkeiten durch betriebsparallele Untersuchung verschiedener Szenarien während des laufenden Anlagenbetriebs, die im Folgenden beschrieben werden. Die Live-Kollaboration ermöglicht eine globale, ortsunabhängige Teaminteraktionen und fördert effektive Zusammenarbeit. Die branchenübergreifende Überwachung des Anlagenlebenszyklus erleichtert die frühzeitige Problemerkennung, optimiert Betriebsabläufe und ermöglicht die kontinuierliche Überwachung sowie Optimierung von Prozessen oder Wartungsplänen. Betriebssynchrone Simulationen in Verbindung mit dem Industrial Metaverse tragen zur Entwicklung nachhaltiger Produktionspraktiken bei, indem sie beispielsweise branchenübergreifend live eine detaillierte Überwachung von Energieverbrauch, Abfallproduktion und Umweltauswirkungen ermöglichen. Zusätzlich ermöglichen sie effiziente Schulungen und Onboarding-Prozesse für Mitarbeiter in virtuellen Umgebungen, besonders vorteilhaft bei komplexen Fertigungsanlagen. Die Verlängerung der Lebensphase von in der virtuellen Inbetriebnahme entstandenen Modellen in die Anlagenbetriebsphase wird somit im Industrial Metaverse mehrwertgenerierend ermöglicht.

Begleitende Simulationen können auf verschiedenen Abstraktionsebenen durchgeführt werden, insbesondere im Kontext der Automatisierungspyramide (Bild 4) [12]. Lassen sich die dynamischen Prozesse mithilfe von Differentialgleichungen beschreiben, werden häufig kontinuierliche Simulationen eingesetzt. Hardware-in-the-Loop-Simulationen auf der Feldebene sind gängig und dienen der virtuellen Inbetriebnahme von SPS ´s in verschiedenen Branchen. Die virtuelle Inbetriebnahme kann kontinuierlich sowie auch als diskrete Eventsimulation ausgeführt werden. Auf höheren Abstraktionsebenen im Engineering kommen Fabrikplanungstools und Durchlaufsimulationen zum Einsatz, welche Produktionsprozesse und Materialflüsse darstellen. Als Simulationsform findet sich häufig die diskrete Eventsimulation wieder [5]. Die Verfügbarkeit und der Informationsgehalt der Maschinendaten für die Parameterschätzung variieren je nach Ebene der betriebssynchronen Simulation. Aufgrund der hohen Kommunikationslatenz ist es unüblich, auf MES-Ebene große Datenmengen wie Sensordaten aller Maschinen im jeweiligen Buszyklus zu erfassen und zu verarbeiten. Stattdessen werden vorverarbeitete, aggregierte Datensätze verwendet. Für eine präzisere Parameterschätzung auf der Aktorenebene ist es sinnvoller, Sensordaten auf Feld- oder SPS-Ebene zu erfassen. Trotz entstehungsnaher Erfassung reichen die Informationen oft nicht für ein kontinuierlich präzises Prozessabbild aus. Informationen über Aktoren liegen häufig ereignisdiskret vor [8]. Dies erfordert eine Interpolation des Zustands zwischen Ereignissen. Im Kontext eines Industrial Metaverse ist die Definition der Simulationsebene, die entsprechende Ebene der Datenakquise und damit verbunden die erforderliche Architektur von essenzieller Bedeutung, um den Mehrwert der Betriebssynchronität zu realisieren.

Bild 4 Abstraktrationsebenen der Simulationen in Bezug zur Automatisierungspyramide
Bild 4

Abstraktrationsebenen der Simulationen in Bezug zur Automatisierungspyramide

Weitere Forschungsuntersuchungen sind erforderlich, um zu klären, inwiefern die kontinuierliche Anpassung der Bewegungsparameter auf Grundlage von Live-Daten die Wirksamkeit und Genauigkeit der Integration betriebssynchroner Simulationen in den operativen Betrieb steigert und deren qualitative Aussagekraft erhöht. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei dem asynchronen Verhalten zwischen Modell und Realität, potenziellen Kollisionen in Digitalen Modellen sowie der zeitlichen Synchronisierung im Kontext der kontinuierlichen Teilefertigung.

Anwendung

Verschiedene Use Cases im Kontext Industrial Metaverse sind in einem Demonstrator, das Digitale Technikum, umgesetzt (Bild 5). Als 3D-Integrationsplattform kommt die Softwareplattform NVIDIA Omniverse zum Einsatz. Das Digitale Technikum ist ein Abbild der Versuchshalle des Instituts für Produktion und Informatik in Sonthofen. Ausgeführt wird es auf einem lokalen GPU Server. Die einzelnen Autorensysteme befinden sich auf unterschiedlichen separaten PCs. Diese haben eine gemeinsame Verbindung auf den Nucleus Server, welcher sich auch auf dem GPU Server befindet. Nucleus ist die Servermanagementumgebung von NVIDIA Omniverse. Somit ergibt sich die Möglichkeit des geographisch unabhängigen Arbeitens. Außerdem kann in der ausführenden Applikation in Omniverse eine Live-Session gestartet werden, welche es erlaubt, mehrere Anwender gleichzeitig in der Szene arbeiten zu lassen. Grundlegend ist dem Digitalen Technikum ein 2D-Hallenlayout eingefügt. Dieses Layout enthält manuell eingefügte „frames“, sogenannte geografische Anker in Form von Koordinatensysteme, welche eine eindeutige ID besitzen. Mittels dieser ID können die jeweiligen Digitale Zwillinge referenziert werden. Diese Methodik erlaubt Firmen mit komplexer Hallenstruktur eine automatische Anordnung der Digitalen Zwillinge im virtuellen Raum in Abhängigkeit des Hallenlayouts.

Bild 5 Screenshot des Digitalen Technikums (oben); Autorensystem mit Digitalem Zwilling und Konnektor (unten rechts); Digitaler Zwilling aus dem Autorensystem im Digitalen Technikum (unten links)
Bild 5

Screenshot des Digitalen Technikums (oben); Autorensystem mit Digitalem Zwilling und Konnektor (unten rechts); Digitaler Zwilling aus dem Autorensystem im Digitalen Technikum (unten links)

Unterschiedliche Digitale Modelle und Digitale Zwillinge werden in Omniverse importiert. In einem ersten Use Case sind bidirektionale Konnektoren integriert: Zwei Digitale Zwillinge wurden jeweils in einer virtuellen Inbetriebnahmesoftware erstellt. An die Software ist jeweils eine SPS mittels Software-in-the-Loop angebunden. Beide Digitalen Zwillinge werden mittels eines bidirektionalen Konnektors in Omniverse importiert. Die erzeugte USD-Datei wird auf einem lokalen Nucleus-Server abgelegt. In einem der beiden Digitalen Zwillinge wird ein generisches Bauteil erzeugt. Das Bauteil wird dann dem zweiten Digitalen Zwilling in Omniverse übergeben. Diese Übergabe/Änderung wird dann in die beiden Digitalen Zwillinge in die jeweiligen virtuellen Inbetriebnahmesysteme über den bidirektionalen Konnektor zurückgespielt.

In einem zweiten Use Case wird ein anderes Autorensystem verwendet. Das Digitale Modell wird mittels eines unidirektionalen Konnektors in NVIDIA Omniverse importiert. Die USD-Datei wird wieder über den Nucleus-Server übergeben. In Bild 5 wird unten links das Digitale Modell in NVIDIA Omniverse in dem Digitalen Technikum dargestellt. Die Szene ist live-synchronisiert mit dessen Autorensystem in der Abbildung unten rechts.

Als dritter Use Case werden Recorded Files angezegt. Das Autorensystem wird für die Simulation in Omniverse nicht weiter benötigt.

In einem Digitalen Technikum können viele weitere Use Cases ergänzt werden. Limitierend ist einerseits die Hardware, welche für das Rendering gebraucht wird, andererseits die Größe des virtuellen Raums, quasi in unserem Beispiel das Hallenmodell.

Zusammenfassung und Ausblick

Zukünftig werden in dem Digitalen Technikum weitere Use Cases ergänzt wie ein Betriebssynchroner Digitaler Zwilling und ein KI-gestütztes Bildverarbeitungssystem, das ausschließlich mittels synthetischer Daten aus NVIDIA Omniverse trainiert wird.

Zusammenfassend befindet sich das Thema Industrial Metaverse in einer explorativen Phase. Derzeit existieren bereits kommerziell nutzbare 3D-Integrationsplattformen wie NVIDIA Omniverse oder Unity, die jedoch in der praktischen Anwendung noch begrenzt ihren Nutzen bewiesen haben. Es ist möglich, Digitale Zwillinge in Omniverse zu integrieren, jedoch ist für eine umfassende Umsetzung verschiedener Anwendungsfälle die Entwicklung der hier vorgestellten Referenzarchitektur entscheidend.


Hinweis

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen von den Mitgliedern des ZWF-Advisory-Board wissenschaftlich begutachteten Fachaufsatz (Peer Review).



Tel.: +49 (0) 831 2523-9630

About the authors

Marco Ullrich

Marco Ullrich, M.Eng., geb. 1994, studierte Automatisierung und Robotik und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Produktion und Informatik in Sonthofen der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten. Neben Automatisierungsthemen sind seine Forschungsschwerpunkte der Einsatz Digitaler Zwillinge in der produzierenden Industrie sowie das Industrial Metaverse. Er arbeitete zuvor als Servicetechniker bei der Firma WITTENSTEIN SE sowie als Entwicklungskonstrukteur bei der Firma MULTIVAC GROUP.

Jonas Heller

Jonas Heller, M.Eng., geb. 1989, studierte Automatisierung und Robotik und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Produktion und Informatik in Sonthofen der Hochschule für angewandte Wissenschaften Kempten. Neben Automatisierungsthemen sind seine Forschungsschwerpunkte die Entwicklung und der Einsatz Digitaler Zwillinge in der produzierenden Industrie. Er arbeitete zuvor als Konstrukteur und Koordinator im Sondermaschinenbau bei der Firma Robert Bosch GmbH sowie als Konstrukteur bei der Firma Highvolt Prüftechnik Dresden GmbH.

Jonas Knüpper

Jonas Knüpper, M.Sc., geb. 1993, studierte nach der Ausbildung zum Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung Ingenieurinformatik an der Technischen Universität Ilmenau. Nach verschiedenen Anstellungen als Softwareentwickler, unter anderem für eingebettete Systeme ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Produktion und Informatik angestellt, wo er seinen Forschungsschwerpunkt auf feldbusnahe Simulationen und eingebette Software gelegt hat.

Prof. Dr.-Ing. Bernd Lüdemann-Ravit

Prof. Dr.-Ing. Bernd Lüdemann-Ravit, geb. 1970, Diplom in Informatik, Promotion in Elektrotechnik/Robotik, Er arbeitete u.a. als IT-Systemgestalter, Projektleiter Digitale Produktionsplanung und Manager IT für die Digitale Fabrik bei Mercedes-Benz AG in Sindelfingen und Stuttgart, Heute ist er Leiter des Instituts für Produktion und Informatik und Leiter des StartUp Center der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Kempten.

Literatur

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Published Online: 2024-03-13
Published in Print: 2024-03-31

© 2024 Marco Ullrich, Jonas Heller, Jonas Knüpper und Bernd Lüdemann-Ravit, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 27.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zwf-2024-1033/html
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