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Augmented Reality in der kollaborativen Fabrikplanung von KMU

Anforderungen an den Einsatz
  • Olivia Bernhard

    Olivia Bernhard, M. Sc., geb. 1996, studierte im Bachelor Wirtschafsingenieurwesen mit Schwerpunkt Maschinenbau an der Technischen Universität Darmstadt. Anschließend absolvierte sie ihr Masterstudium in Entwicklung, Produktion und Management im Maschinenbau an der Technischen Universität München. Seit 2022 ist sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Produktionsmanagement und Logistik am Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb) tätig.

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    , Fabian Sippl

    Fabian Sippl, M. Sc., geb. 1993, studierte Maschinenwesen an der Technischen Universität München mit den Schwerpunkten Produktentwicklung und Machine Learning. Seit 2018 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am iwb und leitet dort seit 2022 die Themengruppe Produktionsmanagement und Logistik.

    and Michael F. Zäh

    Prof. Dr.-Ing. Michael F. Zäh, geb. 1963, ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhles für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der Technischen Universität München. Nach dem Studium des allgemeinen Maschinenbaus promovierte er bei Prof. Dr.-Ing. Joachim Milberg. Von 1996 bis 2002 war er bei einem Werkzeugmaschinenhersteller in mehreren Funktionen tätig. Gemeinsam mit Prof. Rüdiger Daub leitet er das Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb).

Published/Copyright: March 13, 2024

Abstract

Die Marktentwicklung erfordert derzeit von Unternehmen Investitionen in die Modernisierung und Umgestaltung ihrer Produktion, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, was insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) eine große Herausforderung darstellt. Die hierfür erforderliche Planung erfolgt bei KMU oft durch externe Dienstleistende. Die Folge hiervon ist häufig eine geringe Einbindung der Produktionsmitarbeitenden, was letztlich zu nicht optimalen Lösungen führen kann. Der Einsatz von Augmented Reality (AR) in der Fabrikplanung ermöglicht eine kollaborative Zusammenarbeit zwischen Planenden und Mitarbeitenden, wodurch das Prozesswissen aller genutzt, neue Lösungen generiert und die Akzeptanz der Veränderung erhöht werden kann. In diesem Beitrag wird ein Anforderungskatalog für die kollaborative Fabrikplanung mit AR vorgestellt.

Abstract

Market developments require companies to modernize and transform their production to remain competitive. This poses a significant organizational and financial challenge, particularly for small and medium-sized enterprises (SMEs). Factory planning is often outsourced to external service providers, especially for SMEs. However, the lack of involvement of production workers in the planning process can lead to suboptimal solutions and increased costs. Augmented reality (AR) can facilitate collaborative cooperation between factory planners and employees, utilizing their process knowledge to generate new solutions and increase acceptance of change. To successfully implement AR and enhance productivity and profitability in SMEs, it is crucial to identify requirements for a collaborative factory planning using AR. This article outlines the creation of the related requirements catalog.

Einleitung

Produzierende Unternehmen befinden sich derzeit in einem volatilen Umfeld, das durch einen anhaltenden Kostendruck, kürzere Produktlebenszyklen, steigende Nachhaltigkeitsanforderungen und zunehmenden Fachkräftemangel gekennzeichnet ist [1, 2]. Dies resultiert in einer Vielzahl an Umplanungsmaßnahmen bestehender Fabriken, die eine hohe Anpassungsfähigkeit der Fabriken erfordern [3]. Hinzu kommt, dass die Fabrikplanungsmaßnahmen in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) oftmals extern an Dienstleistende ausgelagert werden, da diese über das erforderliche Wissen zu den komplexen Prozessen, Vorgaben und Regularien verfügen und die zur Durchführung der Planung notwendigen Systeme und Werkzeuge besitzen. Eine Folge hiervon ist, dass trotz der unmittelbaren Auswirkungen der Fabrikplanungsmaßnahmen auf die Mitarbeitenden oft nur ein kleiner Teil von ihnen in den Planungsprozess involviert ist, da die Abstimmung meist zwischen den extern Planenden und den internen Führungskräften erfolgt [4, 5]. Eine Konsequenz hieraus ist, dass fundiertes Prozesswissen der Produktionsmitarbeitenden nicht ausreichend genutzt wird. Dies wiederum führt dazu, dass die für die Mitarbeitenden oft nicht nachvollziehbaren Ergebnisse, wie z. B. ineffiziente Prozessabläufe, von diesen innerlich abgelehnt werden. In Summe kommt es nicht selten zu längeren Hochlaufzeiten oder zu nachträglichen Änderungs- bzw. Anpassungsmaßnahmen, was letztlich höhere Kosten verursacht und sich damit auch negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirkt. Vor diesem Hintergrund gewinnen interdisziplinäre Ansätze in der Fabrikplanung verstärkt an Bedeutung [6, 7].

Der Einsatz eines innovativen Planungssystems auf Basis von Augmented Reality (AR) ermöglicht die fach-, hierarchie- und unternehmensübergreifende Zusammenarbeit in Fabrikplanungsprojekten. Durch die kollaborative Fabrikplanung wird die Verknüpfung des spezifischen Know-hows von Fabrikplanenden und Produktionsmitarbeitenden sichergestellt und bereits in der Planung berücksichtigt. Der neue Ansatz der kollaborativen und kontinuierlichen Zusammenarbeit erweitert den Betrachtungsrahmen im Planungsprozess, um neue Handlungsalternativen zu identifizieren und neue Lösungen zu generieren. Dies eröffnet insbesondere KMU die Möglichkeit, ihre Produktivität und ihre Wirtschaftlichkeit zu steigern und die Akzeptanz der Mitarbeitenden für die Planungsmaßnahmen sicherzustellen. Dabei ist es wichtig, die Anforderungen an den Einsatz eines AR-Systems aus der Perspektive der Nutzenden zu identifizieren, um die Anforderungen bereits bei der Entwicklung eines AR-Systems für die kollaborative Fabrikplanung zu berücksichtigen. Ziel dieses Beitrags ist es, die für einen kollaborativen Planungsprozess relevanten Anforderungen zu identifizieren und zu definieren. Dazu wurde ein Anforderungskatalog erstellt, der eine Klassifizierung nach Aspekten wie der Funktion des Systems oder der Mensch-Maschine-Schnittstelle enthält und die jeweiligen Anforderungen beschreibt. Im ersten Schritt wurde literaturbasiert untersucht, welche Anforderungen im Bereich der Mensch-Technik-Interaktion existieren, bevor im zweiten Schritt die aus der Perspektive von Expert:innen relevanten Anforderungen mithilfe von Interviews erfasst wurden. Im dritten Schritt erfolgte der Abgleich der Anforderungen aus beiden Studien sowie die Zusammenführung dieser in einem gemeinsamen Anforderungskatalog. Über das Ergebnis berichtet der vorliegende Beitrag.

Kollaborative Fabrikplanung mithilfe von Augmented Reality

Ein kollaborativer Fabrikplanungsprozess mithilfe von AR basiert auf einer fach-, hierarchie- und unternehmens-übergreifenden Zusammenarbeit in Fabrikplanungsprojekten mithilfe eines innovativen Planungssystems. Bild 1 zeigt schematisch das angestrebte Ziel eines kollaborativen Fabrikplanungsprozesses, dargestellt durch die fach- und hierarchieübergreifende Beteiligung aller am Fabrikplanungsprozess beteiligten Rollen, die miteinander im Austausch stehen: die Fabrikplanenden, die Produktionsmitarbeitenden und die Führungskräfte des Unternehmens. Die kollaborative Zusammenarbeit mithilfe eines innovativen AR-Systems führt letztlich zur Verschmelzung der realen und der virtuellen Welt bei der Durchführung der Planungsmaßnahmen. Für das Verständnis der Komponenten der Zielsetzung ist es wichtig, deren Bestandteile zu verstehen. Daher werden diese im Folgenden kurz erläutert.

Bild 1 Kollaborative Fabrikplanung mithilfe von Augmented Reality (Symbolbild)
Bild 1

Kollaborative Fabrikplanung mithilfe von Augmented Reality (Symbolbild)

Der Begriff Fabrikplanung setzt sich zusammen aus dem Begriff Fabrik, also einer Werkstätte, die einen Produktionsbetrieb beschreibt, dessen Aufgabe die Umwandlung eines Stoffes oder mehrerer Stoffe und Zukaufteile zu Produkten oder Produktionsmitteln ist [8], und dem Begriff Planung, der für die kognitive Antizipation und Vorausschau zukünftiger Aktivitäten steht [9]. Die Fabrikplanung ist ein systematischer und zielgerichteter Prozess, der sich in aufeinander aufbauende Phasen gliedert und die Planung einer Fabrik mithilfe von Methoden und Werkzeugen von der Zielfestlegung bis zum Produktionsanlauf umfasst [7, 9]. Dazu gehören die Standortbestimmung, die Auswahl und Anordnung der Gebäude, die Gestaltung der Produktionsprozesse (einschließlich der Fertigungs- und Montageprozesse) sowie die Integration der Logistik und der unterstützenden Prozesse, wie z. B. Transport, Lagerung und Instandhaltung [7].

Die am Fabrikplanungsprozess beteiligten Rollen sind einerseits die Planenden, die unter Berücksichtigung der relevanten Zielgrößen und im Austausch mit den jeweiligen Führungskräften eine Layoutplanung durchführen. Dabei achten sie auf die zu erfüllenden Anforderungen sowie die gegebenen Rahmenbedingungen. Andererseits sind es die Führungskräfte, die die Entscheidungsbefugnis über entsprechende Planungsmaßnahmen haben und den Planenden Hinweise auf unternehmensspezifische Restriktionen geben. Die Planungsmaßnahme betrifft darüber hinaus direkt die Produktionsmitarbeitenden, also Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die im Rahmen ihrer Arbeitstätigkeit von der Planungsmaßnahme betroffen sind.

Ausgangspunkt des Fabrikplanungsprozesses ist die Notwendigkeit, eine Fabrikstruktur neu zu planen (Greenfield-Planung) oder eine bestehende Fabrikstruktur umzuplanen (Brownfield-Planung) [10]. Dieser Bedarf entsteht durch externe Einflüsse verschiedener Stakeholder, wie z. B. der Kostendruck oder sich ändernde Kundenanforderungen, aber auch durch neue gesetzliche Regularien oder Auflagen [5].

Ein Entwicklungstrend in der Fabrikplanung ist die kooperative Fabrikplanung, um den wachsenden Herausforderungen, wie z. B. verkürzten Planungszeiten, zu begegnen. Der Ansatz betont die zielgerichtete Zusammenarbeit und Synchronisation aller an der Planung beteiligten Disziplinen, wobei bewusst von einer rein sequentiellen Vorgehensweise abgewichen wird, um eine effiziente Planung zu ermöglichen. Für eine reibungslose Umsetzung ist eine hohe Fachkompetenz der Beteiligten erforderlich, wobei die fachliche Diskussion und Bewertung von Vorschlägen in interdisziplinären Teams zu schnellen und unmittelbaren Entscheidungen führt. Durch die Bildung kooperativer, partizipativer Teams, durch die zeitgleiche Durchführung der Prozesse und durch die daraus resultierenden Synergieeffekte kann eine deutliche Verkürzung der Planungszeit erreicht werden. Ein weiterer Trend in der Fabrikplanung ist die digitale Fabrik. Sie ist ein komplexes Netzwerk aus digitalen Modellen, Methoden und spezialisierten Werkzeugen, die durch ein durchgängiges Datenmanagement integriert werden. Ihr Hauptziel ist die Erstellung virtueller Abbilder geplanter oder realer Fabriken, um eine umfassende Visualisierung und Simulation von Fabrikstrukturen und -prozessen zu ermöglichen. Dies geschieht mithilfe realer Planungsdaten, die eine digitale Abbildung und Modifikation von Produkten, Prozessen und Gebäuden ermöglichen, ohne dass ein physisches System vorhanden sein muss. Bei kooperativen Fabrikplanungsmethoden werden die geplanten Projektlösungen in der Regel frühzeitig virtuell dargestellt und gezielt getestet, u. a. durch Prozessanimationen und virtuelle Kamerafahrten. [7]

AR bezeichnet die Überlagerung der realen Welt mit virtuellen Objekten und somit die Ergänzung der Realität, anstatt diese, wie bei der Virtual Reality (VR), zu ersetzen [11, 12]. Während die nutzende Person in der VR also vollständig in die virtuelle Welt eintaucht und somit von der Umgebung isoliert ist, nimmt der AR-Nutzende bzw. die AR-Nutzende die reale Umgebung und die darin befindlichen virtuellen Objekte gleichzeitig als Ganzes wahr und kann mit den virtuellen Objekten in Echtzeit interagieren [13, 14]. Im AR-Umfeld können verschiedene AR-Systeme wie Datenbrillen oder Tablets zum Einsatz kommen. Ein AR-System beschreibt dabei eine informationstechnische Lösung, die aus geeigneter Hard- und Software besteht, um die Wahrnehmung der realen Welt mit virtuellen Inhalten möglichst nahtlos und für den Benutzenden kaum unterscheidbar zu erweitern [13]. Dabei bestehen AR-Systeme aus einem Eingabe- und einem Ausgabegerät. Das Eingabegerät dient zur sensorischen Erfassung der Interaktion der Nutzenden sowie weiterer Objekte und der Umgebung (z. B. Datenhandschuhe) [15]. Das Ausgabegerät erfüllt die Funktion, die reale Welt für die Nutzenden durch entsprechende Reizgenerierung zu erweitern (z. B. über eine haptische Ausgabe) [16]. Der Betrachtungsrahmen dieses Beitrags liegt auf AR-Brillen, die zu den Head-Mounted Displays (HMDs) gezählt werden können. HMDs, auch kopfmontierte Displays genannt, sind Displays, die entweder in Form einer Brille direkt vor den Augen der Nutzenden am Kopf angebracht oder in Form eines Helms aufgesetzt werden. Sie verfügen entweder über ein integriertes Tracking-System oder werden mit einem solchen kombiniert, um die Blickrichtung und die Kameraposition kontinuierlich an die aktuelle Ausrichtung des HMDs anzupassen [16, 17].

Anforderungen an ein AR-System zur kollaborativen Fabrikplanung

Die Interaktion der nutzenden Person mit dem AR-System erfordert die Berücksichtigung wichtiger Prinzipien der Mensch-Technik-Interaktion, um eine nutzungsfreundliche, effiziente und verständliche Schnittstelle zu schaffen [18]. Um diese Prinzipien zu erarbeiten, wurde eine Anforderungsanalyse durchgeführt, die sowohl Erkenntnisse aus der Literatur als auch Erfahrungen aus der Perspektive der Anwendenden einschließt (Bild 2). Die Prinzipien wurden dabei in Form von Anforderungen erfasst. Dabei wird unter einer Anforderung eine Fähigkeit oder Bedingung verstanden, die von einem System zur Zielerreichung oder Problemlösung benötigt wird [19].

Bild 2 Gewähltes Vorgehen zur Analyse der Anforderungen
Bild 2

Gewähltes Vorgehen zur Analyse der Anforderungen

Zur Erstellung des Anforderungskatalogs erfolgte in einem ersten Schritt eine literaturbasierte Identifikation von Anforderungen an die Mensch-Technik-Interaktion. Dabei wurden insbesondere Anforderungen im Bereich der Konsistenz (z. B. gleiche Terminologie bei Anzeigen), der Visualisierung (z. B. Erkennbarkeit und Lesbarkeit), des Feedbacks (z. B. Bestätigung des Abschlusses eines Abschnitts), der Individualität (z. B. aufgabenadäquate Unterstützung der nutzenden Person), der Systembindung (z. B. Verwendung von Shortcuts) und des Fehlermanagements (z. B. einfache Rückgängigmachung von Aktionen ermöglichen) herausgearbeitet. [18, 20, 21,22, 23, 24, 25]

Um die Anforderungen an ein System zur kollaborativen Fabrikplanung aus Nutzenden-Perspektive zu erheben, wurden im zweiten Schritt acht semistrukturierte Interviews mit Expert:innen [26] aus dem Planungs- und Produktionsumfeld durchgeführt. Die acht befragten Personen teilen sich jeweils zur Hälfte in Planungsexpert:innen eines Dienstleistungsunternehmens und Expert:innen eines produzierenden KMU auf. Da es sich bei dem AR-System um eine Technologie handelt, deren erfolgreiche Implementierung stark von der Akzeptanz der Nutzenden abhängt, erfolgte der Aufbau der Interviews in Anlehnung an das Technologieakzeptanzmodell [27]. Neben der Erfassung von allgemeinen Informationen, z. B. des fachlichen Hintergrunds und der Erfahrungen der Expert:innen sowie der durch den Arbeitsplatz vorgegebenen Randbedingungen, lag der Fokus auf der wahrgenommenen Nützlichkeit sowie dem empfundenen Nutzen durch das System. Dabei wurde beispielsweise auf den Nutzungszweck oder das Nutzendenerlebnis eingegangen. Die Auswertung der Ergebnisse hinsichtlich der allgemeinen Informationen zeigt, dass insgesamt fünf von acht Expert:innen keine Vorerfahrung in der Nutzung von AR-Systemen und drei von fünf Expert:innen geringe Vorerfahrung hatten. Somit hatte keiner der befragten Expertinnen oder Experten eine umfassende Erfahrung mit einem AR-System. Dennoch votierten sechs der acht Befragten für eine freiwillige Nutzung des Systems und die beiden restlichen für eine freiwillige Nutzung, sofern diese zu einer Arbeitserleichterung führt. Zudem bestätigen alle Produktionsmitarbeitenden, dass es Optimierungspotenzial bezüglich der Integration in den Planungsprozess gibt. Darüber hinaus sind alle Planenden davon überzeugt, dass das Anlagen-Knowhow der Produktionsmitarbeitenden der Planung helfen und die Planungsergebnisse verbessern würde. Es besteht auch Einigkeit darüber, dass der Einsatz eines AR-Systems für die kollaborative Fabrikplanung sinnvoll ist, auch wenn die Motivation dahinter personenabhängig ist.

Der Aufbau des Anforderungskatalogs (Schritt 3) erfolgte einheitlich in vier Ebenen: Anforderungscluster (kurz: Cluster), Anforderungsindex, Anforderungsbezeichnung (kurz: Anforderung) und Anforderungsbeschreibung. Insgesamt konnten 27 Anforderungen den drei Anforderungsclustern Funktion, Visualisierung und Steuerung sowie Mensch-Technik-Interaktion zugeordnet werden, wobei eine trennscharfe Abgrenzung der jeweiligen Anforderungen zu den Clustern nicht immer gegeben ist. Dabei zählen zu den Anforderungen des Clusters Funktion (F) jene, die Einfluss auf den Betrachtungsrahmen der kollaborativen Fabrikplanung haben und somit auf Eigenschaften, die vom System zur Zielerreichung bzw. Ergebnisgenerierung ausgeführt werden sollen. Innerhalb des Clusters Visualisierung und Steuerung (VuS) werden alle Eigenschaften verortet, die die Ausgabe (Visualisierung) und Eingabe (Steuerung) betreffen wie beispielsweise die Gestaltung der Oberfläche des Systems. Das Cluster Mensch-Technik-Interaktion (MTI) umfasst schließlich die Anforderungen, die die Zusammenarbeit und Kommunikation von Nutzenden (Mensch) und Systemen (Technik) beschreiben [22].

Bild 3 gibt eine Übersicht über die Ebenen eins bis drei aller 27 identifizierten Anforderungen, d. h. die Anforderungsbeschreibung wurde aus Gründen der Übersichtlichkeit weggelassen. Nachfolgend werden je Anforderungscluster zwei Anforderungen näher beleuchtet und es wird damit exemplarisch auf die Anforderungsbeschreibung (Ebene 4) eingegangen. Die Anforderung F-1 im Cluster Funktion adressiert die Möglichkeit der Anwendenden, während der Nutzung des Systems Rückmeldungen zum Planungsstand zu geben oder zusätzliche relevante Informationen zu platzieren. So können Bedienende von Anlagen beispielsweise im Anwendungsfall der Layoutumgestaltung mithilfe eines Kommentarfelds Anmerkungen zur Positionierung der Anlage oder einzelner Maschinen auf der Fläche machen oder der planenden Person zum Beispiel Hinweise zur Zugänglichkeit zur Anlage geben. F-4 (Kompatibilität mit anderen Systemen) greift die Notwendigkeit der Kompatibilität auf. Das bedeutet, dass die Anwendung des AR-Systems mit anderen Tools und/oder Systemen kompatibel sein muss, die in den vor- und nachgelagerten Phasen der Planung eingesetzt werden. Hier sei bespielhaft die Kompatibilität des Systems mit Tools/Software aus der Konstruktion zu nennen.

Bild 3 Anforderungen an den Einsatz eines AR-Systems zur kollaborativen Fabrikplanung
Bild 3

Anforderungen an den Einsatz eines AR-Systems zur kollaborativen Fabrikplanung

Im Cluster Visualisierung und Steuerung hebt die Anforderung VuS-2 die Relevanz einer realistischen Farbcodierung hervor und nennt hierbei die Darstellung der Objekte in Anlehnung an die tatsächlichen Herstellerfarben. Das bedeutet, dass beispielsweise eine betrachtete Anlage x, die vom Hersteller y beschafft wurde, auch im Planungsstand die realen Herstellerfarben besitzen soll, um die Wiedererkennbarkeit sicherzustellen. Die rollenspezifische Darstellung von Inhalten (VuS-4) definiert, dass die dargestellten Inhalte je nach Rolle der nutzenden Person angepasst werden, um einen aufgabenbezogenen Detaillierungsgrad des Informationsbedarfs bzw. der Inhalte zu gewährleisten. Dadurch soll in der Anwendung vermieden werden, dass zum Beispiel Anlagenbedienende in einer AR-Session Informationen über statische Restriktionen angezeigt bekommen, da sie diese nicht benötigen.

Im Cluster Mensch-Technik-Interaktion greift MTI-2 die ortsunabhängige Zusammenarbeit auf und adressiert hiermit eine standort- und rollenübergreifende Sicht auf den Planungsstand, entweder durch einen Live-Stream oder über eine Aufzeichnungsfunktion. Dadurch soll beispielsweise die zeitgleiche Zusammenarbeit zwischen einem Unternehmen (Standort A) und einem Planungsdienstleister (Standort B) sichergestellt werden. Darüber hinaus ermöglicht eine Erfüllung dieser Anforderung aber auch eine individuelle und somit flexible Bearbeitung anstehender Aufgaben im Rahmen des Planungsprozesses. Die Kompatibilität mit der Arbeitskleidung (MTI-3) adressiert die Herausforderung im Produktionsumfeld, dass die Nutzung des Systems auch mit dem Tragen der im Arbeitsalltag erforderlichen Schutzkleidung und -ausrüstung vereinbar ist. Beispielhaft ist hier das Tragen eines Gehörschutzes zu nennen, der bei der Anwendung einer AR-Brille weiterhin benötigt wird, was bei der Nutzung der Ausgabefunktion mithilfe von akustischer Steuerung berücksichtigt werden muss.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Anforderungsanalyse hat gezeigt, dass für die Entwicklung eines AR-basierten Systems zur kollaborativen Fabrikplanung eine Einteilung in die drei Cluster Visualisierung und Steuerung, Funktion sowie Mensch-Technik-Interaktion sinnvoll ist. Die durchgeführte Literaturrecherche und die Expert:innenbefragung ergaben die meisten Anforderungen im Cluster Visualisierung und Steuerung des Systems, was dessen besondere Relevanz hervorhebt. Die identifizierten Anforderungen dienen als Grundlage für die Entwicklung des AR-Systems zur kollaborativen Fabrikplanung und für die Gestaltung der Interaktion und Partizipation der Mitarbeitenden. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass eine Nichterfüllung ausgewählter Anforderungen beispielsweise aufgrund technischer Restriktionen auftreten kann. Eine Evaluierung der Erfüllung der Anforderungen nach der Entwicklung des AR-Systems im Rahmen von Tests durch die Nutzenden und im Zuge von Befragungen wird daher empfohlen. Das Ergebnis ist insbesondere hilfreich für KMU, denen im Allgemeinen ein deutlich geringerer organisatorischer und finanzieller Rahmen für die Anpassung an die Herausforderungen des Marktes zur Verfügung steht als Großkonzernen.


Hinweis

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen von den Mitgliedern des ZWF-Advisory-Board wissenschaftlich begutachteten Fachaufsatz (Peer Review).



Tel.: +49 (0) 89 289 55 475

About the authors

Olivia Bernhard

Olivia Bernhard, M. Sc., geb. 1996, studierte im Bachelor Wirtschafsingenieurwesen mit Schwerpunkt Maschinenbau an der Technischen Universität Darmstadt. Anschließend absolvierte sie ihr Masterstudium in Entwicklung, Produktion und Management im Maschinenbau an der Technischen Universität München. Seit 2022 ist sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Produktionsmanagement und Logistik am Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb) tätig.

Fabian Sippl

Fabian Sippl, M. Sc., geb. 1993, studierte Maschinenwesen an der Technischen Universität München mit den Schwerpunkten Produktentwicklung und Machine Learning. Seit 2018 arbeitet er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am iwb und leitet dort seit 2022 die Themengruppe Produktionsmanagement und Logistik.

Prof. Dr.-Ing. Michael F. Zäh

Prof. Dr.-Ing. Michael F. Zäh, geb. 1963, ist seit 2002 Inhaber des Lehrstuhles für Werkzeugmaschinen und Fertigungstechnik der Technischen Universität München. Nach dem Studium des allgemeinen Maschinenbaus promovierte er bei Prof. Dr.-Ing. Joachim Milberg. Von 1996 bis 2002 war er bei einem Werkzeugmaschinenhersteller in mehreren Funktionen tätig. Gemeinsam mit Prof. Rüdiger Daub leitet er das Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb).

Danksagung

Die in diesem Beitrag vorgestellten Ergebnisse entstanden während der Forschungsaktivitäten des Projekts ARZuKMU (Förderkennzeichen 02L22B025), welches vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut wird. Wir danken dem BMBF und dem PTKA für die hervorragende Unterstützung.

Literatur

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Published Online: 2024-03-13
Published in Print: 2024-03-31

© 2024 Olivia Bernhard, Fabian Sippl und Michael F. Zäh, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zwf-2024-1031/html
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