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Psychosoziale Aspekte und Diabetes

  • Norbert Hermanns EMAIL logo und Berndhard Kulzer
Veröffentlicht/Copyright: 30. November 2021

Zusammenfassung

Die Prognose der Diabeteserkrankung wird entscheidend vom Selbstbehandlungsverhalten der Betroffenen beeinflusst. Psychosoziale Aspekte wie krankheitsspezifische Belastungen, subklinische oder klinische psychische Störungen stellen eine wesentliche Barriere für eine erfolgreiche Diabetestherapie dar. Deshalb ist ein Screening auf mögliche psychische Belastungen sinnvoll. Beim Auftreten psychischer Komorbiditäten ist eine Mitbehandlung durch diabeteserfahrene psychologische oder ärztliche Psychotherapeuten sinnvoll.

Abstract

The prognosis of diabetes is decisively influenced by the self-treatment behaviour of those affected. Psychosocial aspects such as disease-specific stress, subclinical or clinical mental disorders represent a significant barrier to successful diabetes therapy. Therefore, screening for potential mental health problems is useful. If psychological comorbidities occur, co-treatment by psychological or medical psychotherapists with diabetes experience is useful.

Hintergrund

Diabetes mellitus ist eine chronische Erkrankung, deren Verlauf und Prognose entscheidend durch das tägliche Selbstmanagement der Betroffenen mit beeinflusst wird [1], [2]. Eine gelingende Selbstbehandlung in Bezug auf Medikamenteneinnahme und -dosierung sowie eine Modifikation bzw. die Berücksichtigung des Ernährungs- und Bewegungsverhaltens bei der Therapiedurchführung im Alltag beeinflussen die glykämische Kontrolle und andere metabolische Risikofaktoren.

Die Bedeutung psychosozialer Faktoren für eine erfolgreiche Diabetestherapie wurde in der Diabetologie bereits recht früh thematisiert. In der sogenannten St. Vincent Deklaration betonte bereits im Jahr 1994 die Arbeitsgruppe der WHO/International Diabetes Fédération, dass die Diabetesbehandlung neben einer Verbesserung der Stoffwechselwerte auch das psychische Wohlbefinden fördern sollte [3]. Epidemiologische Erkenntnisse aus fünf großen deutschen Stichproben belegen, dass die Lebensqualität bei Menschen mit Diabetes eingeschränkt ist [4] und eine Diabeteserkrankung die psychische Gesundheit beeinträchtigen kann [5].

Diabetes Distress

Ein häufiger Grund hierfür sind erhöhte diabetesbezogene Belastungen. Hiervon sind etwa 30% der Menschen mit Diabetes betroffen. Diabetesbezogene Belastungen umfassen folgende Problembereiche: beständige Beschäftigung mit dem Essen, innerfamiliäre Konflikte, negative Reaktionen des sozialen Umfeldes, Gefühl der Überforderung durch die Erkrankung und ihrer Behandlung, Angst vor Folgekomplikationen, Ängste im Zusammenhang mit Hypoglykämien sowie Konflikte mit dem Diabetesbehandlungsteam (siehe Kasten 1). Erhöhte diabetesbezogene Belastungen können als proximaler Marker für psychische Gesundheit bei Diabetes angesehen werden, da sie sich direkt auf krankheits- oder therapiebedingte Stressoren beziehen. Daher werden diabetesbezogene Belastungen auch häufig als Diabetes Distress bezeichnet. Formal entsteht erhöhter Diabetes Distress [7] durch ein Ungleichgewicht zwischen den individuellen Bewältigungsfähigkeiten mit einer chronischen Erkrankung zu leben und dem Ausmaß diabetesbedingter Belastungen [6]. Erhöhter Diabetes Distress spielt sehr häufig eine wichtige Rolle bei der Entstehung, Verschlimmerung bzw. Aufrechterhaltung von subklinischen oder klinischen psychischen Störungen [5], [8], [9].

Kasten 1:

Häufig genannte Belastungen im Zusammenhang mit der Diabeteserkrankung [6].

Diabetesbezogene Belastungen:
Therapiebezogene Belastungen
Hypoglykämie-bezogene Belastungen
Gedankliche Beschäftigung mit Folgeerkrankungen
Konflikte im familiären Umfeld infolge der Diabeteserkrankung
Verunsicherung durch Glukoseschwankungen
Gefühl der Überforderung mit der Erkrankung zu leben
Negative Reaktionen des sozialen Umfeldes auf die Erkrankung

Psychische Komorbiditäten

Neben einer erhöhten Krankheitsbelastung können Menschen mit Diabetes auch von anderen Störungen betroffen sein. Sehr gut erforscht ist die Komorbidität von Diabetes und Depression bzw. Angst. Epidemiologische Studien haben gezeigt, dass eine etwa zweifach erhöhte Prävalenz von Depressionen und Angst bei Menschen Diabetes im Vergleich zur der Allgemeinbevölkerung besteht [5]. Während etwa 10–12% der Menschen mit Diabetes unter einer klinischen Depression oder Angststörung leiden, berichten 20% der Menschen mit Diabetes vermehrt Depressions- und Angstsymptome, ohne dass die Kriterien für eine klinische Diagnose erfüllt werden. In zahlreichen Studien konnte eine erhöhte Depressivität oder eine klinische Depression als ein unabhängiger Risikofaktor für eine reduzierte Lebensqualität und als eine Barriere für das Selbstbehandlungsverhalten identifiziert werden. Schließlich sind eine erhöhte Depressivität oder eine klinische Depression auch unabhängig vom Diabetesmanagement mit einem erhöhten Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko assoziiert [10], [11].

Neben Depressionen und Angsterkrankungen treten andere subklinische oder klinische psychische Erkrankungen bei Diabetes mindestens so häufig wie in der Allgemeinbevölkerung auf. Psychotische Erkrankungen oder manische Depressionen scheinen bei Menschen mit einer Diabeteserkrankung keine höhere Prävalenz als in der Allgemeinbevölkerung zu haben [2]. Demgegenüber gibt es Hinweise, dass ein gestörtes Essverhalten und Essstörungen wie Anorexia Nervosa bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Diabetes häufiger vorkommt, als in der Allgemeinbevölkerung [2]. Das Auftreten solcher Essstörungen ist eine entscheidende Barriere für die Diabetes-Selbstbehandlung, insbesondere für die Durchführung einer Insulintherapie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Bei Typ-2-Diabetes ist die Datenlage uneinheitlich. Es mehren sich jedoch hier die Anzeichen, dass insbesondere subklinische oder klinische Binge Eating Störungen bei diesem Diabetestyp gehäuft vorkommen [2]. Diese spielen für die Entstehung und Aufrechterhaltung eines Übergewichtes eine wichtige Rolle. Bei älteren Menschen mit einer Diabeteserkrankung ist das Risiko für eine Demenz oder das Auftreten minimaler kognitiver Einbußen um das 1,5- bis 2-fache erhöht [12], [13], [14]. Diese neurodegenerativen Erkrankungen die Selbstständigkeit der Betroffenen und damit auch das Diabetesselbstmanagement. Insgesamt zeigen sich weitreichende Einflüsse psychosozialer Faktoren auf das Selbstbehandlungsverhalten und damit letztlich auf die Prognose. Dies zeigt die Relevanz psychosozialer Versorgungsangebote für Menschen mit Diabetes.

Psychosoziale Versorgung

Das Angebot von Diabetesschulungen, welche auch das emotionale Erleben der Diabeteserkrankung thematisieren, sind eine unspezifische Intervention um leichtere Formen von Diabetes Distress und krankheitsbezogene Belastungen zu adressieren [7]. Diese leisten so einen Beitrag dazu, krankheitsbezogene Belastungen zu reduzieren und die Lebensqualität von Menschen mit einer Diabeteserkrankung zu verbessern. Bei einem erhöhten persistierendem Diabetes Distress und dem Auftreten der oben beschriebenen psychischen Störungen sollte jedoch eine Diagnostik und eine individuell zugeschnittene Beratung oder Therapie durch diabeteserfahrene ärztliche oder psychologische Psychotherapeuten erfolgen.

Den diabetologischen Behandlungseinrichtungen kommt eine sehr wichtige Bedeutung für die Identifikation von Personen mit erhöhten Distress oder sub-klinischen oder klinischen psychischen Störungen zu. Die Leitlinie „Psychosoziales und Diabetes“ empfiehlt ein regelmäßiges Screening auf diabetesbezogene oder psychische Belastungen, psychische Störungen oder neurokognitive Leistungseinbußen [2]. Im Idealfall erfolgt ein solches Screening regelmäßig oder in Abhängigkeit von bestimmten Phasen im Krankheitsverlauf, z.B. bei der Neumanifestation der Diabeteserkrankung, dem Auftreten von Akut- oder Langzeitkomplikationen des Diabetes oder bei relevanten Therapieumstellungen wie die Initiierung einer Insulintherapie beim Typ 2 Diabetes. Wird im Rahmen des Screenings eine psychische Störung diagnostiziert, sollte eine Einbeziehung von diabeteserfahrenen psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten erfolgen.

Die Arbeitsgemeinschaft „Diabetes und Psychologie“ in der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), bietet für Psychologen eine Weiterbildung zum Psychodiabetologen an. Ziel dieser Weiterbildung ist es, den Psychotherapeuten Kenntnisse über diabetesspezifische Probleme, Therapieverfahren und Wissen über das Krankheitsbild Diabetes mellitus zu vermitteln. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat eine Weiterbildung „Spezielle Psychotherapie Diabetes“ beschlossen, die bislang in Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz umgesetzt wurde, um die psychosoziale Versorgung von Menschen mit Diabetes zukünftig zu verbessern. Darüber hinaus bietet die Arbeitsgemeinschaft „Diabetes und Psychologie“ ein Register an, in dem man bundesweit nach verfügbaren wohnortnahen Psychodiabetologen/Innen suchen kann (www.diabetes-psychologie.de).

  1. Autorenerklärung

  2. Autorenbeteiligung: Der Autor trägt Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels. Finanzierung: Der Autor erklärt, dass er keine finanzielle Förderung erhalten hat. Interessenkonflikt: Der Autor erklärt, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  3. Author Declaration

  4. Author contributions: The author has accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript. Funding: Author states no funding involved. Conflict of interest: Author states no conflict of interest. Ethical statement: Primary data neither for human nor for animals were collected for this research work.

Literatur

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2. Kulzer B, Albus C, Herpertz S, Kruse J, Lange K, Lederbogen F, et al. Psychosoziales und Diabetes (Teil 2). S2-Leitlinie Psychosoziales und Diabetes - Langfassung. Diabetol Stoffwechs 2013;18:292–324.10.1055/s-0033-1335889Suche in Google Scholar

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Online erschienen: 2021-11-30
Erschienen im Druck: 2021-11-25

©2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Editorial
  3. Diabetes mellitus – die stille Pandemie
  4. Diabetes-Surveillance am Robert Koch-Institut – Modellprojekt für den Aufbau einer NCD-Surveillance in Deutschland
  5. Aufklärungs- und Informationskampagnen zu Diabetes Mellitus – Systematische Recherche der Literatur und der sozialen Medien
  6. „Mein Wissen über Diabetes ist eigentlich, dass es gar nicht so schlimm ist.“ – Wissen und Awareness für das Typ-2-Diabetes-Risiko unter jungen Erwachsenen
  7. Bundesweite Präventionskampagne zur Früherkennung eines Typ-1-Diabetes im Kindes- und Jugendalter
  8. Digitale Prävention des Typ-2-Diabetes
  9. Diabetes-Aufklärung – Herausforderung für ÄrztInnen und ihre Teams
  10. Kinder mit Typ-1-Diabetes: Elternerfahrungen zur Teilhabe in Kita und Schule
  11. DiaLife – zusammen leben mit Diabetes: Schulungsprogramm für Angehörige
  12. Patient:innen-Coaches als Brücke zwischen medizinischen Behandler:innen und Lebensalltag – Ein Bericht aus der Betroffenheitsperspektive
  13. Schaffung gesunder Ernährungsumfelder: Ergebnisse des Food-EPI
  14. Gesunde Ernährung von Anfang an
  15. Ernährungsbezogener Lebensstil bei Diabetes
  16. Bewegung im Kindes- und Jugendalter
  17. Nationale Empfehlungen für Bewegung und Bewegungsförderung bei Diabetes
  18. Rauchen und Alkoholkonsum als Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes – Konsequenzen für die Prävention
  19. Gestationsdiabetes in Deutschland
  20. Corona-Pandemie: COVID-19 und Diabetes mellitus
  21. Psychosoziale Aspekte und Diabetes
  22. Leistungsinanspruchnahme und Kosten bei Menschen mit Diabetes und komorbider Depression
  23. Ein Scoping Review internationaler Diabetes-Leitlinien
  24. Disease-Management-Programme (DMP): ein Beispiel für erfolgreiches Qualitätsmanagement? Ergebnisse aus dem DMP Typ-2-Diabetes in Nordrhein-Westfalen
  25. Entscheidungshilfe zum diabetischen Fußsyndrom unterstützt Zweitmeinungsverfahren
  26. Nachruf für Beate Blättner
  27. Public Health Infos
Heruntergeladen am 21.10.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pubhef-2021-0093/html?lang=de
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