„Der Narzissmus der kleinen Differenzen“
-
Werner Pohlmann
Werner Pohlmann , Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker in eigener Praxis. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Psychoanalyse, Ästhetik psychotherapeutischer Behandlung, Lebenskunst.
Abstract
Freud beschreibt in seinem Aufsatz „Das Tabu der Virginität“ (1918) mit dem Phänomen des „Narzissmus der kleinen Differenzen“ eine unauflösbare Verschiedenheit zwischen den Menschen, die ihre prinzipielle Feindseligkeit begründet. An erster Stelle geht es narzisstisch um Selbsterhaltung, mit der zugleich die Abwertung alles Fremden verbunden ist. Darin zeigt sich ein Paradox: Es gibt keine Selbsterhaltung, ohne dass wir uns auf Andere und Anderes einlassen. In der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation wird der Narzissmus der kleinen Differenzen nicht mehr in einem Verhältnis zu einem diese Differenzen umfassenden Ganzen gesehen. Das paradoxe, spannungsreiche Verhältnis von unterschiedlichen Perspektiven wurde stattdessen zu einem Kampf zwischen sich absolut setzenden Identitäten, die sich beleidigt fühlen, wenn ihrem Anspruch auf Absolutheit nicht Rechnung getragen wird. Dadurch wurde das Paradox zum Ressentiment verkehrt. Ein Ausweg aus diesem Dilemma wird in Hannah Arendts Begriff der Freundschaft gesehen. Erst im politischen Gespräch unter Freunden, die sich der gemeinsamen Welt verpflichtet fühlen, kann der Dialog über differente Ansichten endlich wieder in ihrem Verhältnis zu einem in diesem Dialog entwickelten Ganzen narzisstisch besetzt werden. Dann könnten Identitäten mit ihren offenen Strukturen und der Möglichkeit eines Anders-Werden wieder in den Blick geraten.
About the author
Werner Pohlmann, Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker in eigener Praxis. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Psychoanalyse, Ästhetik psychotherapeutischer Behandlung, Lebenskunst.
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