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Stadtbibliothek Magdeburg im Umbruch

  • Peter Petsch

    Peter Petsch

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Published/Copyright: October 9, 2024

Zusammenfassung

Für die Stadtbibliothek Magdeburg waren die Zeiten nach der Wende turbulent. Einerseits musste man aufgrund der maroden Bibliotheksinfrastruktur die Chancen (z. B. Fördermittel) für die Kultur schnell nutzen, andererseits aber immer auch die Mitarbeiterschaft bei allen Neuerungen „mitnehmen“. Der eigentliche Umbruch war die Errichtung der neuen Zentralbibliothek, die allerdings mit der radikalen Verkleinerung des zu DDR-Zeiten ausgedehnten Zweigstellennetzes einherging.

Abstract

Times were turbulent for Magdeburg City Library after reunification. On the one hand, the dilapidated library infrastructure meant that cultural opportunities (e. g., funding) had to be seized quickly, but at the same time staff always had to be ‘taken along’ with all the innovations. The real upheaval was the construction of the new central library, which, however, was accompanied by a radical reduction in the branch network that had been extensive during the GDR era.

1 Einleitung

Nach der Wende 1989/90 wurde relativ zeitnah der damalige Direktor Stadtbibliothek Magdeburg in den Ruhestand verabschiedet. Seine Stellvertreterin führte interimsmäßig die Geschäfte, wollte und konnte aber mit Rücksicht auf die neu einzusetzende Bibliotheksleitung durch den demokratisch gewählten Stadtrat zunächst keine weitreichenden Entscheidungen treffen und niemandem vorgreifen.

Die bisherige Bibliotheksleitung hatte zu DDR-Zeiten – jenseits des Tagesgeschäftes – Schwerpunkte auf besondere Sammlungen (Historische Kinderbücher, Magdeburgica, DDR-Nachkriegsbelletristik, Sammlung Frühdrucke mit Magdeburgbezug etc.), einen relativ hohen Buchetat (bis zu 1 Mill. DDR-Mark) und eine breite Veranstaltungsarbeit (thematische Bibliothekssonntage z. B.) gelegt.

Als der Autor 1992 am Ende des DBI-Projektes „Marketing für öffentliche Bibliotheken“ von Bremen nach Magdeburg wechselte, brachte er die Projektresultate quasi im Gepäck mit.[1] Die Ergebnisse der Stadtbibliotheken Bremen, Bielefeld und Düsseldorf – und hier insbesondere die Nutzerbefragungen, Leistungsmessungen, Gemeinwesenanalysen und Stärken-Schwächen-Analysen – bildeten eine wichtige Grundlage bei der bevorstehenden Umstrukturierung des Magdeburger Systems.

Hinzu kamen nach erster Bestandsaufnahme unbedingt notwendige bauliche und bibliothekstechnische Infrastrukturmaßnahmen, die fast völlige Umwälzung der Buchbestände (bei gleichzeitiger Bewahrung relevanter Bestandteile), der Beginn der Digitalisierung (bei null – es gab lediglich eine einzige elektrische Schreibmaschine im Sekretariat), die retrospektive Katalogisierung (in Teilen fehlte jegliche Titelaufnahme), neue Informationsquellen und vor allem ein sich ständig änderndes Rezeptionsverhalten der Leserschaft.

Mit der Aufgabensichtung wurde als Ziel das Haus als Dienstleistungseinrichtung für alle Bürger, als Informations- und Bildungszentrum mit mehr Aufenthaltsqualität und als Kommunikationsort definiert (anstelle einer reinen „Ausleihstation“).

Der damit verbundene tiefgreifende Wandel betraf unmittelbar das Kollegium, das sich mit neuer Bibliotheksleitung, neuer Eingruppierung, neuen Berufsabschlüssen, neuer Bibliotheksstatistik (DBS), neuen Lieferanten (freier Buchhandel, ekz), neuen Verlagen, neuer Verwaltungs- und Ämterstruktur der Stadt, neuen Dienst- und Öffnungszeiten, neuer Aufgabenverteilung, neuen Stellenplänen, neuen gesetzlichen Vorschriften und Regelungen etc. auseinandersetzen musste.

Außerdem: Die völlig neue Frage nach der Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes, Vorruhestandsregelungen sowie ungewohnte Alltagssorgen durch ein neues Schulsystem, die im Umbruch befindliche Wohnsituation (mit neuen Vermietern, Auflösung von Wohnungsgenossenschaften, Sanierungen über Jahre etc.), Preissteigerungen, neues Rechtssystem, Straßennamen, Telefonnummern, Postleitzahlen und Vieles mehr.

Eine Mischung aus Unsicherheit und Zukunftsängsten einerseits und Neugier und Aufbruchstimmung andererseits entstand.

Die 90er Jahre waren zunächst mehr als ausgefüllt mit

  • Umbauten, Infrastrukturmaßnahmen, Neuausstattungen, Renovierungen, Schließungen,

  • neuen Anforderungen der Verwaltung (von Budgetierung über Personaleinsatz bis zur „Kultur als freiwillige Leistung“),

  • neuen bibliothekarischen Anforderungen wie Umsystematisierungen, retrospektiver Katalogisierung, EDV-Einführung, Integration neuer Medien, neuem Berichtswesen usw.

Selbstverständlich sollten die Umstrukturierungen in dieser Zeit immer bei laufendem Betrieb realisiert werden, Fortbildungen und Weiterqualifizierungen waren nötig. Erste konzeptionelle Überlegungen zur zukünftigen Organisationsstruktur, zur strikten Benutzerorientierung, zur Prioritätensetzung weiterhin bei den Printmedien im Bestandsaufbau etc. wurden im Kollegium breit diskutiert. Das „Leseland“ DDR war aber noch lange kein „Bibliotheksland“, das allen Vorstellungen und Anforderungen der neuen Medienwelt entsprach.

Auf die erste Phase der Iststandsanalyse und Neuorientierung Anfang der 1990er-Jahre folgte alsbald eine äußerst prosperierende zweite Phase bis zum Ende des Jahrzehnts mit breiter Förderung durch Bund und Land Sachsen-Anhalt, neuer Fahrbibliothek, neuem Kleintransporter (vorher hatten sich Bibliothek und Museum einen alten Barkas geteilt), neuen Bibliotheksmöbeln, Umbauten und Neubauten, bei denen die Bibliothekarinnen und Bibliothekare oft mehr Bauleiter als bibliotheksfachliche Kräfte waren. Gleichzeitig stand die kommunale Existenz des Hauses niemals infrage.

Diese Zeit des Aufbruchs und der Erneuerung hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Benutzerverhalten: Allenthalben stiegen die Benutzer- und Entleihungszahlen, das Haus stabilisierte sich – nicht zuletzt durch eine neue Zentralbibliothek in der Innenstadt 1999, einen neu gegründeten Freundeskreis und die breite Unterstützung durch Öffentlichkeit und Kulturpolitik in der Stadt.[2]

Die dritte Phase, beginnend mit der Jahrhundertwende, war dann geprägt durch die „Haushaltskonsolidierung“, nicht nur, aber vor allem auch im Kulturbereich: Einführung von Lesergebühren, massive Reduzierung der Fördermittel, Verteilungskämpfe innerhalb der Kultur, Erhöhung des Kostendeckungsgrades, Budgetkürzungen, Personalentwicklungspläne, Reduzierung des Buch- und Medienetats, Kürzungen beim Service usw. Dass die Leistungszahlen indessen wieder sanken, versteht sich; zumal die demografische Entwicklung (geburtenschwache Jahrgänge) mit weniger Schülern sich zusätzlich negativ auswirkte.

Dennoch erholte sich das System in den Folgejahren. Ein neuer Bibliotheksentwicklungsplan für die Stadt sicherte die Zukunft in den Nullerjahren, wenn auch mit Abstrichen und Konzessionen in Angebot und Service. Nicht zuletzt die neue Zentralbibliothek musste ab 1999 viele Aufgaben, die bisher logistisch aufwendig in der Fläche erbracht worden waren, übernehmen. Das Zweigstellennetz verkleinerte sich auf letztlich drei Stadtteilbibliotheken in innenstadtferneren Bereichen, und eine stärkere Orientierung auf die Hauptstelle erforderte mehr Mobilität der Leserschaft. Trotz einiger Proteste war insgesamt die Akzeptanz dieser neuen Einrichtungen sehr groß, nicht zuletzt aufgrund ihrer Lage, ihrer Attraktivität, erweiterter, einheitlicher Öffnungszeiten, neuer Bibliothekssoftware (bibliotheca), der verbesserten Vernetzung untereinander, der Internetzugänge u.v.m.

Der bisherige Namenszusatz (des Magdeburger Frühsozialisten) „Wilhelm Weitling“ aus DDR-Zeiten für die Bibliothek wurde per Ratsbeschluss abgelegt und dem Logo stattdessen ein „gegründet 1525“ hinzugefügt.

2 Stadtteilbibliotheken

Die 1990er-Jahre waren vor allem geprägt von Auszügen, Umzügen, Zusammenlegungen und Schließungen von Zweigstellen und Schul-/Kinderbibliotheken. Neue Vermieter mit Eigenbedarfskündigungen, über Jahre dauernde Sanierungen maroder Gebäude, exorbitante Gewerbemietforderungen, neue Langfristmietverträge möglichst über Jahrzehnte führten zu immer neuen Planungen in den Stadtteilen. Immer wieder mussten neue passende Objekte gesucht und gefunden werden. Aber Neueröffnungen und Schließungen bedeuteten nicht nur rechtzeitige Information der Leserschaft/Öffentlichkeit, sondern vorher jeweils Verhandlungen mit neuen Vermietern, Wohnungsgenossenschaften, stadtpolitische Entscheidungen dazu im Kulturausschuss, Stadtrat etc., logistische Anstrengungen wie zwischenzeitliche Unterbringung oder Entsorgung von Möbeln und Büchern, stattdessen neue passende Bibliotheksmöbel (über Fördermittelanträge) per Ausschreibungen usw.

Hier spielten plötzlich neue gesetzliche Regelungen wie Statik, Lichtverhältnisse, Barrierefreiheit für Behinderte, Brandschutz, Sanitäreinrichtungen, Fluchtwege etc. eine besondere Rolle, da immer von höheren Publikumsfrequenzen in Kultureinrichtungen auszugehen war.

Abb. 1: Zweigstellennetz der Stadtbibliothek Magdeburg 1992/93 (rot) und heute (blau)
Abb. 1:

Zweigstellennetz der Stadtbibliothek Magdeburg 1992/93 (rot) und heute (blau)

Bis dato waren die ca. 20 Stadtteilbibliotheken und „Ausleihstellen“ (meist nur stundenweise geöffnet in kleineren Stadtteilen) häufig in einfachen Altbauwohnungen und nicht in Gewerbeobjekten untergebracht, z. T. sogar in höheren Stockwerken und mit Ofenheizungen, die vom Personal bedient werden mussten. Auch Mitarbeiterbüros, Pausenräume, Teeküchen, Personaltoiletten waren die Ausnahme. Kleine, mit Vorhängen vom Publikumsbereich abgeteilte Ecken mussten hier meist ausreichen. Z. T. fehlten sogar Telefonanschlüsse. EDV und Internet waren noch Zukunftsmusik. Aber das Zauberwort „Bestandsschutz“ galt eben nur so lange, bis bauliche Veränderungen eintraten.

Allerdings spielten hier nicht nur bauliche Mängel und die kaum mehr zumutbaren Arbeitsbedingungen eine Rolle, sondern auch die Lage der Zweigstellen und die nach der Wende zunächst massiv zurückgehenden Besucher- und Entleihungszahlen. Die Bibliotheken von 1993/94 waren eben nicht mehr die Orte für die „kleinen Fluchten“, die Moratorien und Freiräume; dafür gab es nun andere Angebote.

Eine kleine Chronologie vermag das Ausmaß dieser Veränderungen (bis hin zu den von den Mitarbeitern oft selbst gepackten Umzugskartons) zu verdeutlichen, die vom Kollegium und ersten ABM-Mitarbeitern, aber auch den Ämtern des Magistrats in dieser Zeit bewältigt wurden.

Schließungen folgender Stadtteilbibliotheken:

  • Einsteinstr. (Hasselbachplatz/Altstadt): 1991 (Wiedereröffnung als Fremdsprachenbibliothek: 1992 bis 1998),

  • Uhlandstr. (Stadtfeld): 1992,

  • W. Raabestr. (Stadtfeld): 1993

  • Moritzstr. (Neue Neustadt): 1993,

  • Walbeckerstr. (Diesdorf): 1993,

  • Sieverstorstr. (Alte Neustadt): 1994,

  • Halberstädterstr. (Sudenburg): 1994,

  • Marktbreite (Neu Olvenstedt): 1996,

  • Karl-Schmidtstr./Volksbad (Buckau): 1996,

  • Gartenhof (Neu Olvenstedt): 1996,

  • Internationale Bibliothek/Fremdsprachenbibliothek (Einsteinstr./Hasselbachplatz): 1998,

  • Klosterwuhne (Nord/Neustädter See): 2003.

Schließungen folgender Schulbibliotheken:

  • Grund- und Sekundarschule W.-Busch (Kannenstieg): 1997,

  • Grundschule Stendalerstr. (Neustadt): 2000,

  • Grundschule Annastr. (Stadtfeld): 2002,

Die Patientenbibliothek in der Medizinischen Hochschule wurde 2001 dem so neu benannten Universitätsklinikum in Eigenregie übergeben.

Neueröffnungen von Stadtteilbibliotheken (jeweils mit Neuausstattung):

  • Internationale Bibliothek/Fremdsprachenbibliothek (Einsteinstr./Hasselbachpl.): 1992,

  • Olvenstedter Chaussee (Stadtfeld): 1993,

  • Wittenberger Platz (Alte Neustadt): 1994,

  • Halberstädterstr. (Sudenburg): 1995,

  • Otto-Bär-Str. (Reform), Wiedereröffnung nach Sanierung: 1995,

  • Am Stern (Neu Olvenstedt), Zusammenlegung aus Marktbreite und Gartenhof: 1996,

  • Karl-Schmidt-Str. (Buckau), Wiedereröffnung nach Sanierung: 1996 (zwischenzeitlich Ausleihe im Container),

  • Einkaufszentrum Flora-Park (Olvenstedt), nach Schließung „Am Stern“: 2004.

Das war allerdings noch nicht das Ende des „Bibliotheksreigens“ zwischen1991 und 2005, denn aufgrund weiterer Mietsteigerungen, geringer Resonanz in bestimmten Stadtteilen, der nächsten größeren Runde der Haushaltskonsolidierung um die Jahrtausendwende, die vor allem den Kulturbereich traf, und aufgrund größeren Personalbedarfs in der neuen Zentralbibliothek blieben der Stadt letztlich bis heute nur die Stadtteilbibliotheken Flora-Park (im Einkaufszentrum), Sudenburg (jedoch verkleinert) und Reform erhalten.

3 Zentralbibliothek

Die Zentralbibliothek befand sich seit den 1930er-Jahren in einer alten Freimaurervilla in der Weitlingstraße unweit des Rathauses. Sie wurde nach Zerstörung im Zweiten Weltkrieg von den Trümmerfrauen Magdeburgs notdürftig wiederaufgebaut und war in der Nachwendezeit immer noch in einem provisorischen Zustand.

Das Gebäude hatte bis 1933 der Freimaurerloge „Ferdinand zur Glückseligkeit“ gehört, war zu Beginn der NS-Herrschaft verboten, das Logenhaus enteignet und in Besitz der Stadt überführt worden. Die Stadtbibliothek zog ein, und ein Magazintrakt konnte auf der Rückseite angebaut werden. Nach dem Krieg fungierte das Haus mit knapp 1000 m² Fläche wieder als Zentralbibliothek. Freimaurerlogen waren auch in der DDR-Zeit verboten, so dass die Villa auch weiterhin im Stadtbesitz blieb.

Sie war allerdings niemals ein Zweckbau, denn sie bestand aus vielen kleinen verwinkelten Räumlichkeiten: einem repräsentativen Eingangsbereich, zwei sehr schönen Sälen im Jugendstil, von denen der größere, bereits zur Wendezeit (1988/89) renovierte „Jugendstilsaal“ jedoch als Veranstaltungssaal den Kulturveranstaltungen der Stadt vorbehalten blieb, und sehr viel „Bruttoraum“ (Flure, gefangene Räume, Treppenhäuser, Türme, Kellerräume einschließlich dort untergebrachtem Jugendclub „Ex Libris“, der längst zu einer Szenekneipe mutiert war).

Zwar wurden bis 1990 immer wieder kleinere Reparaturen und Renovierungen in Teilbereichen vorgenommen, aber insgesamt befand sich das Haus zur Wendezeit in einem maroden Zustand. Gleichwohl stand es unter Denkmalschutz. Mit Hoffnung auf Bestandsschutz einerseits, trotz aller neuen baulichen Vorschriften, und Hoffnung auf Fördermittel andererseits, wurden nach 1991/1992 sukzessive neue Fenster eingebaut, eine Brandmeldeanlage installiert, Sanitäreinrichtungen erneuert, Dächer neu eingedeckt, ein kleiner Fahrstuhl errichtet, Steigleitungen repariert, die Sanierung des zweiten großen Saales begonnen, die EDV-Verkabelung vorbereitet, eine zentrale Schließanlage eingebaut, Wände versetzt, um Räume zu vergrößern usw.

Dies alles bei laufendem Betrieb und mit dem unbestimmten Gefühl, in einem für eine Zentralbibliothek einer Landeshauptstadt viel zu kleinen Objekt zu agieren, das nicht viel mehr als eine Ausleihstation mit wenig Aufenthaltsqualität bieten konnte, obwohl täglich ca. 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort tätig waren und hunderte Besucher pro Öffnungstag gezählt wurden.

Ein jähes Ende jedoch fanden alle Bemühungen, die baulichen Defizite und Provisorien zu beseitigen, bereits 1996. Da im deutsch-deutschen Einigungsvertrag zunächst keine Regelungen über jüdisches und Freimaurereigentum getroffen worden waren, wurden im Nachgang im „Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen“ gesondert die komplizierten Besitzverhältnisse zu Enteignungen und Zwangsverkäufen während der NS-Zeit auf dem späterem DDR-Gebiet behandelt, die über die entsprechenden Landesämter zu entscheiden und abzuwickeln waren.

Dem Antrag der (übergeordneten) Mutterloge auf Rückübertragung von Grundstück und Logengebäude in Magdeburg in der Weitlingstraße wurde per Klage 1996 stattgegeben.

Von einem Tag auf den anderen war die Bibliothek plötzlich Mieter in der bis dahin eigenen Hauptstelle. Jegliche Instandsetzungs- und Modernisierungsarbeiten wurden von der Stadt sofort gestoppt und die „Investition in fremdes Eigentum“ untersagt. Die neuen/alten Besitzer verlangten (trotz aller vorherigen baulichen Anstrengungen der Stadt) eine sofortige Gewerbemiete und einen Langzeitmietvertrag – allerdings ohne jede Bereitschaft, selbst am und im Gebäude tätig zu werden.

Der Schreck darüber saß tief und führte nach kurzer Überlegung zu einem Grundsatzbeschluss im Stadtrat, Umzug und Neubau der Stadtbibliothek als Zweckbau in der Innenstadt zeitnah ins Auge zu fassen. Die Suche nach einem passenden Objekt bzw. Grundstück begann mit viel Rückenwind durch die Stadt Magdeburg.

In der Diskussion darüber spielten in der Öffentlichkeit aufgrund der immer noch recht hohen Besucherzahlen in der Hauptstelle neuerdings Marketingbegriffe wie 1A-Lage, Frequenzbringer, Belebung der Innenstadt, Ankermieter etc. eine wichtige Rolle. Wobei unter den Lokalpolitikern bereits nach kurzer Zeit die Mehrheit für ein eigenes Haus plädierte: Die fast fünfhundertjährige Geschichte und Bedeutung dieser ältesten Kultureinrichtung der Stadt, die identitätsstiftende Wirkung eines eigenen Gebäudes für die Bürger, die Sicherheit für die Zukunft und Kostenaspekte waren hier die Hauptgründe.

Das rege Baugeschehen in der Innenstadt in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre führte schnell zu Angeboten, Anfragen und Vorschlägen in der Öffentlichkeit.

Die Verkaufsofferte des Baukonzerns Bilfinger und Berger war hier besonders attraktiv: Vom Breiten Weg (Fußgängerzone) wollte das Bekleidungshaus C&A/Brenninkmeyer seinen Sitz in ein zu errichtendes Innenstadteinkaufszentrum verlegen. Das alte, aber 1991 völlig renovierte Kaufhaus sollte deshalb verkauft und durch den o. g. Baukonzern umgebaut werden. Dieser bot mit ca. 6 000 m2 Fläche auf fünf Ebenen den schlüsselfertigen Umbau zur Kultureinrichtung nach Plänen der Stadt und der Bibliothek an – zum Festpreis und termingebunden.

Besonders interessant war hier für die Stadtbibliothek nicht nur die Lage in der Fußgängerzone am Universitätsplatz mit Straßenbahnhaltestelle direkt vor der Tür, sondern auch die direkte Nachbarschaft zur Universität, zum Theater der Landeshauptstadt, zu einer Berufsschule und (damals bereits in Planung) zur neuen Musikschule „Georg Philipp Telemann“, quasi Wand an Wand mit allen Kooperationsmöglichkeiten.

Ein Quantensprung, was Lage, Größe und Arbeitsbedingungen anging. Diesem Vorschlag stimmten Oberbürgermeister, Kulturdezernat und Stadtrat Ende 1997 fast einstimmig zu. Da der Baukonzern selbst den Umbau übernahm – und nicht das städtische, völlig überlastete Hochbauamt – wurde bereits Ende 1998 das Gebäude nach vorgegebenem Pflichtenheft fristgerecht und ohne Kostenaufwuchs der Stadt übergeben und konnte Anfang 1999 eröffnet werden.

Der durchschlagende Erfolg gab allen Beteiligten recht. Die Zahlen stiegen ungeheuer, die Besucher waren begeistert, und das Kollegium war geradezu euphorisiert, vor allem weil nicht nur Bibliotheksleitung und Verwaltung den Umbau geplant hatten, sondern die ganze Mitarbeiterschaft an der Ausgestaltung des neuen Hauses bis ins Detail beteiligt war.

Die eigentliche Transformation fand so erst mit dem Umzug Ende 1998 statt. Die Aufbruchstimmung führte zu neuem Nachdenken über die eigentliche – konzeptionelle – Bibliotheksarbeit: Endlich ging es nicht mehr um Verschleiß, Ersatz, Sanierungsstau, Nachholbedarf, Ausschreibung und Vergabe, Bauplanung und Bauleitung. Der ewige Dreiklang aus DDR-Zeiten – wir hatten ja nicht (Material), wir konnten ja nicht (fehlendes Personal), und wir durften ja nicht (Partei) – war durchbrochen. Zumal auch die bibliothekarische Infrastruktur jetzt nicht mehr scheibchenweise, sondern im Schlepptau der neuen Zentrale vervollständigt werden konnte: Neumöblierung für alle Etagen einschließlich Musikbibliothek, Buchsicherungsanlage, Grundausstattung mit EDV-Hardware, OPACs, Internetanschlüsse überall, Neubestuhlung des Veranstaltungsbereiches, neue Technik in der Buchbinderei, Kleintransporter (für die Fahrten zwischen Schulen, Zweigstellen, Kindergärten, Buchhandlungen), Einrichtung der Mediathek/Videothek, vernetzte Telefonanlage, Lesegeräte für Sehbehinderte, Medienboxenprojekt für Schulen, Microfilm-Lesegeräte, neues Magazinregalsystem für den Altbestand etc.

Unter diesen veränderten Voraussetzungen mit großen, zusammenhängenden, leicht überschaubaren Flächen (5 Etagen à 600 m2), mit 2 Fahrstühlen, mit genügend Licht, passender Statik, der klaren Trennung von Publikumsbereichen einerseits und Verwaltung, Haustechnik und Magazintrakt andererseits (weitere ca. 3 000 m²) war die Zielsetzung endlich leichter zu realisieren: Die Stadtbibliothek als Dienstleister und Begegnungsstätte mit Bildungsauftrag, ein niederschwelliger, außerschulischer Lernort für alle Zielgruppen mit genügend Platz für Veranstaltungen, Lesungen, Lerngruppen, Projekte, vor allem aber für übersichtlich angeordnete Literaturbereiche.

Und heute, ca. 25 Jahre später? Die Bibliothek ist gut etabliert, bewährt am Standort und kooperiert erfolgreich mit ihren Nachbarn. Eine neue große Gesamtschule in unmittelbarer Nähe ist derzeit in Planung und wird für weiterhin hohe Besucherfrequenzen sorgen.

Zwischenzeitlich herrscht allerdings längst wieder Sanierungsbedarf: Nötig ist eine energetische Sanierung, auch wenn Fernwärme angeschlossen ist und seit 13 Jahren bereits Photovoltaik auf dem Flachdach installiert ist. Neue Fenster, neue Haustechnik, neue Klimaanlage, ein zeitgemäßer Brandschutz und die Renovierung des Backoffice-Bereiches sind dringend geboten. Darüber hinaus hat sich das Profil Öffentlicher Bibliotheken im 21. Jahrhundert verändert. Ist weniger Bestand und mehr Begegnung die Lösung?

4 Bestand

Das Narrativ, dass die Bedeutung und Größe einer Bibliothek insbesondere von der Buchmenge abhängig sei, hielt sich noch lange in den 1990er-Jahren. So hatte Magdeburg zu besten Vorwendezeiten mehr als 1 Million Medieneinheiten in den Regalen, die allerdings nur zu einem (kleineren) Teil tatsächlich eingesetzt/ausgeliehen wurden.

Bei einem damals guten Buchetat, aber relativ geringer Titelbreite und überschaubarer Jahresproduktion an Büchern mit günstigen Preisen, blieb nur die Möglichkeit, Mehrfachexemplare „auf Vorrat“ anzuschaffen und eine große Staffeltiefe anzubieten, denn westdeutsche Titel wären nur gegen Devisen zu haben gewesen. Ein Teil der Käufe wanderte deshalb gleich hinter die Kulissen und stand so bei Verschleiß, Verlust, Mehrbedarf sofort als Ersatz zur Verfügung. Dieses „ZBR“ (Zentrale Bestandsreserve) genannte Kontingent ging in die Zehntausende.

Hinzu kamen Buchgeschenke, Nachlässe, Sondersammlungen, Altbestände, Magazinbestände usw., die alle in der alten Zentralbibliothek aufgrund von Personalmangel nicht weiter katalogisiert und erschlossen worden waren, aber doch irgendwo im Magazintrakt, in Kellern, Fluren, Kabuffs gelagert werden mussten.

Eine ähnliche Lagerhaltung im Kleinen gab es auch in den Stadtteilbibliotheken (zumeist 30 000 bis 40 000 Medieneinheiten), in denen eine Makulierung nicht unbedingt die tatsächliche Entfernung des Buches aus dem Haus bedeutete, sondern häufig nur die Verlagerung aus dem Publikumsbereich. Diese aus langjähriger Erfahrung resultierende Angewohnheit (nicht nur im Bibliotheksbereich), alles aufzuheben, weil man es evtl. noch einmal benötigen könnte, war zwar in der Mangelwirtschaft gut begründet, fiel dem Haus allerdings jetzt im wahrsten Sinne auf die Füße. Zumal all diese Literatur plötzlich nicht mehr nachgefragt wurde und neue Bücher/Medien in die Regale drängten.

Was also tun, damit nicht die neue Bildzeitungsredaktion vor Ort den Untergang der Zivilisation aufgrund von „Büchervernichtung“ ausrufen würde? Die Antwort waren in den 1990er-Jahren Bücherflohmärkte, Verschenkregale, Übergabe von größeren Kontingenten an Universitätsbibliotheken (Germanistik, Pädagogik z. B.) und Forschungseinrichtungen in den alten Bundesländern, wobei immer nur Dubletten übergeben wurden. Denn es galt zunächst: Ein letztes, gut erhaltenes DDR-Exemplar bleibt grundsätzlich im System.

Bestandsaufbau und Bestandsabbau mussten unter den o. g. Platzbedingungen ins Gleichgewicht gebracht werden, zumal die Schließungen von Zweigstellen häufig weitere tausende redundante Exemplare nach sich zogen. Die Tonnenideologie schwand, und die ekz gewann an Ansehen. Neue Richtlinien zum Bestandsaufbau im Einvernehmen mit dem Lektorat, ein festgelegter (wesentlich bescheidenerer) Buchetat je nach Fachrichtung, definierte Ober- und Untergrenzen, Titelvielfalt, keine Staffeltiefe, keine Speicherung für die Ewigkeit, Printmedien weiterhin als Herzstück usw. hießen die neuen Kriterien in der Abteilung „Erwerbung und Erschließung“.

Der Diskussionsprozess dazu dauerte Jahre mit Fragen zum tatsächlichen Aufgabenbereich einer großen Stadtbibliothek – im Gegensatz zur sich ebenfalls gerade entwickelnden Universitätsbibliothek, Spezialbibliotheken, der Deutschen Bücherei in Leipzig und Frankfurt/M., der Universitäts- und Landesbibliothek in Halle (ULB) usw.

Angebot und Nachfrage sollten zwar den laut Bibliotheksplan ’73 gehobenen Bedarf abdecken, aber aufgrund der Ressourcen und der Zuständigkeiten längst nicht die ganze Bandbreite deutscher Verlagsproduktion spiegeln.

Es folgten Nutzerbefragungen (in Kooperation mit der Humboldt-Universität), detaillierte Ausleihstatistiken, Bestandsumsatzprüfungen pro Jahr, Marketingkriterien wie Aktualität, Attraktivität, Präsentation usw. – immer mit dem Ziel eines aktiv einsetzbaren Bestandes.

Diese langwierige Auseinandersetzung zu Niveaugrenzen der Angebote fand in der Nachwendezeit in einer völlig veränderten Medienlandschaft statt: Einerseits keine „Tivolisierung“ z. B. im Zeitschriftenbereich (keine Kioskware wie die ungewohnten Wochenblätter der Regenbogenpresse oder Micky Mouse im Abo), sondern neue überregionale Tageszeitungen, andererseits keine spezielle Forschungsliteratur für bestimmte Doktoranden im Lesesaal, sondern mehr Fernleihe, Verweis auf die Universitätsbibliothek etc.

Die Definition dieses tatsächlichen Bedarfs für ein Oberzentrum wie Magdeburg hatte das Ziel, den Bestand zu aktualisieren, ein Medien-, Informations- und Bildungszentrum für die Bürger der Landeshauptstadt zu schaffen und als Kultureinrichtung zu fungieren. Die Transformation bei Sach- und Fachliteratur, Nachschlagewerken, Gesetzessammlungen, aktueller regionalkundlicher Literatur, Verbraucherinformation, Belletristik Ost wie West, (später auch) elektronischen Datenbanken gelang mit Hilfe von Fördermitteln des Landes Sachsen-Anhalt und eigenem bescheidenen Buchetat nur langsam.

Verbunden mit diesem Bestandsaufbau bzw. Umbau war die schrittweise Einführung der EDV, Online-Katalogisierung statt Zettelkatalog, eine erste kostenlose Software (Allegro aus Braunschweig), Schulungen der Mitarbeiter, Umgang mit den neuen Personalcomputern ab 1994/95 kamen hinzu. Dennoch existierten beide Kataloge, OPAC und Zettelkatalog, noch Jahre nebeneinander.

Gleichzeitig begann in Absprache mit dem Arbeitsamt ab 1994 eine große mehrjährige Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur retrospektiven Katalogisierung. Nicht nur das im Freihandbestand befindliche (und per Zettelkatalog erschlossene) ausleihbare Kontingent, sondern auch die bis dato gar nicht erschlossenen Altbestände (ca. 100 000 Bände bis ins 16. Jahrhundert zurück), Magdeburgica, Sondersammlungen usw. sollten nun endlich im OPAC verzeichnet werden. Ein Kraftakt über Jahre!

Hinzu kam der Aufbau der neuen Videothek, da die Nachfrage nach Videos (später DVDs) ständig stieg und auch ein entsprechendes Unterhaltungsangebot eingefordert wurde. (Bitte zurückgespult zurückgeben!) Die Medienlandschaft änderte sich rasant, nicht nur im Periodika-Bereich, sondern auch bei den Tonträgern (Schallplatten, Tonkassetten, CDs). Auch dieses diversifizierte Medienangebot existierte noch lange mit neuen und alten AV-Beständen nebeneinander. Letztendlich standen im Freihandbereich ca. 300 000 Medieneinheiten und im Altbestand und Magazin ca. 120 000 Medieneinheiten zur Verfügung.

Im Kollegium führten die riesigen strukturellen Veränderungen in den Arbeitsabläufen nicht zuletzt aufgrund des neuen Gebäudes und der EDV-Ausstattung zu allgemeiner Neugier und Motivation: Stolz auf die neuen Bestände, mehrtägige Weiterbildungen, Praktika in der Partnerbibliothek Braunschweig, Dienstreisen, Exkursionen des ganzen Kollegiums in andere Stadtbibliotheken, Online-Recherchemöglichkeiten ließen den Wandel allenthalben spürbar werden. In den Folgejahren kamen über externe Dienstleister Fremddatenübernahme bei der Titelaufnahme, Selbstverbuchung, die Onleihe im Verbund u. v. m. hinzu.

5 Nachwirkungen der Geschichte

Nicht unerwähnt bleiben darf in diesem Zusammenhang aber eine weitere Besonderheit der Zeit: Mit der Auflösung der Sowjetunion und der neuen Unabhängigkeit ihrer ehemaligen Mitgliedsstaaten bekam die Stadtbibliothek immer wieder Signale, frühere Altbestände der Bibliothek zurückzukaufen bzw. Angebote, dass größere Bestände auf politischem Weg restituiert werden könnten, über deren Existenz seit Ende des Zweiten Weltkriegs nichts bekannt war. Insbesondere Georgien und Armenien boten die Rückgabe von „kriegsbedingt verlagertem Kulturgut“ über das deutsche Außenministerium an, nicht zuletzt, um ihre neue Westorientierung zu bekunden.

Die wertvolleren Bestände der Stadtbibliothek waren, wie in vielen anderen deutschen Städten auch, aufgrund der ab 1943 verstärkt einsetzenden Luftangriffe der Alliierten auf Magdeburg in Bergwerke, Gutshäuser, Schloss Wernigerode etc. ausgelagert worden. Sie galten seitdem als verschollen bzw. verbrannt und waren zu DDR-Zeiten ein Tabuthema.

In den Auslagerungsorten wurden sie 1945/1946, ebenso wie viele Kunstwerke der Magdeburger Museen, als Kriegsbeute von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) requiriert und in die Sowjetunion verbracht. Wertvollste Bestände wie Inkunabeln, Frühdrucke, Werke des 16. und 17. Jahrhunderts, naturwissenschaftliche Publikationen blieben wohl vor allem in Moskau, St. Petersburg, Tomsk. Andere Bestände wurden in entferntere Sowjetrepubliken transportiert und dort in Staats- und Universitätsbibliotheken integriert.

Verhandlungen über Besichtigungen vor Ort und etwaige Rückführungen liefen in diesem Zeitfenster, das auch Russland für eine kurze Zeit der Entspannung geöffnet hatte, direkt über das Außenministerium mit dem damaligen Minister Kinkel und die gesondert dafür gegründete Restitutionskommission in Berlin. So kamen 1996 aus dem früheren Altbestand Magdeburgs ca. 12 000 Bücher aus Tiflis/Georgien in äußerst desolatem Zustand nach Magdeburg zurück.[3]

Vier Jahre später folgten in wesentlich besserem Zustand aus Jerewan/Armenien weitere ca. 4 000 Bände. All diese Bestände mussten zunächst gesondert untergebracht, gesichtet, getrocknet, gereinigt, teilweise gammabestrahlt und aufgrund von Schimmelbildung in Folien isoliert werden. Eine Restaurierung kam nur für einen Teil in Betracht, da viele Bände aufgrund der Nässeschäden nicht zu retten waren.[4] Dennoch blieb ein Kostenfaktor für eine kommunal geführte Stadtbibliothek, mit dem niemand gerechnet hatte und der kaum zu stemmen war. Vorrangig wurden deshalb die ältesten, unikalen Drucke, Regionalia und Magdeburgica, Kartenwerke über Spenden, Buchpatenschaften, die Gesellschaft der Freunde der Stadtbibliothek, Toto-Lotto-Mittel restauriert. Die aus Armenien zurückgekehrten Bücher waren in gutem Zustand und konnten über die Jahre wieder in den Altbestand eingegliedert werden.

Für die Bücher aus Georgien standen nach Zustimmung des Stadtrates 2020 bis 2022 Mittel bereit, um das Konvolut zu sichten und zu begutachten. Zuvor hatte mit Fördermitteln der KEK – Koordinierungsstelle für den Erhalt des schriftlichen Kulturgutes – eine Reinigung stattgefunden. Mit dem Ende des Projektes ist nun klar, in welchem Zustand die aus Georgien zurückgekommenen Bücher sind und welchen Wert sie für die Stadt Magdeburg und die Wissenschaft haben. Auch Titelaufnahmen waren möglich. Bis die Bücher wieder in die Magazine des Altbestandes kommen und öffentlich zugänglich sind, wird indes noch viel Zeit vergehen: Die systematische Erschließung steht aus, zuvor sind in vielen Fällen aufwändige (und teure) Restaurierungen bzw. Reparaturen erforderlich.

Nach nunmehr 30 Jahren sind zwar andere Themen und Projekte auf der Agenda, die Defizite überwunden und die Startbedingungen nach der Wende zumeist vergessen, aber die Vergangenheit einer Einrichtung, die auf eine im Jahr 2025 genau fünfhundertjährige Geschichte zurückblickt, wirkt immer noch nach.

So wurden ab 2017 in einem vom Landesverband Sachsen-Anhalt im Deutschen Bibliotheksverband e. V. initiierten Projekt zur Provenienzforschung in Öffentlichen Bibliotheken auch die Historischen Bestände der Stadtbibliothek Magdeburg einer Prüfung unterzogen. Offensichtlich sind zwischen 1933 und 1945 „NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter“ auch in die Stadtbibliothek gelangt. Zwar schwer nachweisbar, weil entsprechende Quellen fehlen, belegen jedoch einschlägige Stempel, Exlibris und Namenszüge, dass auch die Bibliothek damals von den Enteignungen profitierte.[5] Dort, wo eine Enteignung zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, werden die Bücher an die Erben der einstigen Besitzer zurückgegeben.

Nach 1945 wiederholt sich der Vorgang des „Besitzentzuges“ quasi noch einmal unter sozialistischem Vorzeichen: Die Bodenreform enteignete auf DDR-Gebiet Kriegsverbrecher, Nazis, Großgrundbesitzer, Adelshäuser, nach Westen Geflüchtete, Großbauern usw. Aber eben nicht nur, wie es der Name nahelegt, Grund und Boden, sondern auch Kulturgüter aller Art. Mit dem „Erlaß zur Sicherung von Kunst und Kulturgut“ wurde dieses Inventar (Möbel, Gemälde, Bücher, Münzen, Porzellan und andere wertvolle Sammlungen) requiriert, zentral eingelagert und nach und nach an öffentliche Kultureinrichtungen verteilt (oder später sogar gegen Devisen verkauft).

Auch die Stadtbibliothek konnte mit den so zugeteilten Büchern in den 1950er-Jahren ihren durch die Kriegsverluste stark dezimierten Bestand quasi wieder „auffüllen“ und auch diesmal gibt es keine Übergabe-Protokolle, keine Akzessions-Journale und keine Provenienz-Nachweise. Geschätzt mehr als 50 000 Bände kamen damals in die Regale und waren als Kompensation und Ersatz hochwillkommen.[6] Aber bis Anfang des Jahrtausends stellten viele ehemalige Eigentümer bzw. deren Nachfahren auch hier beim „Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen“ Anträge auf Rückübertragung ihres vormaligen Eigentums. Die Bearbeitungen und Rückgaben dauern bis heute an (Prinzip Rückgabe vor Entschädigung). Wenn auch ein Großteil der Literatur als Gebrauchs- und Verbrauchsliteratur in der Öffentlichen Bibliothek längst nicht mehr existiert, im Altbestand finden sich tatsächlich noch Titel wieder. Nicht zuletzt, weil in der Katalogisierung nach der Wende auch die vormaligen Besitzer eingetragen wurden. So werden noch heute aufgrund von Gerichtsentscheidungen Bücher in verschiedenen Größenordnungen restituiert.

6 Fazit

Innerhalb von zwei Jahrzehnten nach der Wende wurde das gesamte Bibliothekssystem der Magdeburger Stadtbibliothek komplett verändert und erneuert. Wenn auch grob gesehen die Struktur mit Benutzung, Bestandsmanagement und Verwaltung erhalten blieb, so modernisierte sie doch weitgehend ihr Aussehen und ihren Auftritt:

  • völlig neue Gebäude einschließlich Zentralbibliothek, einzig die Stadtteilbibliothek Reform wurde „nur“ saniert und blieb am angestammten Platz,

  • gänzlich neue Bibliotheksmöbel und neue Büroausstattung in allen Räumen,

  • Innovation der Bibliothekstechnik inkl. Digitalstrukturen und neuer Fahrbibliothek,

  • neuer Auftritt mit intensiver Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungsangeboten, neuer Internetpräsentation,

  • völlige Umwälzung des Buchbestandes und Einführung der AV-Medien bis hin zur Onleihe.

Einzige Ausnahme bildete lediglich der Altbestand. Er blieb mit seiner bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Literatur – vor allem geisteswissenschaftlicher und regionalkundlicher Provenienz – quasi das Kontinuum des Hauses, auch wenn er heute eine wesentlich geringere Rolle spielt als zur DDR-Zeit.

Fortschritt und Verbesserung einerseits, vor allem für die Leserschaft – aber eben auch Herausforderung für das Kollegium mit einem gesamt eher konservativ/bewahrenden Berufsbild.

Habent sua fata libelli.

Über den Autor / die Autorin

Peter Petsch

Peter Petsch

Literaturverzeichnis

Deutsches Bibliotheksinstitut Berlin (1992): Die effektive Bibliothek. Endbericht des Projekts „Anwendung und Erprobung einer Marketingkonzeption für Öffentliche Bibliotheken“. Berlin: DBB.Search in Google Scholar

Kiesel, E. (2019): Die Stadtbibliothek Magdeburg. In: Erstcheck. Provenienzrecherche in fünf öffentlichen Bibliotheken Sachsen-Anhalts, hg. vom Landesverband Sachsen-Anhalt im Deutschen Bibliotheksverband, 30–47. Leipzig.Search in Google Scholar

Petsch, Peter (Hrsg.) (2000): Bücher als Beute. Zur Geschichte der Stadtbibliothek Magdeburg zwischen 1925 und 1999. Halle/Saale.Search in Google Scholar

Petsch, Peter (2005): Die Entwicklung der öffentlichen Bibliotheken in Sachsen-Anhalt. In: mb. Mitteilungsblatt der Bibliotheken in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, 131, 2–7.Search in Google Scholar

Petsch, Peter (2010): Die Rückgabe von Bodenreform-Kulturgut in der Stadtbibliothek Magdeburg. In: mb. Mitteilungsblatt der Bibliotheken in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, 142 (43), 17–19.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-10-09
Erschienen im Druck: 2024-11-22

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 15.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2024-0060/html
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