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Die politische Wende 1989–1991 und die Zusammenarbeit der Bibliotheken in Ostmitteleuropa mit LIBER

  • Esko Häkli

    Prof. Dr. Drs. h.c. Esko Häkli

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Published/Copyright: October 25, 2024

Zusammenfassung

Die Perestrojka von Michail Gorbatschow 1986 und der Fall der Berliner Mauer bedeuteten einen tiefen Umbruch in der europäischen Bibliothekslandschaft und enthüllten die Probleme der Bibliotheken in den ehemaligen sozialistischen Ländern. Mit Unterstützung des Europarates übernahm LIBER die Aufgabe, den Austausch der Information zwischen Ost und West zu organisieren und das Know-how des Westens nach Osten zu vermitteln und auf diese Weise die Einheit Europas zu fördern.

Abstract

Mikhail Gorbachev’s ‘perestroika’ in 1986 and the Fall of the Berlin Wall created a major upheaval within the European library community and revealed the problems of the earlier Soviet Socialist countries. With the support of the Council of Europe, LIBER accepted responsibility for organising the exchange of information between East and West and for furthering the unity of Europe.

1 Einleitung

Die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg in einen westlichen und einen östlichen Block schuf zwei getrennte Bibliothekslandschaften. Trotz des „Eisernen Vorhang“ lebten die Bibliotheken im Osten und Westen jedoch nicht völlig isoliert voneinander. Herkömmliche Tauschverbindungen und internationaler Leihverkehr waren wichtige Bestandteile in ihrem Alltag. Persönliche Kontakte gab es auch. Während der Vorkriegsjahre hatte man Kulturabkommen zwischen vielen Ländern abgeschlossen und offensichtlich wurden diese Verbindungen nach dem Krieg wenigstens einigermaßen fortgesetzt, vor allem zwischen den Nachbarländern, obwohl die frühere Intensität nicht erreicht werden konnte. Die Universitätsbibliothek Helsinki (heute die Finnische Nationalbibliothek) z. B. pflegte weiterhin ihre Verbindungen mit den sowjetischen Bibliotheken und man konnte auch Besuche, sowohl für einzelne Bibliothekare als auch für Gruppen, organisieren. Spontane Besuche kamen dagegen nicht infrage. Seit Mitte der 1970er-Jahre wurde die Zusammenarbeit weiter intensiviert und sogar gemeinsame buchgeschichtliche und bibliografische Projekte konnten durchgeführt werden. Kontakte mit den meisten übrigen sozialistischen Ländern waren dagegen mehr sporadisch.

Gegen Ende der 1980er-Jahre begannen aber neue Winde zu wehen. In Moskau wurde 1986 die Politik von Glasnost und Perestrojka von Michail Gorbatschow eingeführt und die sozialistischen Länder erhielten das Recht, selbst über ihre internen Angelegenheiten zu bestimmen. Die ersten, die diese neue Freiheit genutzt haben, waren im Herbst 1989 Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei; die drei baltischen Länder und die Ukraine wurden 1991 selbständig. Die DDR verschwand von der politischen Landkarte, als die Mauer am 9. November 1989 fiel und die Grenzen geöffnet wurden, was die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 ermöglichte. Das war die sog. Wende, wie Egon Krenz, der letzte Staatschef der DDR, den Umbruch nannte.

Der Übergang zu mehr freiheitlichen Verhältnissen war jedoch nicht einfach. Die größten internen Umwälzungen fanden in Jugoslawien statt. Im Sommer 1991 warf die Invasion der jugoslawischen Truppen in Slowenien und auf der anderen Seite des Adriatischen Meeres ihr Schatten auf die Generalversammlung von LIBER (Ligue des bibliothèques Européennes de recherche) in Padua. Und in Moskau erlebten die Teilnehmer der Generalversammlung der IFLA im August 1991 den sog. Putsch aus nächster Nähe. Die Sowjetunion hatte ihre Satelliten verloren und Ende 1991 endete auch die Existenz der Sowjetunion.

2 Wissenschaftliche Bibliotheken und Änderungen im Osten

Für die Bibliotheken in den sozialistischen Ländern war die Perestrojka eine unerwartete Umwälzung. Mit dem Kollaps des Kommunismus gerieten die existierenden Strukturen ins Wanken. Man wusste nicht mehr, wer für was zuständig ist und wie die Verwaltung nun zu organisieren sei. Die straff hierarchischen Strukturen wurden aufgelöst, nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch innerhalb der Netzwerke der Bibliotheken. Deshalb hatten die Bibliotheken große Schwierigkeiten, sich in der neuen Situation zu orientieren. Die kommunistische Ideologie hatte sie zu ihrem Denkmuster gezwungen; neben ihren normalen Aufgaben waren die Bibliotheken zu Unterstützern und Förderern der herrschenden Ideologie gemacht worden. Jetzt waren sie aber mit ihren Problemen allein.

Für die meisten Kollegen im Osten waren die westlichen Länder mehr oder weniger eine Terra incognita, obwohl man sich darüber im Klaren war, dass die Bibliotheken im Westen weiter entwickelt waren. Es hatte sog. Reisekader gegeben, die beruflich und geplant in das nichtsozialistische Ausland reisen und auch an den Tagungen der internationalen Organisationen wie IFLA, FID und UNESCO teilnehmen durften. Die sozialistischen Länder wurden schon früh Mitglieder der IFLA, z. B. die Sowjetunion 1959 und die DDR 1964. Als es seit 1976 auch für Bibliotheken möglich wurde, in einer eigenen Kategorie Mitglieder zu werden, haben einige Bibliotheken diese Option genutzt. Einzelne Bibliothekare arbeiteten sogar im Dienst dieser Organisationen. Ab und zu hielten die Organisationen ihre Tagungen auch im Ostblock ab, z. B. organisierte IFLA vor der Wende insgesamt sieben Jahresversammlungen in Ländern des Ostblocks, die letzte 1991 in Moskau.

Im Westen war die Aufgabe, ein realistisches Bild von der Lage „drüben“ zu schaffen, auch nicht leicht, weder für einzelne Bibliothekare noch für einzelne Programme. Auch wenn es Kontakte zwischen Ost und West gegeben hatte, konnte es den westlichen Bibliothekaren kaum gelingen, ein realistisches Bild hinter die Kulissen zu werfen. Somit gab es im Westen keine richtige Vorstellung von den Voraussetzungen bei den Bibliotheken im Osten. Und ein solches Bild konnte vor der Wende nicht entstehen. Nicht einmal die gemeinsamen Tagungen ermöglichten für die Teilnehmer, mit der Entwicklung der Bibliotheken des Gastlandes bekannt zu werden. Z. B. wurde die IFLA-Tagung 1978 in der Tschechoslowakei in Štrbské Pleso, einem Wintersportort in der Hohen Tatra, veranstaltet. Dort hatten die Teilnehmer keine Möglichkeit, das normale Leben des Landes kennenzulernen. Während des Konferenzausflugs in den Osten des Landes erfuhren die Teilnehmer dagegen von Problemen, die laut den Reiseführern von der dortigen ungarischen Minderheit verursacht wurden!

Es gab aber auch andere, mehr prinzipielle Gründe, warum die westlichen Besucher nicht ausreichend informiert werden konnten. Im Rahmen der Besuche und gemeinsamen Tagungen lieferten die örtlichen Vortragenden deskriptive Beschreibungen von ihren Verhältnissen und wollten lieber nur positive Seiten ihrer Situation hervorheben, weil sie keine andere Wahl hatten; es war ja nicht erlaubt, in Anwesenheit westlicher Ausländer Kritik an den eigenen Verhältnissen zu üben. Wir hätten deshalb glauben sollen, dass die sozialistische Gesellschaft die Bibliotheken wohl in ihre Obhut genommen hatte. Ein Hindernis bildeten auch die Sprachprobleme. In der DDR hatten wir keine Sprachprobleme, weshalb z. B. der Verfasser dieser Zeilen schon früh viele persönliche Kontakte hatte, die von der Politik nicht belastet waren. Natürlich habe ich verstanden, dass die Beziehungen zwischen den großen Bibliotheken in der DDR nicht immer nur Sonnenschein waren. Aber wo waren sie?

In der Sowjetunion waren die Vorgaben so überwältigend, dass man Zeit brauchte, die erhaltene Dosis zu verdauen. Möglichkeiten, sich außerhalb des festgelegten Programmes zu bewegen und auf eigene Faust auf „Entdeckungsreise“ zu gehen, waren begrenzt. Normale, spontane Zusammenarbeit konnte auf diese Weise natürlich nicht entstehen, obwohl schon diese Kontakte sehr wertvoll waren. Im Hinblick auf die spätere Entwicklung war es wichtig, dass Kollegen sich auf diese Weise kennenlernen konnten. Es war schade, dass nur eine kleine Minderheit der Bibliotheken und Bibliothekare daran beteiligt waren.

Schon vor der Wende konnte die Zusammenarbeit erfolgreich sein. So wurde 1987 im Rahmen der finnisch-sowjetischen Zusammenarbeit ein großes bibliografisches Projekt auf dem Gebiet der finno-ugrischen Forschung eingeleitet. Obwohl das Projekt alle Umwälzungen in der Sowjetunion jener Jahre erleben musste, war es ein Erfolg. Dieser war so groß, dass Michail Gorbatschow die Ergebnisse während seines Staatsbesuches in Finnland 1989 in seiner Rede hervorheben und als „eine einzigartige Arbeit“ beschreiben wollte: „Die [diese Arbeit] ist ein Beispiel von einem gemeinsamen sowjetisch-finnischen Einsatz auch für die humanistische Kultur der Welt.“ Selten hat eine Bibliografieprojekt ähnliche Aufmerksamkeit erlebt!

3 Die neue Zeit beginnt

Die politische Wende eröffnete Möglichkeiten, wieder Kontakte über die Grenzen auf eine normale Weise zu knüpfen. LIBER, die Vereinigung der europäischen wissenschaftlichen Bibliotheken, übernahm die Aufgabe, diese Kontakte zu fördern, und zwar mit Unterstützung des Europarates. Der Europarat (Council of Europe) war die erste zwischenstaatliche Organisation, die auf die Veränderungen in Ost- und Mitteleuropa reagierte. Schon seit der Mitte der 1950er-Jahre hatte sich der Rat aktiv mit den Verhältnissen in den sozialistischen Ländern Europas beschäftigt und 1955 eine Resolution zur Europäischen Einheit verabschiedet. Im Jahr 1985 hatte der Ministerrat des Europarates eine „Ostpolitik“ beschlossen, gefolgt von den Guidelines, einem konkreten Programm, im Jahre 1987. Die Absicht war, individuelle Lösungen für jedes Land zu entwickeln.

Bald nach 1989 wurden die meisten osteuropäischen Länder Mitglieder des Rates für kulturelle Zusammenarbeit des Europarates (Council for Cultural Co-operation). Das war die erste Voraussetzung für die Bibliotheken, Mitglieder von LIBER zu werden, was der Europarat für wichtig hielt. Um das zu ermöglichen, revidierte LIBER 1989 seine Statuten. Trotz seiner begrenzten Möglichkeiten und seiner eigenen Prioritäten bewilligte der Europarat mehrmals LIBER finanzielle Unterstützung, damit der Verband seine Projekte durchführen konnte. Die Beträge waren zwar keineswegs üppig. Dazu kam noch, dass der Beantragungsprozess jedes Mal kompliziert war und wiederholte Reisen nach Straßburg voraussetzte, was die konkrete Planung der Arbeit erschwerte. Die Vertreter des Rates versuchten jedoch mit allen Mitteln, LIBER zu helfen und konkrete Lösungen zu finden, um sicherzustellen, dass die Unterstützung bewilligt werden konnte. Der Europarat war jedenfalls die einzige offizielle Quelle für derartige Unterstützungen. Außerdem war LIBER unter der Schirmherrschaft des Europarates 1972 gegründet worden.

Die frühen Kontakte des Europarates mit den sozialistischen Ländern hatten große Erwartungen unter den westlichen Bibliotheken geweckt. Nach der Wende stellte man sich sogar vor, dass der Rat in der Lage wäre, die Entwicklung der Bibliotheken in den ehemaligen sozialistischen Ländern auch finanziell zu unterstützen. Der Rat war aber eine beratende Organisation, die vor allem für den Schutz der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtstaatlichkeit arbeitete. Seine finanziellen Möglichkeiten waren begrenzt. Auch waren seine Hände schon mit der Arbeit am Wiederaufbau der gesellschaftlichen Strukturen im Osten voll beschäftigt. Und weil Bibliotheken keinen eigentlichen Platz in der Tätigkeit des Europarates hatten, wurde die praktische Verantwortung für die Bibliotheksentwicklung auf die Schultern von LIBER gelegt. Seitens des Europarates ließ man verstehen, dass sich LIBER zu einer pan-europäischen Organisation entwickeln solle. LIBER hatte nichts dagegen, aber um Verantwortung für die konkrete Entwicklungsarbeit zu übernehmen, war der Verband nicht besonders gut gerüstet, weil seine Aktivitäten sich auf die freiwillige Mitarbeit seiner Mitgliedsbibliotheken stützte. Was LIBER an erster Stelle zu organisieren versuchte, waren Informationsbeschaffung und -vermittlung samt dem Aufbau von Kompetenzen und Kontakten.

Nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war und es wenigstens im Prinzip für die östlichen Bibliothekare möglich wurde, Kontakte mit Kollegen im Westen aufzunehmen, dauerte es eine Weile, bevor die Dinge sich zu bewegen begannen. Im Osten hatte man genug mit den internen Problemen in der neuen Situation zu tun und wusste auch nicht, wie und mit wem man sich im Westen hätte in Verbindung setzen können. Wenigstens offiziell hatte es auch starke ideologische Vorurteile gegeben, die die Annäherung an die Partner auf der anderen Seite psychologisch erschwerten. LIBER hatte z. B. in dem in der DDR veröffentlichten Lexikon des Bibliothekswesens den politischen Stempel bekommen: „Die Organisation ist somit in die politischen und ökonomischen Zielsetzungen des westeuropäischen Imperialismus integriert.“[1] Zuerst mussten also derartige politische Vorurteile überwunden werden, auch wenn sie von den östlichen Kollegen vielleicht nicht immer so ernst genommen worden waren.

Obwohl der Westen die einzige Richtung für die ostmitteleuropäischen Bibliotheken war, aus der sie neue Orientierung und eventuell auch Hilfe zu bekommen wünschen konnten, war es die Sache des Westens, die Initiative zu ergreifen und einen effizienten Informationsaustausch zwischen den Blöcken einzuleiten. Von Anfang an war es – allen Vorurteilen zum Trotz – deutlich, dass es einen großen Wissensdurst unter den Kollegen im Osten gab. Auch wusste, oder wenigstens ahnte man, dass die östlichen Bibliotheken finanziell vernachlässigt worden waren, vom Zugang zu den notwendigen Devisen mal ganz zu schweigen.

Es waren mehrere Akteure, die teils schon vor der Wende den Bibliotheken im Osten helfen wollten. So startete die Library Association in England ihre Programme 1984 in Polen und 1985 in Ungarn. Der britische staatliche Fonds Know-how Fund for Central and East Europe finanzierte 1990–1992 Studien über die Lage des Buchwesens, die auch die Bibliotheken umfassten. Die Länder, die untersucht wurden, waren Bulgarien, die Tschechoslowakei, Polen, Rumänien und Ungarn. Die Absicht war, eine Analyse der Situation vorzunehmen und konkrete Vorschläge an die Regierungen zu unterbreiten. Weiter versuchte man, den Ländern auch ganz konkret zu helfen, z. B. bei der Vorbereitung von Anträgen an die Weltbank.

Die Organisation, die die weiteste Kontaktfläche aufbauen konnte, war LIBER. Als Erstes veranstaltete sie im November 1990 in Bremen, mit Unterstützung des Europarates, ein Seminar zum Thema Mikroformen, weil der Zustand der Bestände in den östlichen Bibliotheken ein großes Problem war.

Auf ihrer Jahresversammlung von LIBER 1990 in Edinburgh, einige Monate vor Bremen, standen die Bedürfnisse der Bibliotheken im Osten auf der Tagesordnung. Als konkretes Ergebnis wurde das Programm Adopt a Library angenommen. Die Mitgliedsbibliotheken wurden ermuntert, sog. Patenbibliotheken in den östlichen Ländern zu wählen und deren Mitgliedsbeitrag zu bezahlen. So bezahlte z. B. meine Bibliothek Mitgliedsbeiträge für drei Bibliotheken (St. Petersburg, Tallinn/Reval und Tartu/Dorpat). Leider erwies sich diese Initiative nicht als sehr erfolgreich, weshalb man auch andere Finanzierungsquellen suchen musste.

Als ihre erste und vielleicht die wichtigste Aufgabe sah LIBER die Informationsbeschaffung und -vermittlung wie auch die Förderung von direkten Kontakten zwischen Ost und West an. Auf der einen Seite wollte man ein möglichst umfassendes Bild von den Problemen der Bibliotheken in den ehemaligen sozialistischen Ländern bekommen und diese Information an Bibliotheken und andere relevanten Organisationen im Westen sowie an den Europarat vermitteln. Es war aber nicht die Aufgabe von LIBER, materielle Hilfe zu liefern, obwohl die Bibliotheken sie dringend benötigt hätten.

Während des Winters 1991–1992 beschäftigte sich LIBER mit Vorbereitungen eines Programms für die Vermittlung von Know-how aus dem Westen für den Osten. Deshalb wurden im September 1991 die Direktoren der Nationalbibliotheken in den ehemaligen sozialistischen Ländern gebeten, eine vorläufige Analyse der dringendsten Probleme in ihren Bibliotheken und Ländern vorzubereiten.

Im November 1991 wurde eine Arbeitsgruppe (Task Force) für die Weiterführung der Arbeit eingesetzt.[2] Als erstes Resultat lag im Februar 1992 das Program for Cooperation with Research Libraries in Central and Eastern Europe vor und wurde vom LIBER Executive Board angenommen.[3] Auf der praktischen Ebene konzentrierte sich das Programm auf die ersten konkreten Schritte, um Kontakte aufzubauen und den Dialog zwischen den Kollegen in Ost und West anzuregen. Außerdem hatte man die Absicht, eine Reihe von Seminaren zu veranstalten, um für möglichst viele Bibliothekare im Osten die Teilnahme zu ermöglichen. Das Dokument wurde sowohl für interne Zwecke als auch für die Verhandlungen mit dem Europarat benutzt. An den Europarat richtete man den Vorschlag, eine zwischenstaatliche Konferenz zu veranstalten, um die Probleme der Informationsversorgung im Hochschulwesen und der wissenschaftlichen Forschung in Mittel- und Osteuropa zu behandeln. Hier bezog man sich auf die soeben veröffentlichten Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Leider konnte dieser Gedanke aber nicht verwirklicht werden.

Die Arbeitsgruppe sollte weiter Verbindungen mit den Bibliotheken im Osten aufbauen, mit ihnen Programme für die Zusammenarbeit entwickeln sowie nach Mitteln für die Finanzierung von Projekten suchen. Auch fand man es wichtig, Expertise unter den Mitgliedern der LIBER für die Zusammenarbeit zu aktivieren. Um die Teilnahme der östlichen Bibliotheken zu erleichtern, setzte das Programm bei ihnen nicht voraus, dass sie Mitglieder von LIBER waren, obwohl das selbstverständlich wünschenswert gewesen wäre. Weiter wurde empfohlen, dass die existierenden Arbeitsgruppen von LIBER ihre Sitzungen nach Möglichkeit in den östlichen Ländern abhalten sollten.

Weil LIBER 1991 finanzielle Unterstützung vom Europarat erhielt, konnten sieben Vertreter ostmitteleuropäischer Bibliotheken an der Jahresversammlung in Padua teilnehmen. Das zeigte, wie hoch der Europarat die Bedeutung der direkten persönlichen Kontakte schätzte; im Prinzip konnte man normalerweise keine Unterstützung für die Teilnahme an Konferenzen bewilligen.

4 Im Kampf um Erneuerung

Allmählich war es LIBER gelungen, sich einen ziemlich guten Überblick über die Lage der Bibliotheken in den ostmitteleuropäischen Ländern zu verschaffen. Auf der Basis der Antworten der Direktoren der Nationalbibliotheken ergab sich ein trostloses Bild. Die Bibliothekare wussten nicht, wie sie ihre Bibliotheken in der neuen Situation, ohne zentrale politische Steuerung, leiten sollten. Um die Probleme bewältigen zu können, hielt man eine vielseitige Ausbildung im modernen Bibliotheksmanagement inklusive des Erwerbs von Sprachkenntnissen für notwendig. Zu den größten Problemen gehörte auch der Mangel an persönlichen Kontakten außerhalb des ehemaligen sozialistischen Gebiets.[4]

Gerade wegen der Probleme in der praktischen Bibliotheksarbeit setzten die Direktoren die persönliche Begegnung mit Kollegen aus dem Westen an die erste Stelle ihrer Wunschliste. Die Teilnahme an den normalen LIBER-Tagungen und Arbeitsgruppen fanden auch die östlichen Kollegen wichtig. So finden wir schon 1989 unter den Vortragenden in der Generalversammlung in Kopenhagen mit Friedhilde Krause eine Teilnehmerin aus der DDR.[5] Unter den ersten aktiven waren Kollegen aus Slowenien, die u. a. mit ihren Beiträgen in der Zeitschrift von LIBER mitwirkten; allmählich wuchs die Anzahl der Beiträge auch aus anderen östlichen Staaten.[6]

Als eine erste größere Veranstaltung bereitete die Arbeitsgruppe ein Seminar als Pre-Conference der Generalversammlung von LIBER im Juni 1992 in Budapest zum Thema Management vor. Dieser Workshop on Library Management war gut besucht und so geplant, dass die Teilnehmer auch der Generalversammlung beiwohnen konnten. Während des Seminars wurden u. a. Vorschläge zur Vermittlung von Know-how mit konkreten Aktivitäten diskutiert.[7] Verschiedene Aspekte der Bedürfnisse wurden eingehend analysiert und ein Programm vorbereitet, wie man weiter verfahren sollte. Der Rat für kulturelle Zusammenarbeit des Europarates war auch beteiligt.

Vor der Wende hatte das wissenschaftliche Bibliothekswesen in den sozialistischen Ländern eine klare organisatorische Struktur aus getrennten organisatorischen Netzwerken innerhalb der verschiedenen Bibliothekskategorien gehabt, besonders folgende drei:

  • Bibliotheken und Informationsdienste als Dienstleister der Forschung und Industrie. Zu dieser Kategorie gehörten auch Bibliotheken und Informationszentren der Akademien der Wissenschaften, die der Grundlagenforschung dienten.

  • Allgemeine wissenschaftliche Bibliotheken, wie National- und Landesbibliotheken, die direkt dem Unterrichtsministerium untergeordnet waren.

  • Universitätsbibliotheken, die hauptsächlich Dienstleister der „undergraduates“ (der grundständigen Studiengänge) waren.

In der neuen Situation musste man sich natürlich fragen, welche Rolle die alte Struktur zukünftig spielen sollte. Es wurde jedenfalls deutlich, dass die bisherigen Strukturen erneuert werden mussten. Die Universitätsbibliotheken konnten z. B. nicht zu wissenschaftliche Bibliotheken umgebaut werden, bevor ihre Universitäten nicht die Aufgabe, wissenschaftliche Forschung zu betreiben, wiedererlangten.

Die organisatorischen Fragen waren fest mit der Finanzierung verbunden. Die Informationsdienste waren besser als alle wissenschaftliche Bibliotheken mit Ressourcen ausgestattet gewesen, weil man der Meinung war, dass sie konkret zum Wohlstand ihres Landes beitrugen, ohne irgendeine politische Gefahr zu verursachen. Die Bibliotheksdienste der Gesellschaftswissenschaften und Humanwissenschaften dagegen waren nur notdürftig finanziert, so dass sie nur auf Sparflamme liefen, um gerade so weiterbestehen zu können. Ansonsten waren die Voraussetzungen ihrer Tätigkeit kompliziert. Ihr Erwerbungsetat war sehr begrenzt, die Anschaffungen der ausländischen Literatur wurden in den meisten Ländern durch Vermittlung einer zentralen Behörde bewerkstelligt, und verbotene Titel mussten aussortiert und unzugänglich in einen geschlossenen „Spetschran“ (Giftschrank) gestellt werden.

Weil die östlichen Länder mitten im Umbruch waren, hatten die Bibliotheken keine Vorstellung davon, wie sie ihre Probleme hätten lösen und gleichzeitig ihre materiellen Voraussetzungen sichern können. Sie wussten nicht, wie das Bibliothekssystem in der veränderten Situation zu organisieren sei, weil die ideologischen Prinzipien, die ihre bisherige Arbeit bestimmt hatten, ihre Gültigkeit verloren hatten. In Russland z. B. war man der Meinung, dass dieser Umbruch nur mit der Revolution der Bolschewiken 1917 vergleichbar sei.[8]

Die Entwicklung während und nach der Wende wies, trotz der Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, auch eine Reihe gemeinsamer Züge auf. Als die zentralisierte und hierarchische Struktur aufgelöst wurde, stand man in der Folge vor mehreren Kernproblemen: Vor allem musste man klären, was die Dezentralisierung und die zunehmende Autonomie der Institutionen, die Folgen der Reduzierung der öffentlichen Finanzierung sowie die Auflösung, Zusammenlegung und Privatisierung einzelner Institutionen bedeuten würde. Dazu kam noch, dass es Institutionen gab, die auf irgendeine Weise noch mit den alten politischen Strukturen verbunden waren. Die frühere zentrale Planung war aber meistens noch nicht neu organisiert worden, um den Bibliotheken bei der strategischen Planung behilflich sein zu können.

Die Lage der Bibliotheken fand auch Aufnahme in die Tagesordnung der höchsten Gremien des Europarates, als Stig Gustafsson aus Schweden der Parlamentarischen Versammlung diese Thematik vorlegte.[9] Die Versammlung gab in Februar 1992 ihre Empfehlungen sowohl an den Europarat als auch an die Regierungen der Mitgliedsländer ab und ermunterte sie, den östlichen Ländern behilflich zu sein.[10] Der Text der Empfehlung konzentrierte sich auf die Voraussetzungen der wissenschaftlichen Arbeit und auf die Lage der Archive und Bibliotheken. Man war auch über die Gefahr besorgt, dass ihre Bestände allzu stark von politischen Zeugnissen gesäubert werden könnten.

Mit Unterstützung des Europarates veranstaltete LIBER im Januar 1993 zwei ganztägige Seminare mit dem Thema Bibliotheksautomatisation, das eine in Prag und das andere in Warschau. Bei den Veranstaltungen war LIBER von zwei Experten vertreten und die ostmitteleuropäischen Länder je von etwa 60 Personen, also insgesamt 120 Personen, die aus verschiedenen Teilgebieten der Länder kamen. Neben ihren eigenen Vorträgen beantworteten die Vertreter der LIBER Fragen und fungierten de facto als Katalysatoren, die die Teilnehmer inspirierten, ihre Probleme in den Veranstaltungen zu artikulieren. Das führte zu lebhaften Diskussionen. Veranstaltungen dieser Art waren die effektivste Weise, um die wirklichen Probleme zu behandeln.

Neben den Problemen in einzelnen Ländern konnte man auch erkennen, wie unterschiedlich die Situation in den Ländern eigentlich war, nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen den verschiedenen ehemaligen sozialistischen Ländern. Leider konnte nur ein kleiner Teil der Kollegen der betreffenden Länder an diesen Veranstaltungen teilnehmen. Es scheint nämlich, dass erst diese Seminare für die meisten dortigen Kollegen die Möglichkeit eröffneten, Informationen über die Landesgrenzen hinaus offen auszutauschen. Bis dahin hatten sie auch untereinander nur sehr spärliche Kontakte gehabt. Jetzt aber hatten sich die Augen sowohl im Osten als auch im Westen geöffnet. Ein enormes Informationsbedürfnis wuchs im Osten, dem sich die aktiven Teilnehmer aus dem Westen beinahe hilflos gegenüber fühlten, obwohl sie wirklich helfen wollten.

Einige Monate später, im Mai 1993, wurde in Bratislava ein Seminar (Workshop) zum gleichen Thema Bibliotheksautomatisation mit etwa 40 Teilnehmern aus den ehemaligen sozialistischen Ländern veranstaltet. Der hauptsächliche Veranstalter war die Working Group for Library Automation von LIBER mit Unterstützung einiger Mitglieder des Executive Board. So war auch der Autor dieser Zeilen dabei und konnte mit eigenen Augen feststellen, wie schwierig es war, Vortragende aus dem Osten zu finden. In den Vorträgen behandelten die Vertreter der LIBER grundlegende Fragen der Bibliotheksautomatisation und Entwicklung von Netzwerken. Die Vorträge der Vertreter der ehemaligen sozialistischen Länder beschrieben u. a. die Entwicklung in ihren Ländern, in Polen, Slowenien und der Tschechoslowakei. Ermuntert von der gelungenen Veranstaltung fand man es wichtig, weitere Seminare sowie auch Besuche in westlichen Bibliotheken zu organisieren.

In der Zwischenzeit war LIBER zu dem Schluss gekommen, dass Programme für die ost- und mitteleuropäischen Kollegen in das normale Programm von LIBER integriert werden mussten, besonders für den Fall, dass der Europarat sie weiter unterstützen würde. Als die Vertreter von LIBER das Sekretariat des Europarates im November 1994 besuchten, waren die Bibliotheken jedoch nicht mehr im Programm des Europarates; trotz der erfolgreichen Veranstaltungen und ihrer überaus positiven Aufnahme konnte der Europarat nicht mehr behilflich sein. Für 1994 hatte LIBER noch zwei größere Seminare geplant, das eine zum Thema Standards für Bibliotheksgebäude und das andere zum Thema Konservierung. Beide Themen waren von großer aktueller Bedeutung. Auf der Liste befanden sich auch zwei oder drei kleinere Seminare. Bedürfnisse also gab es genug.

5 Konkrete Fragen des Alltags warten auf Lösungen

Die Unterschiede zwischen den Voraussetzungen der wissenschaftlichen Bibliotheken in Ost und West waren zu einem großen Teil während der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, somit kein Ergebnis der Wende, was u. a. ein russischer Bibliothekar betonte. Die Probleme waren im Laufe der Jahre unter dem kommunistischen Regime entstanden, jetzt kamen sie nur ans Tageslicht.

Während die Wende im Westen als eine Normalisierung der Situation betrachtet wurde, bedeutete sie für die Bibliothekare im Osten ein Neuanfang mit großen Anstrengungen, um ihre Bibliotheken zu modernisieren und teilweise sogar wieder aufzubauen. Die Bibliothekare wussten, dass sie kämpfen mussten, um ihre Ziele zu erreichen, weil die Bibliotheken nicht die einzigen Institutionen waren, die Unterstützung aus dem knappen Staatshaushalt benötigten. Um besser gewappnet zu sein, versuchten sie sich selbst darüber klar zu werden, nach welchen Prinzipien ihre Situation entwickelt werden könnte. In dieser Frage versuchte LIBER, ihnen möglichst viel Hilfe anzubieten.

Von den konkreten Problembereichen überschattete der Zustand der Buchbestände alle anderen. Er umfasste drei Fragekomplexe:

  1. Der physische Zustand der vorhandenen Bestände,

  2. Die inhaltliche Zusammensetzung der Bestände,

  3. Die Raumprobleme und Probleme der Bibliotheksgebäude.

Wegen der Magazinverhältnisse und der schlechten Qualität des Papiers, auf dem die Bücher in den sozialistischen Ländern gedruckt wurden, war der Erhalt der Buchbestände ernsthaft gefährdet. Die existierenden Bestände mussten gerettet werden. Deshalb hatten ihre Konservierung, neue und geeignete Buchmagazine sowie die Verfilmung höchste Priorität. Hier ging es sogar um den Erhalt des gemeinsamen europäischen kulturellen Erbes. Als die Organisation der europäischen Nationalbibliothekaren CENL eine Tagung für die Direktoren der Nationalbibliotheken in den ehemaligen sozialistischen Ländern 1991 in Wien abhielt, waren Erhaltung und Bewahrung der Buchbestände die hauptsächlichen Themata.

Dieselbe Besorgnis wurde auch im Schlussdokument des Krakauer Symposiums im Juni 1991 zum Ausdruck gebracht, wo die Teilnehmerstaaten der KSZE[11] in ihrem gemeinsamen Schlussdokument dieselbe Frage hervorhoben:

Sie [die Teilnehmerstaaten] werden bemüht sein, die Lagerbedingungen von vergänglichem kulturellen Material, wie Papier, Filmen und Tonträgern zu verbessern sowie nationale Programme für die Erhaltung von vergänglichem kulturellem Erbe zu erstellen und gemeinsam Normen für alle Arten von Trägern kultureller Produkte zu vereinbaren, um den Fortbestand solcher kultureller Gegenstände zu sichern.[12]

Hinter dieser Stellungnahme standen, wenigstens nominell, die mittel- und osteuropäischen Staaten, nicht die Bibliotheken.

Das zweite große Problemfeld war die Zusammensetzung der Buchbestände. Aus dem westlichen Ausland hatte man kaum etwas anderes als einige Zeitschriften erwerben können. Nach der Wende hatte man ähnliche Probleme mit der Literatur aus den anderen ehemals sozialistischen Ländern. Nicht einmal aus dem eigenen Land konnten die Bibliotheken ausreichend Literatur anschaffen. Dazu kam, dass die Bestände von großen Mengen kommunistischer Literatur und Propaganda dominiert waren, die gezielt ausgesondert werden mussten, was viel Arbeit und gründliche Überlegung verlangte. Das umgekehrte Problem bildeten die früher verbotenen Bücher, die aus den „Spetschran“ (Giftschränken) zurück in die normalen Sammlungen gestellt werden mussten.

Was war zu tun? Erstens hätte man die alten Lücken in den Beständen füllen müssen, die teils aus ideologischen Gründen, teils aus dem Mangel an Devisen entstanden waren. Zweitens wäre es wichtig gewesen, die Entstehung neuer Lücken zu vermeiden, um die stark angestiegene Nachfrage nach Informationen aus internationalen Quellen befriedigen zu können. Beides setzte mehr Geld voraus, als zur Verfügung stand. Hier spielten die Tauschverbindungen mit den westlichen Bibliotheken eine wichtige Rolle, wie auch direkte Buchgeschenke.

Ein starkes Interesse unter den östlichen Bibliothekaren bestand selbstverständlich an der Entwicklung der neuen Bibliothekstechnik. Die Bibliotheken arbeiteten noch mit den Methoden, die sich während der vergangenen Jahrzehnte bewährt hatten. Besonders die elektronische Datenverarbeitung hatte bei Neuanfang eine hohe Priorität. Man hatte aber kein Geld und die notwendige Expertise war in den Bibliotheken lückenhaft, obwohl es sogar hervorragende Ausnahmen gab, was u. a. aus Aufsätzen in der LIBER-Zeitschrift hervorgeht.[13] Gerade diese Probleme wurden von LIBER bei seinen erfolgreichen Veranstaltungen thematisiert.

Eine andere Schlussfolgerung aus der Ist-Analyse war, dass das existierende Personal dringend eine Ausbildung in moderner Bibliothekslehre benötigte. Die Arbeitsverhältnisse waren immer noch schwierig und als Erbe aus der sozialistischen Zeit hatten weder die Bibliotheken noch die Bibliothekare ein gutes Renommee, was ihre Bestrebungen zusätzlich erschwerte. Das Personal musste dringend weitergebildet und der Mangel an ausgebildetem Personal beseitigt werden. Die Sprachprobleme empfand man als ein großes Hindernis, besonders die fehlenden Kenntnisse der modernen westlichen Bibliotheksterminologie, was das Verstehen der Bibliotheksliteratur erschwerte.

Aber wie sollten die notwendigen Maßnahmen finanziert werden? Die Lage der Staatsfinanzen in den ostmitteleuropäischen Ländern war schon lange, aber besonders nach 1989, schwieriger geworden. Deshalb hatten die Regierungen die Bibliotheken nicht gebührend finanzieren können, obwohl ihre Bedürfnisse gerade in dieser Situation sehr wohl motiviert waren: neue und bessere Magazinräume und sogar neue Gebäude, Wiederaufbau der Bestände, neue Bibliothekstechnik und Ausbildung des Personals. Deshalb hat man in der neuen Situation in einigen Ländern eine externe Finanzierung als neue Quelle einsetzen wollen, um wenigstens begrenzte Bedürfnisse zu finanzieren, um z. B. neue Technik zu kaufen. Als Geldgeber waren u. a. das private Unternehmen OCLC, die amerikanische Mellon Foundation und die Weltbank aktuell. Hier versuchten LIBER und ihre Mitglieder, nach ihren Möglichkeiten behilflich zu sein.

Trotz der enormen Sachprobleme war bei den Bibliotheken die Auffassung vorherrschend, dass es ganz besonders große Defizite auf dem Gebiet des Managements gab. Zu diesem Schluss kamen auch die Teilnehmer des Seminars in Bratislava 1993, wo eigentlich Bibliotheksautomatisation das Thema war. In den gleichen Zusammenhang gehörte auch die schon erwähnte Aus- und Weiterbildung des Bibliothekspersonals. Ohne wohlinformierte Bibliothekare war es nicht möglich, Reformen durchzuführen. Gerade in diesem Punkt wünschten sie, Hilfe vom Westen zu erhalten. Auch LIBER hatte verstanden, dass man sich auf diese Fragen konzentrieren musste, um die Kompetenzen der östlichen Kollegen weiterzuentwickeln. LIBER wollte seine Hilfe an die ostmitteleuropäischen Länder über seine eingeführten normalen Arbeitsformen organisieren, insbesondere die jährliche Generalversammlung und die 1994 gegründeten neuen Professional Divisions. Deshalb fand man es wichtig, dass möglichst viele Bibliotheken Mitglieder wurden; ca. 50–60 Bibliotheken haben während der ersten Jahre diese Möglichkeit auch genutzt. In der Zeitschrift von LIBER spiegelt sich diese Entwicklung in den Berichten der Kollegen aus Ost- und Mitteleuropa über ihre Situation und ihre Errungenschaften.

6 Mitten im neuen Zeitalter

Die ersten Jahre nach der Auflösung des Ostblocks waren in den meisten postsozialistischen Ländern politisch instabil. Das war keine Überraschung. Neben den politischen Problemen waren die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten ein großes Hindernis für die Normalisierung der Situation. Auch die Probleme, die während der sozialistischen Jahrzehnte entstanden waren, ließen sich nicht über Nacht beseitigen. Die alten Strukturen, die nicht mehr funktionierten, machten die Arbeit gar erheblich schwieriger.

In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft mussten die Bibliotheken mit den ökonomischen Realitäten ringen. Unabhängig von den Schwierigkeiten vor Ort versuchten sie, wenigstens ihre Verbindungen mit dem übrigen Europa auszubauen. Deshalb waren sie nach der Wende bedeutend besser informiert als vorher. Für die westlichen Bibliotheken war es leichter geworden, Verbindungen mit den östlichen zu knüpfen und aufrechtzuerhalten. Dazu haben die Anstrengungen von LIBER wesentlich beigetragen.

Diese Entwicklung hat der Autor dieser Zeilen aus nächster Nähe verfolgen und mitgestalten können. Schon früh wurden die baltischen Bibliotheken, ganz besonders die Nationalbibliotheken, aktiv, als normale Verbindungen zwischen den Bibliotheken über Grenzen wieder möglich waren. Die vielseitigsten Kontakte hatte meine Bibliothek mit Estland; persönlich hatte ich auch mit der lettischen Nationalbibliothek viel zu tun. Es wurden praktische Formen der Zusammenarbeit zwischen den Bibliotheken entwickelt. Leider konnten wir nur sehr begrenzt finanzielle Hilfe beisteuern, obwohl einige Versuche doch gelangen. Die kurze Reisezeit nach Tallinn, deren Vorteile wir genießen konnten, unterstützte konkrete gemeinsame Projekte zwischen den zwei Nationalbibliotheken, wie die Verfilmung der älteren estnischen Zeitungen und die Konvertierung der Kataloge. Diese Projekte wurden nach dem Win-win-Prinzip durchgeführt: Die Projekte konnten wir mit unseren normalen Haushaltmitteln finanzieren.

Als die baltischen Republiken 1991 selbständig geworden waren, gründete man 1992 auf Initiative der Stadtbibliothek Lübeck die Arbeitsgemeinschaft Bibliotheca Baltica, die die Zusammenarbeit „bei der Aufbewahrung, Zusammenführung und Erschließung der Kulturgüter dieser Länder“ zwischen den Bibliotheken der Anrainerstaaten der Ostsee initiierte. Auch Russland nahm an dieser Zusammenarbeit teil und war von der Russischen Nationalbibliothek, mit Sitz im heutigen St. Petersburg, vertreten. Es wurden Symposien und Besuche organisiert. Die Arbeitsgemeinschaft existiert immer noch und setzt ihre Arbeit fort.[14]

7 Das Leben wird normal

Nach den ersten Jahren der Wendezeit versuchten die Bibliotheken sowohl im Osten wie im Westen, einen mehr oder weniger normalen Modus für ihre Tätigkeiten zu finden. Die westlichen Bibliotheken haben ihren Einsatz im Osten nicht mehr im gleichen Umfang wie zu Beginn fortsetzen können, weil sie mit ihrer eigenen Entwicklung voll beschäftigt waren. Der Horizont war aber auf beiden Seiten erweitert, Hindernisse und Vorurteile wurden allmählich abgebaut. Die bahnbrechenden Jahre nach der Wende waren erfolgreich und fruchtbringend und das Fundament für eine normale Zusammenarbeit ist in dieser Zeit gelegt worden.

Über den Autor / die Autorin

Prof. Dr. Drs. h.c. Esko Häkli

Prof. Dr. Drs. h.c. Esko Häkli

Literaturverzeichnis

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Online erschienen: 2024-10-25
Erschienen im Druck: 2024-11-22

© 2024 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Von der Wende zur Zeitenwende – A Turning Point to the Turning of the Times
  4. Europe
  5. Die politische Wende 1989–1991 und die Zusammenarbeit der Bibliotheken in Ostmitteleuropa mit LIBER
  6. Thirty Years of Change in the UK and in Europe After 1989: A Personal Perspective
  7. Europas Nationalbibliotheken – das Gedächtnis des Kontinents
  8. Around the 1990s: A “Wende” for Research Libraries
  9. Germany
  10. Glück gehabt! – Die deutschen Bibliotheken nach der Wende – mit einem Ausblick auf die Entwicklung in Europa
  11. Die Rückkehr in die Zukunft
  12. „Wind of Change“ – von den zwei Königskindern, die nicht zueinander kommen konnten
  13. Die wissenschaftlichen Bibliotheken der DDR nach der Wiedervereinigung
  14. Die Universitätsbibliothek Leipzig in der Nachwendezeit
  15. Die altehrwürdige Universitätsbibliothek Rostock erwacht zu neuem Leben
  16. Die Etablierung der Bibliothek der Fachhochschule Anhalt
  17. Von der Wissenschaftlichen Allgemeinbibliothek zur Stadt- und Landesbibliothek
  18. Von der Wende zur Zeitenwende (1990–2020) in Dresden, Sachsen und beim Deutschen Bibliotheksverband
  19. Stadtbibliothek Magdeburg im Umbruch
  20. Stadtbibliothek Magdeburg ab 2014: Profilschärfung als Bildungshaus und städtisches Veranstaltungszentrum
  21. Die Bibliotheken der Goethe-Institute in Russland und den sowjetischen Nachfolgestaaten
  22. Auf dem Weg zum gemeinsamen europäischen Kulturraum
  23. Central and Eastern Europe
  24. A Paradigmatic Shift for Estonian Research Libraries: Thirty Years of Rapid Travel on the Digital Highway
  25. Latvian Research Libraries from the 1980s to the Present
  26. Research Libraries in Russia: The Past Revisited – Leading to the Future
  27. Between the East and the West. Regional Transformations and the Development of Polish Research Libraries 1989–2023
  28. From “Difficult to Find” to “Picking from the Flood”: A Turning Point to the Turning of the Times
  29. Das ungarische Bibliothekssystem und die Veränderungen der Situation der Bibliothekare nach 1990
  30. The Vernadsky National Library of Ukraine in Times of Independence and Martial Law: Development Strategy, Preservation, and International Co-operation
  31. Turning Points in the Croatian Information Environment: From the 1980s to 2023
  32. Armenian Libraries from Afar and Up Close
  33. Southern Europe
  34. Turkish University Libraries on the Centenary of the Republic
  35. The Tenses of the Greek Metamorphoses
  36. Academic and Research Libraries in Italy from Past to Future
  37. “Alone You Are Nothing. Together We Will Build a Better World”
  38. Western Europe
  39. The Experience of the Bibliothèque nationale de France
  40. A Portrayal of French University Libraries 1989–2024
  41. University Library Collaboration in Belgium: Successes and Obstacles
  42. Futures
  43. Danish Libraries between ‘Wende’ and ‘Zeitenwende’
  44. Research Libraries’ Diverse Orientations to an Algorithmic Future
  45. The Turning Point in Time from the Serbian Perspective: How to Turn the Digital Tide
  46. List of Contributors
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/bfp-2024-0023/html
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