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Die Kultur macht den Unterschied – wie macht man einen Unterschied in der Kultur?

Die 6. Conference on User Experience in Libraries, UXLibs VI
  • Sina Menzel

    Sina Menzel

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    und Luis Moßburger

    Luis Moßburger

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Veröffentlicht/Copyright: 9. November 2022
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1 Nicht ohne die Nutzenden

Würden Sie der Aussage „Bibliotheken arbeiten für Menschen“ zustimmen? Wenn ja, folgt daraus, dass Bibliotheken Entscheidungen menschzentriert statt medienzentriert treffen müssen. Diese Ansicht teilten zumindest die 155 Konferenzbesucherinnen und -besucher der 6. internationalen Konferenz für Benutzungsforschung in Bibliotheken, der UXLibs VI. „UX“ steht dabei für „User Experience“, also die Nutzungserfahrung. Die UXLibs VI umfasste zwei Tage mit optionalen Prä-Konferenz-Workshops und fand vom 6. bis 8. Juni 2022 in Newcastle upon Tyne (Nordengland) statt.

Die UXLibs-Konferenz wurde 2015 vom Briten Andy Priestner ins Leben gerufen und ist seitdem eine der wenigen Konferenzen weltweit, die sich exklusiv mit der Frage beschäftigen, wie wir in der Bibliothekspraxis mit empirischen Methoden fundiertes Wissen über die Bedürfnisse unserer Nutzenden (und Nichtnutzenden) erlangen können. Denn – diese Annahme teilte man ebenfalls auf der Konferenz – dieses Wissen ist elementar für die Zukunft von Bibliotheken und kann nicht auf Anekdoten, Spekulationen und dem Bauchgefühl von uns Bibliotheksmitarbeitenden aufbauen.

2 Eine Frage der Einstellung

Befragungen von Nutzenden in Form von Fragebögen sind für zahlreiche Bibliotheken bereits lange ein Standard. Dass das mögliche Methodenset aber wesentlich mehr umfasst, zeigten die zahlreichen Praxisbeispiele qualitativer und quantitativer Informationsverhaltensforschung, die hier vorgestellt wurden. Methodenkompetenz ist also wichtig. Als noch viel wichtiger wurde allerdings etwas Anderes eingestuft: „UX and Organisational Culture“, also etwa „Benutzungsforschung und Organisationskultur“ war das Konferenzmotto.

Wie treffen wir Entscheidungen in Bibliotheken? Gibt es Konsens, dass diese auf echten Bedürfnissen der Nutzenden aufbauen sollten? Das sind Fragen, mit denen sich die Leitvorträge der Konferenz beschäftigten.

Rebecca Blakiston (bislang Universitätsbibliothek der University of Arizona, seit Kurzem Senior UX Researcher bei Ad Hoc, USA) ließ in ihrer Keynote dabei alle Anwesenden eine Selbsteinschätzung treffen, wie es um die Einbeziehung von Nutzenden-Daten in der eigenen Einrichtung steht. Dabei verwendete sie die sechsstufige „UX Maturity Scale“ der Nielsen-Norman-Group.[1] Das Ergebnis: Der Großteil der Konferenzteilnehmenden sieht sich auf Stufe 2 („limitiert“) und 3 („aufkommend“), weitaus weniger sehen sich auf Stufe 4 („strukturiert“) und höher (vgl. Abb. 1). Diese höheren Stufen verlangen, dass Benutzungsforschung systematisch und selbstverständlich nahezu allen Prozessen und Projekten in der Bibliothek zugrunde liegt, ähnlich wie z. B. Finanzierungsüberlegungen oder Öffentlichkeitsarbeit.

Abb. 1: Tweet von Keynote-Speakerin Rebecca Blakiston zu den Ergebnissen der Live-Umfrage auf der Konferenz@BlakistonR. „Results from yesterday’s poll of #UXLibs audience: where is your organization on Nielsen Norman Group’s UX maturity scale? Most common is level three (emergent, 60), level two (limited, 37), and level four (structured, 21).“ 09.06.2022. Verfügbar unter: https://twitter.com/BlakistonR/status/1534804951825846278 (01.08.2022).
Abb. 1:

Tweet von Keynote-Speakerin Rebecca Blakiston zu den Ergebnissen der Live-Umfrage auf der Konferenz[2]

3 Benutzungsforschung durch Freiheiten fördern

Ein Beispiel, wie die Realisierung der höheren Stufen in einer Bibliothek aussehen kann, lieferte Daniel Forsman (Leiter der Stadtbibliothek Stockholm) in seiner Keynote. Er führt derzeit ein umfassendes Entwicklungsprogramm für Benutzungsforschung in seiner Bibliothek durch. Ziel ist es, die Bibliotheksmitarbeitenden dafür zu sensibilisieren, wie sie Nutzenden-Perspektiven fundiert in ihre Arbeit einbringen können. Seine Botschaft: „Versuchen Sie nicht, Ihre Mitarbeitenden zu ändern. Versuchen Sie einfach nur, ihnen die Erfahrung zu geben, was Benutzungsforschung für ihre Arbeit bewirken kann.“ Dieser Ansicht folgend, fand für ca. 300 Mitarbeitende jüngst eine mehrtägige UX-Fortbildung statt. „Grundsätzlich“, so Forsman, „gibt es immer 1 000 Argumente, jetzt gerade keine UX-Studie zu machen“, daher könne ein extra dafür verantwortliches UX-Team hilfreich sein. Dieses solle allerdings auf keinen Fall separat operieren, sondern die anderen Teams direkt unterstützen.

Anneli Friberg (Bibliothek der Universität Linköping, Schweden) und Anna Kaagedal (Bibliothek der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften) sprachen von der Rolle, die Führungskräfte für die erfolgreiche Förderung einer „UX-Kultur“ in Bibliotheken einnehmen sollten: „Die Mitarbeitenden zu befähigen ist der Schlüssel, suchen Sie nie selbst die Kontrolle!“ Die Kompetenz, Entscheidungen selbstständig treffen zu dürfen, sei hier einer der Hauptmotivatoren für die Kolleginnen und Kollegen, dies auch im Sinn der Nutzenden zu tun. Auch sie betonten, dass UX oft hintenangestellt würde: „Keine Zeit heißt in diesem Kontext eigentlich: Keine Energie!“

Kabelo Kgarosi (Bibliothek der Universität Pretoria, Südafrika) stellte dar, wie sie Benutzungsforschung in ihrer Rolle als Führungsperson als Grundlage und Teil der Bibliotheksstrategie einbringt. Dabei setzt sie ebenfalls auf die Befähigung ihres Teams und stärkt die individuelle Mitarbeit an der Erreichung strategischer Ziele. Unter anderem stehen ihren Mitarbeitenden 20 % ihrer Zeit zur Verfügung, um an diesen Zielen zu arbeiten. Darüber hinaus gelten diese Freiheiten auch ganz praktisch: „Traut euch, fehlzuschlagen!“, betonte sie.

4 Mehr als ein Hype

Viele Bibliotheken haben bereits seit einigen Jahren eine UX-Person oder sogar ein UX-Team. In den Praxisvorträgen berichteten diese an den Konferenznachmittagen von Erfahrungen, Fehlern und Erfolgen mit angewandter Benutzungsforschung. Nadia Marks (Bibliothek der London School of Economics, Vereinigtes Königreich) berichtete zum Beispiel davon, wie essenziell es war, Kolleginnen und Kollegen mit einzubeziehen. Auch Natacha Leclerq Varlan (Universitätsbibliothek der Universität Lille, Frankreich) erzählte von einer Beobachtungsstudie, die sie mit interessierten Kolleginnen und Kollegen durchführte. Aus der Universitätsbibliothek der Universität Hildesheim berichteten Ninon Franziska Frank und Jarmo Schrader darüber, wie sie im Kollegium Instant-Messanging einsetzen, um besser über Nutzenden-Perspektiven zu kommunizieren. Larissa Tijsterman (Bibliothek der Universität Amsterdam, Niederlande) betonte darüber hinaus, dass das interne Berichten über ihre Arbeit ein wichtiger Bestandteil sei, gerade weil einige sich unter ihrem Stellenprofil nichts vorstellen könnten.

Besonders die Praxisvorträge machten deutlich: Das Interesse von Bibliotheken am Feld UX wächst. Vielleicht waren auch deshalb Teilnehmende aus 18 verschiedenen, größtenteils europäischen, Nationen vertreten. Auffällig war, dass die Mehrheit der Teilnehmenden aus wissenschaftlichen Bibliotheken kam. Unter den 155 Menschen auf der Konferenz waren darüber hinaus lediglich sechs aus Deutschland, zwei weitere aus der Schweiz. Vielleicht ein Ausdruck dafür, dass das Thema im DACH-Raum von Seiten der Bibliothekspraxis bislang im internationalen Vergleich eher wenig Beachtung findet?

Abb. 2: Rebecca Blakiston bei ihrer Keynote. Im Hintergrund: Die gebastelten Prototypen-Maskottchen aus der Design-Challenge (Foto: David Scott Photography, mit freundlicher Genehmigung)
Abb. 2:

Rebecca Blakiston bei ihrer Keynote. Im Hintergrund: Die gebastelten Prototypen-Maskottchen aus der Design-Challenge (Foto: David Scott Photography, mit freundlicher Genehmigung)

Abb. 3: Anneli Friberg und Jenny Kihlberg arbeiten an Ideen in einem der Konferenz-Workshops (Foto: David Scott Photography, mit freundlicher Genehmigung)
Abb. 3:

Anneli Friberg und Jenny Kihlberg arbeiten an Ideen in einem der Konferenz-Workshops (Foto: David Scott Photography, mit freundlicher Genehmigung)

5 Immer in der Praxis bleiben

Wer sich angewandte Forschung auf die Fahnen schreibt, muss auch selbst in der Praxis bleiben. Das schien zumindest das Motto zu sein, als die Teilnehmenden für eine Design Challenge zum Thema „Wie könnte ich die UX-Kultur in meiner Bibliothek verbessern?“ in Gruppen aufgeteilt wurden. Gemeinsam wurden in den Teams Lösungsoptionen entwickelt und mit einfachen Mitteln ein Prototyp und ein Maskottchen dafür gebastelt. Überraschend war dabei, wie begeistert und engagiert die große Runde von über 150 Menschen die Aufgabe anging.

Für die Praxis gemacht waren auch die fünf verschiedenen Workshops, die in je zwei Durchläufen am zweiten Konferenztag angeboten wurden. Mit Arun Verma (Advance HE, Vereinigtes Königreich) wurde mithilfe von Journey Mapping, also der Visualisierung von Arbeitsschritten, an Interventionen gegen Diskriminierung an Hochschulen gearbeitet. Mit Natasha den Dekker (LexisNexis, Vereinigtes Königreich) wurde mit dem Szenario einer Pandemie-Impfkampagne beleuchtet, wie Benutzungsforschung auch agil funktioniert. Bei David Clover (Universitätsbibliothek der Middlesex Universität, Vereinigtes Königreich) wurden Möglichkeiten pilotiert, um Organisationskultur durch die Einbeziehung von Nutzenden-Erfahrungen zu beeinflussen. Ange Fitzpatrick (Universitätsbibliothek der Universität Cambridge, Vereinigtes Königreich) nutzte die Technik der schnellen Ideation, um mit ihren Teilnehmenden Lösungsoptionen für schwierige Organisationskulturen zu sammeln. Mit Luis Moßburger diskutierten Delegierte darüber, wie Datenvisualisierung Ergebnisse aus der Benutzungsforschung transportieren kann.

6 Und was hat das alles gebracht?

All das zeigt: Die UXLibs ist eine besondere und in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Konferenz. Die Teilnehmendenzahl erzeugt nicht nur eine familiäre Atmosphäre und ermöglicht sogar Gruppenarbeit, sondern macht es auch besonders einfach, miteinander ins Gespräch zu kommen. Wer Inspiration, Motivation und vor allem Praxisbeispiele für Benutzungsforschung sucht, ist hier richtig aufgehoben – ob Führungsperson oder nicht. Vor allem drei große Mitnahme-Effekte gab es dieses Jahr:

  1. Die Motivation, Benutzungsforschung als Werkzeug für eine menschzentrierte Organisationskultur einzusetzen.

  2. Die Aufgabe, Methoden der Benutzungsforschung niedrigschwellig in die Bibliothek zu tragen.

  3. Nicht zuletzt viele neue Kontakte für großartigen Austausch zu Bibliothek, UX und Organisationskultur. Vielleicht schon nächstes Mal mit noch größerer Beteiligung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Die UXLibs hat übrigens seit 2017 mehrere Jahrbücher hervorgebracht, in denen viele Anwendungsfälle von Benutzungsforschung in Bibliotheken beschrieben werden,[3] auch dieses Jahr wird wieder eines veröffentlicht.[4]

About the authors

Sina Menzel

Sina Menzel

Luis Moßburger

Luis Moßburger

Published Online: 2022-11-09
Published in Print: 2022-11-08

© 2022 bei der Autorin und dem Autor, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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