Rezensierte Publikation:
Nicole Burzan / Jennifer Eickelmann, Machtverhältnisse und Interaktionen im Museum Frankfurt am Main: Campus 2022, 231 S., br., 49,95 €
Im vorliegenden Band streben die Autorinnen die Analyse von Machtverhältnissen innerhalb von Museen an. Dabei stehen Fragen nach der Deutungsmacht verschiedener Akteure, der Bedeutung von Erlebnisorientierung und Distinktion sowie der Rolle von Aufsichten in Museumsorganisationen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Veröffentlichung basiert auf zwei Projekten, in denen Museen mit einer beeindruckenden Vielfalt von empirischen Methoden untersucht wurden.
In den vier Kapiteln und zwei Exkursen des Bandes werden recht unterschiedliche Themen angesprochen. Das erste Kapitel beschäftigt sich aus einer eher literaturbasierten Perspektive mit Fragen der Deutungsmacht und ihrer Herausforderung in Museen. Daran schliesst sich ein thematisch passender Exkurs über den Diskurs zum kolonialen Hintergrund von Museen und ihren Exponaten an. Erst das zweite Kapitel fokussiert dann empirisch auf die Rolle der Erlebnisorientierung in Museen. Diese wird sowohl aus der Perspektive der Museumsverantwortlichen als auch aus der Perspektive des Publikums betrachtet. Dabei stehen Fragen nach der Souveränität der Besucher:innen sowie nach Möglichkeiten der Distinktion in erlebnisorientierten Ausstellungen im Zentrum der Betrachtung. Daran schließt wiederum ein Exkurs über die Digitalisierung von Museen an, wobei zwischen der Nutzung von digitalen Technologien in den Museen und der Präsentation der Museen auf digitalen Plattformen unterschieden wird. Das dritte Kapitel stellt das eigentliche Herzstück des Buches dar. Hier wird die Rolle von Museumsaufsichten analysiert, ihre Position in der Museumsorganisation, die damit verbundenen Herausforderungen und Rollenerwartungen sowie ihr Umgang mit den Erwartungen ihrer Referenzgruppen, wie Vorgesetzten und Besucher:innen. Dieses Kapitel ist ein innovativer Beitrag zu einer organisations- und rollensoziologischen Analyse einer Berufsgruppe innerhalb des Museums. Der Band schließt mit einem Methodenkapitel ab, das die verwendeten Methoden primär in der Rückschau auf die damit verbundenen Erfahrungen und Überraschungen hin befragt. Es fragt sich hier ein wenig, wer Adressat:in eines solchen Kapitels sein könnte, da es Personen in der Sozialforschung wenig Neues bietet, aber auf der anderen Seite entscheidende Fragen zur im Buch präsentierten Forschung unbeantwortet lässt.
Der Band bietet interessante Einblicke in die sozialwissenschaftliche Thematisierung von Museen, allerdings fragt man sich, ob die Autorinnen sich mit der Heterogenität der angesprochenen Themen tatsächlich einen Gefallen getan haben. Insgesamt wäre eine fokussiertere und empirisch fundiertere Diskussion wohl informativer gewesen. Das fängt bei der Einordnung der angesprochenen Themen in verschiedene gesellschaftliche Trends an, seien dies zunehmende Erlebnisorientierung, Ökonomisierung, eine zunehmende Irritation von Deutungshoheiten und Digitalisierung. Eine Analyse von Veränderungsprozessen benötigt Längsschnittinformationen, welcher Art auch immer. Diese wurden in den zugrundeliegenden Studien nicht erhoben, sodass ein reflektierterer und differenzierterer Umgang mit diesen Trendkonzepten wünschenswert gewesen wäre (Delhey & Schneickert, 2022). Um ein Beispiel zu geben: In der Forschung über den Kunstmarkt und seine Ökonomisierung wird vielfach der zunehmende Einfluss von schwerreichen Sammler:innen thematisiert (Gnyp, 2016). Belastbare Evidenz für diese immer wieder geäußerte Annahme liegt aber nicht vor. Ganz im Gegenteil zeigen Lachmann et al. (2014) in einer Längsschnittanalyse der Ausstellungen in ausgewählten Museen, dass in den 1960er Jahren der Einfluss der Sammler:innen deutlich zurückgegangen ist und sich dies bis 2010 auch nicht verändert hat. Dieses Beispiel spricht sehr deutlich für eine zurückhaltende und differenzierte Verwendung von Trendkonzepten.
Neben der Einordnung der Studie in Trendbegriffe fällt der Umgang mit grundlegenden Begrifflichkeiten und deren Operationalisierung auf. Dies beginnt mit dem titelgebenden Begriff der Macht bzw. der Machtverhältnisse. Abgesehen von einem kurzen Hinweis auf Foucault wird dieser durch veranschaulichende Überlegungen und Beispiele verdeutlicht, aber weder präzise definiert, noch wird auf die Frage eingegangen, wie denn Macht eigentlich empirisch sorgfältig untersucht werden kann. Angesichts der vielfältigen Versuche den Machtbegriff theoretisch zu präzisieren und einer empirischen Untersuchung zugänglich zu machen (hier seien aus der Geschichte der Soziologie und Politikwissenschaft nur Namen wie Weber, French & Raven, Bachrach & Baratz, Lukes, Emerson, Korpi als mögliche Anknüpfungspunkte genannt), kann die Vorgehensweise im Buch kaum als angemessen betrachtet werden. Dies gilt in ähnlicher Weise für Begriffe wie Erlebnisorientierung und Distinktion, hier greifen die Autorinnen in ihrer Argumentation zwar auf die prominenten Urheber dieser Konzepte zurück, es unterbleibt aber eine sorgfältige Herleitung der verwendeten Untersuchungsmethoden und Operationalisierungen unter Berücksichtigung der internationalen Forschungsliteratur. Man fragt sich zum Beispiel, welche Definition von Erlebnisorientierung den im Survey verwendeten Items zugrunde liegt und warum gerade diese Items ausgewählt wurden (als Alternative Delhey & Schneickert, 2022). Bei der Analyse der Perspektiven von Museumsverantwortlichen wird das Konzept der Erlebnisorientierung sogar kurzerhand in den Oberbegriff der Publikumsorientierung eingeordnet. Auch bei der durchaus interessanten Analyse von Distinktionsmöglichkeiten im Museum kann gefragt werden, ob nicht der Museumsbesuch an sich eine distinktive Handlung ist. Auch die These der Autorinnen (S. 20), dass heute das Publikum von Kunstmuseen nicht mehr so stark durch Menschen mit höherer Bildung geprägt wird, wie dies zu Zeiten der klassischen Studie von Bourdieu und Darbel (2006) in den sechziger Jahren der Fall war, darf bezweifelt werden (Rössel et al., 2005; DiMaggio & Mukhtar, 2004). Angesichts der Tatsache, dass Partizipation in klassischer Hochkultur für Bildungs- und Arbeitsmarktergebnisse relevant zu sein scheint (Breen & Jäger, 2016; Reeves & de Vries, 2019; Rössel et al., 2017), könnte dies durchaus für eine distinktive Wirkung auch des Museumsbesuchs an sich sprechen.
Insgesamt bietet der Band interessante Denkanstöße für die sozialwissenschaftliche Erforschung von Museen, insbesondere das Kapitel über das Aufsichtspersonal ist ausgesprochen lesenswert. Die Veröffentlichung hätte allerdings durch eine Fokussierung auf weniger Themen und einer theoretisch präziseren und ausführlicheren Präsentation des reichhaltigen empirischen Materials gewonnen.
Literatur
Bourdieu, P., & Darbel, A. (2006). Die Liebe zur Kunst. Europäische Kunstmuseen und ihre Besucher. UVK. Suche in Google Scholar
Delhey, J., & Schneickert, C. (2022). Aufstieg, Fall oder Wandel der Erlebnisorientierung? Eine Positionsbestimmung nach 30 Jahren «Erlebnisgesellschaft». Zeitschrift für Soziologie, 51, 114–130. 10.1515/zfsoz-2022-0008Suche in Google Scholar
DiMaggio, P., & Mukhtar, T. (2004). Arts Participation as Cultural Capital in the United States, 1982–2002: Signs of Decline? Poetics,32, 169–194. 10.1016/j.poetic.2004.02.005Suche in Google Scholar
Gnyp, M. (2016). The Shift. Art and the Rise to Power of Contemporary Collectors. Skira. Suche in Google Scholar
Lachmann, R., Pain, E., & Gauna, A. (2014). Museums in the New Gilded Age: Collector Exhibits in New York Art Museums, 1945–2010. Poetics, 43, 60–69. 10.1016/j.poetic.2014.01.004Suche in Google Scholar
Meier Jaeger, M., & Breen, R. (2016). A Dynamic Model of Cultural Reproduction. American Journal of Sociology, 121, 1079–1115. 10.1086/684012Suche in Google Scholar
Reeves, A., & de Vries R. (2019). Can Cultural Consumption Increase Future Earnings? Exploring the Economic Return to Cultural Capital. British Journal of Sociology,70, 214–240. 10.1111/1468-4446.12374Suche in Google Scholar
Rössel, J., Hackenbroch, R., & Göllnitz, A. (2005). Soziale Differenzierung und Strukturwandel des Hochkulturpublikums. In Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2005, (S. 225–234). Klartext Verlag.Suche in Google Scholar
Rössel, J., Schenk, P., & Weingartner, S. (2017). Cultural Consumption. In R. A. Scott & S. M. Kosslyn (Hrsg.), Emerging Trends in the Social and Behavioral Sciences: An Interdisciplinary, Searchable, and Linkable Resource. Wiley-Blackwell Publishing.10.1002/9781118900772.etrds0432Suche in Google Scholar
© 2023 Jörg Rössel, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Die Transnationale Soziale Frage. Anmerkungen zu Thomas Faists ‚Exit‘
- Staatsbürgerschaft und die Transnationalisierung der sozialen Frage. Eine Reflexion über Thomas Faists Buch „Exit“
- Die Neubestimmung der sozialen Frage im Licht globaler Migration
- Essay
- Learning from Harold Garfinkel’s Studies of Work in the Sciences
- Sammelbesprechung
- Soziale und politische Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung
- Doppelbesprechung
- Soziologie des Essens. Innovative Forschungen zum Thema Mahlzeit
- Einzelbesprechung Bewertung
- Anne K. Krüger, Soziologie des Wertens und Bewertens. Bielefeld: Transcript 2022. 200 S., kt., 20,00 €
- Einzelbesprechung Europäisierung
- Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 €
- Einzelbesprechung Interaktion
- Johannes F. Burow, Beieinander an getrennten Orten. Leibliche Interaktionen in Videokonferenzen. Baden-Baden: Nomos 2022, 99 S., kt., 26,00 €
- Einzelbesprechung Kontrollräume
- David Joshua Schröder, Kontrollräume und Raumkontrolle: Infrastrukturelle Kontrollzentralen in Zeiten der Digitalisierung. Bielefeld: transcript 2022, 304 S., kt., 49,00 €
- Einzelbesprechung Kritik
- Georg Vobruba, Kritik zwischen Praxis und Theorie. Weinheim: Beltz Juventa 2020, 172 S., br., 22,99 €
- Einzelbesprechung Museum
- Nicole Burzan / Jennifer Eickelmann, Machtverhältnisse und Interaktionen im Museum. Frankfurt am Main: Campus 2022, 231 S., br., 49,95 €
- Einzelbesprechung Soziologiegeschichte
- Martin Endreß / Stephan Moebius (Hrsg.), Zyklos 6: Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 356 S., kt., 64,99 €
- Einzelbesprechung Thanatosoziologie
- Matthias Meitzler, Norbert Elias und der Tod: Eine empirische Überprüfung. Wiesbaden: Springer VS 2022, 128 S., kt., 29,99 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Urs Stäheli, Soziologie der Entnetzung. Berlin: Suhrkamp 2021, 551 S., kt., 28,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
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- Editorial
- Symposium
- Die Transnationale Soziale Frage. Anmerkungen zu Thomas Faists ‚Exit‘
- Staatsbürgerschaft und die Transnationalisierung der sozialen Frage. Eine Reflexion über Thomas Faists Buch „Exit“
- Die Neubestimmung der sozialen Frage im Licht globaler Migration
- Essay
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- Sammelbesprechung
- Soziale und politische Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung
- Doppelbesprechung
- Soziologie des Essens. Innovative Forschungen zum Thema Mahlzeit
- Einzelbesprechung Bewertung
- Anne K. Krüger, Soziologie des Wertens und Bewertens. Bielefeld: Transcript 2022. 200 S., kt., 20,00 €
- Einzelbesprechung Europäisierung
- Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 €
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- Johannes F. Burow, Beieinander an getrennten Orten. Leibliche Interaktionen in Videokonferenzen. Baden-Baden: Nomos 2022, 99 S., kt., 26,00 €
- Einzelbesprechung Kontrollräume
- David Joshua Schröder, Kontrollräume und Raumkontrolle: Infrastrukturelle Kontrollzentralen in Zeiten der Digitalisierung. Bielefeld: transcript 2022, 304 S., kt., 49,00 €
- Einzelbesprechung Kritik
- Georg Vobruba, Kritik zwischen Praxis und Theorie. Weinheim: Beltz Juventa 2020, 172 S., br., 22,99 €
- Einzelbesprechung Museum
- Nicole Burzan / Jennifer Eickelmann, Machtverhältnisse und Interaktionen im Museum. Frankfurt am Main: Campus 2022, 231 S., br., 49,95 €
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- Martin Endreß / Stephan Moebius (Hrsg.), Zyklos 6: Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 356 S., kt., 64,99 €
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