„Migration verwandelt die soziale Frage von einer nationalen in eine transnationale.“ Dies ist Rainer Bauböck zufolge die Kernaussage des Buches „Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert“ von Thomas Faist, dem das Symposium im vorliegenden Heft der Soziologischen Revue gewidmet ist. Im 20. Jahrhundert ist, so das Argument, die soziale Frage, also die Frage nach dem Umgang mit der ungleichen Verteilung von Lebenschancen und Lebensrisiken, im nationalstaatlichen Rahmen bearbeitet worden. Die entsprechenden staatlichen Regulierungen bestanden wesentlich darin, wohlfahrtsstaatliche und soziale Rechte auszubauen, wobei diese Rechte zum großen Teil an die Staatsbürgerschaft geknüpft waren. Im transnationalen Rahmen greifen diese, an die Grenzen des Nationalstaats gebundenen Regulierungen jedoch nicht mehr. Transnationale Migration als Folge und Ausdruck transnationaler sozialer Ungleichheiten lässt dies besonders deutlich sichtbar werden und verwandelt in diesem Sinne die soziale Frage von einer nationalen in eine transnationale.
Bettina Kohlrausch stellt in ihrem Symposiumsbeitrag heraus, dass bei Faist „das Konzept der Staatsbürgerschaft zentral [ist], um die Muster sozialer Ungleichheit im Kontext von Migration zu erklären“. Dies nicht nur deshalb, weil die bürgerlichen, politischen und sozialen Staatsbürgerrechte (diese Unterscheidung übernimmt Faist von Thomas H. Marshall), allen Nicht-Staatsbürger:innen verwehrt bleiben. Sondern auch deshalb, weil Faist zeigen kann, wie Staatsbürgerschaft selektiv mit anderen Ungleichheitsdimensionen verknüpft ist (z. B. mit geschlechtsspezifischen Ungleichheitsmustern im Bereich der Migration von Pflegekräften) oder wie sie selbst Hierarchisierungen unterworfen sein kann (z. B. erschwerter Zugang von Migrant:innen aus Rumänien und Bulgarien zu besser bezahlten Arbeitsmarktsegmenten trotz EU-Bürgerschaft). Abschließend weist Kohlrausch in ihrem Symposiumsbeitrag auf eine Option hin, wie die Regulierung sozialer Ungleichheit durch Gewährung von Rechten auch ohne Kopplung an Staatsbürgerschaften möglich sein könnte. Dazu knüpft sie an eine vierte Form von Staatsbürgerschaftsrechten an, die Marshall ergänzend zu den drei zuvor genannten identifiziert hat: die industriellen Staatsbürgerrechte. Angesprochen sind damit Rechte demokratischer Teilhabe im Betrieb, die Tarifautonomie oder auch arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen und Schutzmaßnahmen. Mit Blick auf die Transnationalisierung der sozialen Frage ist das Besondere dieser Rechte, dass sie an den Status der abhängigen Beschäftigung gebunden sind und nicht bzw. nicht nur an den Status der Staatsbürgerschaft. Sie haben deshalb, so Kohlrausch, „das Potenzial, die Grenzen und Begrenzungen der an nationale Staatsbürgerschaft gekoppelten Rechte zu überschreiten.“
Rainer Bauböck und Nils Witte betonen in ihren beiden Symposiumsbeiträgen den analytischen Gewinn, den sie in Faists Analyseraster widersprüchlicher staatlicher Handlungsorientierungen in der Migrationspolitik sehen. Faist beschreibt die Migrationspolitik als gleichzeitig durch unterschiedliche Handlungsorientierungen geprägt, die in widersprüchlichen Konstellationen auftreten können. Er unterscheidet zwischen wettbewerbsstaatlichen, entwicklungsstaatlichen, rechtsstaatlichen, sicherheitsstaatlichen und nationalstaatlichen Handlungsorientierungen und leitet daraus für liberal-demokratische Zielländer von Migration und für Herkunftsländer von Migration jeweils zwei typische widersprüchliche Konstellationen ab. Für liberal-demokratische Zielländer ist dies zum einen das von ihm so genannte „Wohlfahrtsparadox“, der Widerspruch zwischen einem wettbewerbsorientierten Interesse an Migrant:innen als Arbeitskräfte und einem wohlfahrtsstaatlichen Interesse an Schutz der Arbeitskräfte vor externer Konkurrenz. Zum anderen ist dies das „Rechtsstaatsparadox“, der Widerspruch zwischen einer rechtsstaatlichen Orientierung an universellen Menschenrechten und nationalstaatlicher sowie sicherheitspolitischer Orientierung an kultureller Homogenität und nationaler Sicherheit. Die Herkunftsländer von Migration sind dagegen mit einem „Entwicklungsparadox“ (Rücküberweisungen und Wissenstransfers durch Migrant:innen vs. Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte) konfrontiert und mit einem nationalen Paradox (gewünschte sozio-kulturelle Diaspora vs. unerwünschte Opposition im Exil). Bauböck zufolge ist dieses Analyseschema und seine Implikationen für die Migrationspolitik der „inhaltlich wohl gewichtigste und originellste Beitrag“ des Buchs. Es ist nicht nur eignet, um die Migrationspolitik und ihre zum Teil eigentümlichen Konstellationen politischer Interessengruppen besser zu verstehen. Dass es auch genutzt werden kann, um Kriterien für eine faire Migrationspolitik zu bestimmen, diskutieren Bauböck wie auch Witte anhand eines von Faist in seinem Buch angesprochenen Projekts der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zur Anwerbung von Pflegekräften auf den Philippinen für den deutschen Arbeitsmarkt – mit unterschiedlichem Ergebnis.
Andere Themen des Buches sind die Frage nach Klimawandel und Migration, die Bauböck ausführlich bespricht und die Frage nach dem Verhältnis von Forschung zu Politik und Öffentlichkeit, dem Witte in seinem Beitrag nachgeht. Insgesamt betrachtet charakterisiert Bauböck das Buch als „400 Seiten lange Synthese der wichtigsten Debatten in der neueren Migrationsforschung“. Dass es eher darauf ausgerichtet ist, reflexives Wissen bereitzustellen als konkret anwendungsorientierte Expertise, wird von allen Rezensent:innen als sinnvoll und fruchtbar gewertet. Zumal Faist nicht darauf verzichtet, Denkanstöße für den politischen Diskurs um Migration geben, die sich aus diesem Wissen ableiten lassen.
Neben dem Symposium enthält dieses Heft ein Essay. In diesem befasst sich Götz Hoeppe mit dem bleibenden Wert, aber auch mit den Begrenzungen von Harold Garfinkels Studien zu wissenschaftlicher Arbeit. Das Heft enthält des Weiteren eine Sammelbesprechung, in der Rasmus Hoffmann Forschungsarbeiten über soziale und politische Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung bespricht, und eine Doppelbesprechung zur Soziologie des Essens, in der Martin Winter insbesondere die innovativen Methoden der beiden besprochenen Forschungsarbeiten hervorhebt. Neun Einzelbesprechungen zu Neuerscheinungen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Soziologie runden dieses Heft ab. Doch lesen Sie selbst!
© 2023 Ingo Schulz-Schaeffer, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Die Transnationale Soziale Frage. Anmerkungen zu Thomas Faists ‚Exit‘
- Staatsbürgerschaft und die Transnationalisierung der sozialen Frage. Eine Reflexion über Thomas Faists Buch „Exit“
- Die Neubestimmung der sozialen Frage im Licht globaler Migration
- Essay
- Learning from Harold Garfinkel’s Studies of Work in the Sciences
- Sammelbesprechung
- Soziale und politische Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung
- Doppelbesprechung
- Soziologie des Essens. Innovative Forschungen zum Thema Mahlzeit
- Einzelbesprechung Bewertung
- Anne K. Krüger, Soziologie des Wertens und Bewertens. Bielefeld: Transcript 2022. 200 S., kt., 20,00 €
- Einzelbesprechung Europäisierung
- Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 €
- Einzelbesprechung Interaktion
- Johannes F. Burow, Beieinander an getrennten Orten. Leibliche Interaktionen in Videokonferenzen. Baden-Baden: Nomos 2022, 99 S., kt., 26,00 €
- Einzelbesprechung Kontrollräume
- David Joshua Schröder, Kontrollräume und Raumkontrolle: Infrastrukturelle Kontrollzentralen in Zeiten der Digitalisierung. Bielefeld: transcript 2022, 304 S., kt., 49,00 €
- Einzelbesprechung Kritik
- Georg Vobruba, Kritik zwischen Praxis und Theorie. Weinheim: Beltz Juventa 2020, 172 S., br., 22,99 €
- Einzelbesprechung Museum
- Nicole Burzan / Jennifer Eickelmann, Machtverhältnisse und Interaktionen im Museum. Frankfurt am Main: Campus 2022, 231 S., br., 49,95 €
- Einzelbesprechung Soziologiegeschichte
- Martin Endreß / Stephan Moebius (Hrsg.), Zyklos 6: Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 356 S., kt., 64,99 €
- Einzelbesprechung Thanatosoziologie
- Matthias Meitzler, Norbert Elias und der Tod: Eine empirische Überprüfung. Wiesbaden: Springer VS 2022, 128 S., kt., 29,99 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Urs Stäheli, Soziologie der Entnetzung. Berlin: Suhrkamp 2021, 551 S., kt., 28,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
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- Symposium
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- Staatsbürgerschaft und die Transnationalisierung der sozialen Frage. Eine Reflexion über Thomas Faists Buch „Exit“
- Die Neubestimmung der sozialen Frage im Licht globaler Migration
- Essay
- Learning from Harold Garfinkel’s Studies of Work in the Sciences
- Sammelbesprechung
- Soziale und politische Folgen der Corona-Pandemie und ihrer Bekämpfung
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- Soziologie des Essens. Innovative Forschungen zum Thema Mahlzeit
- Einzelbesprechung Bewertung
- Anne K. Krüger, Soziologie des Wertens und Bewertens. Bielefeld: Transcript 2022. 200 S., kt., 20,00 €
- Einzelbesprechung Europäisierung
- Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 €
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- David Joshua Schröder, Kontrollräume und Raumkontrolle: Infrastrukturelle Kontrollzentralen in Zeiten der Digitalisierung. Bielefeld: transcript 2022, 304 S., kt., 49,00 €
- Einzelbesprechung Kritik
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- Einzelbesprechung Museum
- Nicole Burzan / Jennifer Eickelmann, Machtverhältnisse und Interaktionen im Museum. Frankfurt am Main: Campus 2022, 231 S., br., 49,95 €
- Einzelbesprechung Soziologiegeschichte
- Martin Endreß / Stephan Moebius (Hrsg.), Zyklos 6: Jahrbuch für Theorie und Geschichte der Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 356 S., kt., 64,99 €
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- Einzelbesprechung Theorie
- Urs Stäheli, Soziologie der Entnetzung. Berlin: Suhrkamp 2021, 551 S., kt., 28,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2023
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