Rezensierte Publikationen:
Inga Reimers, Essen mit und als Methode: Zur Ethnographie außeralltäglicher Mahlzeiten. Bielefeld: Transcript (Edition Kulturwissenschaft, Band 261) 2022, 358 S., kt., 48,00 €
Julia von Mende, Zwischen Küche und Stadt: Zur Verräumlichung gegenwärtiger Essenspraktiken. Bielefeld: Transcript (Materialitäten, Band 32) 2022, 446S., kt., 39,00 €
Bisher wurde in Rezensionen und Sammelbesprechungen zum Thema Soziologie des Essens und Ernährung darauf hingewiesen, dass es sich um ein unterrepräsentiertes Feld des Faches handeln würde (Brunner, 2000; Peter, 2010). Gegenwärtig kann dies so nicht mehr behauptet werden. Essen und Ernährung sind als Thema in der Soziologie angekommen, was viele Veröffentlichungen, Tagungen und laufende Forschungsprojekte zeigen. Es liegen also mittlerweile eine Reihe aktueller Texte auch aus dem deutschsprachigen Raum vor, die für diese Bindestrich-Soziologie eine gewisse Breite und Tiefe erarbeitet haben. Die beiden dieser Doppelbesprechung zugrundeliegenden Arbeiten schlagen nun eine Brücke zu benachbarten Disziplinen und zeigen damit wie die Soziologie des Essens mit Bezügen zu anderen Forschungsausrichtungen weiter profiliert werden kann. Während Inga Reimers an der Schnittstelle von Soziologie und künstlerischer und aktivistischer Forschung arbeitet, kommt Julia von Mende aus der Architektur und positioniert sich an deren Schnittstelle zur Soziologie. Die beiden Dissertationen zeichnen sich durch innovative Zugänge aus und können auch als Inspiration soziologischer Forschung über das Themenfeld Essen und Ernährung hinaus gelesen werden.
Für die Untersuchung von Essenspraktiken haben sich Ansätze als fruchtbar erwiesen, die es erlauben, die Materialität von Essen und Ernährung mit in den Blick zu nehmen. International hat hierzu eine Arbeitsgruppe um Annemarie Mol (u. a. 2011) große Aufmerksamkeit in den Sozialwissenschaften erlangt. Mit einem Akteur-Netzwerk-theoretischen Ansatz werden hier verschiedene Ernährungspraktiken in den Blick genommen. In einem experimentalen Dinner, in dem es um das Essen mit Fingern geht, zeigen die Autor:innen, wie Essenspraxen, Körper und das Schmecken miteinander verwoben hervorgebracht werden und so ihre spezifische Realität entfalten (Mann et al., 2011). Zur Untersuchung von Essenspraktiken haben sich, auch im Anschluss an Mol und andere, theoretisch im weitesten Sinne praxistheoretische Ansätze etabliert, die empirisch mit ethnografischen Methoden kombiniert werden. So auch im Fall der beiden hier rezensierten Bücher, die sich in unterschiedlicher Weise auf die Arbeiten von Mol beziehen, der ethnografischen Arbeit aber jeweils einen eigenen twist geben: Reimers implementiert in der Untersuchung von Mahlzeiten Elemente einer praktischen Methodenentwicklung und der Kunst(forschung) – ergänzt durch eine Analyse von Diskursmaterialien; von Mende führt in Haushalten Interviews durch und erstellt dazu isometrische, mit den Methoden der Architektur erstellte, Zeichnungen der Küchen der von ihr untersuchten Haushalte.
In beiden Fällen sind diese qualitativen Methodenmixe für die jeweiligen Forschungsvorhaben angemessen ausgerichtet und dimensioniert. Das Sample bei von Mende umfasst zehn Berliner Haushalte, die anhand eines auf größtmögliche Varianz abzielenden Kriterienkatalogs über direkte Kontakte rekrutiert wurden. Das Sample, so reflektiert die Autorin, „spiegelt [ihr] weiteres persönliches soziales Umfeld wider“ (von Mende, S. 115). In diesen Haushalten wurden auf der einen Seite insgesamt 15 offene Leitfadeninterviews geführt. Auf der anderen Seite wurden isometrische architektonische Zeichnungen nach dem „cartesianischen System“ erstellt: Die Zeichnungen bilden einen dreidimensionalen Raum in genormtem Maß und damit vergleichbarer Weise ab. Die Zeichnungen sind auf diese Weise „befreit von dem Schleier der Atmosphäre“ (von Mende, S. 112) und liefern eine ‚objektive‘ Hintergrundfolie zu den Äußerungen im Interview. Mit einer an Andreas Reckwitz anschließenden praxistheoretischen Perspektive und Henri Lefebvres Verständnis des Raums als soziales Produkt, steht im Zentrum der Analyse der Begriff der „Verräumlichung“, verstanden „als relationale Ortsbestimmung innerhalb eines mehrdimensionalen Koordinatensystems“ (von Mende, S. 57). Während wir es bei von Mende mit einer ‚klassischen‘ Forschungsausrichtung und Feldkonstitution zu tun haben, ist die Feldkonstruktion bei Reimers durch den Entstehungskontext in der künstlerischen Forschung anders gelagert. Die Autorin hat (semi-)öffentliche gemeinsame Mahlzeiten nicht nur forschend besucht, sondern diese auch selbst ausgerichtet. Es ging ihr dabei um das „Format Forschungsdinner und die Erprobung von Praktiken wie Versammeln, Essen oder Kochen als Forschungsverfahren“ (Reimers, S. 27). Diese „kunst-informierte Ethnografie“ (Reimers, S. 28) wird dabei vor allem in der Logik des Graduierten Kollegs der Autorin verortet und die „Ess-Settings“ mit Bezug auf Rheinberger als Experimente beschrieben. Insgesamt werden in einem eigenen umfangreichen Abschnitt, dem „Katalog“, insgesamt elf solcher Ess-Settings beschrieben. Die Ausführungen zur Methode sind dabei vorbildlich transparent in Form eines Forschungstagebuchs gehalten, etwas zu kurz kommen dabei meines Erachtens Bezüge auf einschlägige Methodenliteratur. Kritisch betrachtet werden müsste auch, dass sich zu den analysierten Diskursmaterialien leider keine systematische Aufstellung des Materials findet, deren Zusammenstellung für die Leser:innen dadurch etwas willkürlich wirken kann. Mit diesen unkonventionellen methodischen Ausrichtungen untersuchen die Autorinnen die gesellschaftliche Institution der Mahlzeit, also die Arrangements des (zumeist) gemeinschaftlichen Essens. Der Faden, der sich dabei durch beide Bücher ziehen lässt, ist die Perspektive, dass jede Mahlzeit politisch ist. In beiden Arbeiten wird deutlich, dass sich an den in der Mahlzeit institutionalisierten Praktiken Mikropolitiken und Aushandlungen entlang des gesellschaftlichen Widerspruchs zwischen Produktion und Reproduktion untersuchen lassen. In der Ernährungssoziologie wurde breit herausgearbeitet, dass sich Essen und Ernährung „dem zentralen Vergesellschaftungsmechanismus moderner kapitalistischer Gesellschaften unter[ordnen]: der Erwerbsarbeit“ (Barlösius, 2011, S. 57). Reimers und von Mende vertiefen diese Erkenntnis in den Dimensionen Zeit, Raum und sozialen Identitäten.
Im Ergebnisteil bei von Mende wird der Zeitdimension der Essensarrangements großer Raum eingeräumt. Um „Zeitregime“ zu untersuchen, bezieht von Mende die Beschleunigungsthese von Hartmut Rosa auf die von ihr untersuchten Essenspraktiken. Sie kann zeigen, wie ausgehend von einer zunehmenden Loslösung des Essens von der Küche es zu einer „Handlungsverdichtung“ in Form von gleichzeitigem Essen und Arbeiten kommt, wobei ein größerer Anteil an eingenommenen Speisen im Arbeitskontext damit Produktion und Reproduktion ineinander verschmelzen lässt: „Die Arbeit wird zum Zuhause“ (von Mende, S. 356). Das Zeitbudget der Essenszubereitung und -einnahme wird durch Lohn- (und auch Care-)Arbeit „diktiert“ und damit pragmatisch ausgerichtet, um einer wahrgenommenen „Zeitnot“ zu entkommen. Die Folge der Beschleunigung, so von Mende ihren Bezug auf Rosa weiterführend, sei die Zunahme „transitorischen“ Essens, das „räumlich, zeitlich und auch in Bezug auf das Verhältnis zu den einbezogenen Gegenständen vom Vorübergehenden geprägt“ ist (von Mende, S. 328). Damit ist Snacken unterwegs, der Kaffee ‚to-go‘ und auch die Vorbereitung von Speisen, um sie andernorts – etwa am Arbeitsplatz – verzehren zu können gemeint. Die Autorin stellt dazu die These auf, dass durch transitorische Essenspraktiken „neue zeitliche Orientierungsmuster [entstehen], welche andere, wie die des Dreimahlzeitensystems, wohlmöglich ablösen“ (von Mende, S. 328). Der daran anknüpfende Befund, dass ‚transitorisches‘ Essen im Gegensatz zur ‚geregelten‘ Mahlzeit von den Interviewten negativ bewertet wird – obwohl sie es regelmäßig machen – ist sehr spannend und hätte hier etwas mehr Aufmerksamkeit verdient. Denn hinter dem Festhalten an den Normen der Mahlzeit steckt womöglich mehr. So drückt sich meines Erachtens in den Interviewpassagen einerseits die Verantwortungsverschiebung struktureller Anforderungen an die Individuen aus, denen der Umgang mit dem Widerspruch zwischen Produktion und Reproduktion auferlegt wird und Verfehlungen einer (wie auch immer gearteten) guten Ernährungspraxis ausschließlich bei sich und nicht im kapitalistischen System suchen. Andererseits wäre nochmals interessant zu fragen, wie das Dreimahlzeitensystem und damit verknüpfte Normen auch mit einer vergeschlechtlichten Sphärentrennung zusammenhängen – dem Thema widme ich mich weiter unten. Nachdem bei Reimers „außeralltägliche“ Mahlzeiten im Fokus sind, können ihre Ausführungen auch als entgegengesetzter Spiegel der alltäglichen Mahlzeit gelesen werden. Sie verbindet damit, dass bei den von ihr untersuchten Mahlzeiten das Soziale überwiege und Essen ein „notwendiges Nebenbei“ (Reimers, S. 296) wird. Die Spannungen, wenn Arbeit und Essen zusammenfallen werden daran diskutiert, dass ihre Ess-Settings zugleich der Nahrungsversorgung und der Wissensproduktion dienen. An einem Beispiel, welches auf einem wissenschaftlichen Kongress in der Mittagspause stattfindet, diskutiert die Autorin, dass die Kombination schnell in eine Überforderung kippen kann. Sie kommt hier zu der Konsequenz, dass „den zwei Aspekten Rekreation und Produktion ein ausreichender räumlicher und zeitlicher Rahmen eingeräumt“ werden müsse (Reimers, S. 299). Denkt man die Argumente der beiden Autorinnen zusammen, dann wird deutlich, dass Erwerbsarbeit und Essen in einem Wettstreit um die Zeit stehen. Essen erscheint dabei als ein Aspekt, der sich nicht vollends einer Marktlogik unterwerfen lässt – ein leerer Magen arbeitet nicht gut –, aber zunehmend in die Nischen des Lebens verdrängt wird.
Reimers hat in dem zuletzt diskutierten Zitat benannt, dass Zeit und Raum für Reproduktion notwendig sein müssten. Diese Räume – Küche und Essbereiche – sind darüber hinaus sehr stark symbolisch aufgeladene Orte. Die Autorin beschreibt die Küche als Ort, der „die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Erlebnis“ (Reimers, S. 168) in sich trägt. Dies zeigt sich auch in ihren Beobachtungen, wo die Küche zu einem Instrument wird, Menschen zusammenzubringen. Die Küche wird so nicht nur zu einem Raum, in dem Essen zubereitet wird, sondern der Zusammengehörigkeit(en) herstellt: So haben sich „frei stehende Kücheninseln bei den Settings in denen auch gekocht werden sollte, als Gemeinschaft ermöglichend erwiesen“ (Reimers, S. 289). Die symbolischen Zuschreibungen an Essensräume stehen bei von Mende im Zentrum der Aufmerksamkeit. So kann sie herausarbeiten, dass „die“ Küche als Ort der Essenszubereitung und -aufnahme nicht in dieser Einförmigkeit existiert, vielmehr ist sie „nur noch sehr bedingt Teil der gegenwärtigen Essenspraktik“ (von Mende, S. 161). Die Autorin kann eine ganze Reihe an unterschiedlichen Zuschreibungen und Nutzungspraktiken identifizieren, die mit dem Raum der Küche verbunden sind, etwa Arbeitsraum, Lebensraum, aber auch Repräsentationsraum. Aufgrund der vielfältigen Räume, die die Küche darstellen kann und dem Phänomen, dass diese häufig „im Alltag kalt bleiben“ (von Mende, S. 164), kritisiert von Mende die Akteur-Netzwerk-Theorie dafür, dass hierbei das Risiko bestehe, dass der Herd als wichtiges Objekt nicht mehr als Aktant des Netzwerks vorkomme. Von Mende kommt dadurch zu einer vielversprechenden theoretischen Lösung: Mit Erving Goffman interpretiert sie folglich die Küche als Rahmen, das bedeutet, die „Bedeutungszuweisungen über die Gegenstände können [...] in der Erfüllung unausgesprochener Normen Verhaltensmuster und Rollenzuweisungen in Gang setzen“ (von Mende, S. 165). Von Mende legt dar, wie sich in einem Fall die Küche von der klassischen Position der Hinterbühne in einem Büro zu einer „Frontstage“ entwickelt: Ein Befragter hat in seinem Büro eine Küche ohne Herd bewusst strategisch geplant, um einen bestimmten Ort zu schaffen, der „WorkLife-Blending“ ermöglicht; die Autorin folgert daraus, dass es hier „ähnlich einem Bühnenbild“ (von Mende, S. 190) um die Erzeugung einer Atmosphäre gehe. In der Frage, wie die Küchen als Rahmen fungieren ergänzen die isometrischen Zeichnungen die Beschreibungen bei von Mende und als Leser:in wird man quasi in die Küchen mitgenommen. Die Küche einer Befragten, die diese hauptsächlich zur Nutzung des Laptops nutzt, da hier der Esstisch stehe, wird mit spezifischen Details abgebildet, etwa, dass ein alte Kochmaschine hauptsächlich zur Lagerung von Müll dient (von Mende, S. 207). Der hieraus abgeleitete Befund ist die „Gleichzeitigkeit von Festhalten und Wegwerfen“ (von Mende, S. 332): Mit dem Begriff der „Bricolage“ (Lévi-Strauss) beschreibt die Autorin, wie sich die Akteur:innen in ihrer Studie einerseits an gewohnten Objekten festhalten, obwohl sie nicht (mehr) für ihre ursprüngliche Verwendung gebraucht werden (wie eine unbenutzte Mikrowelle). Andererseits, so von Mende, werden wiederum diese Objekte aber auch als Provisorien in neue Praktiken integriert und gegebenenfalls ausgetauscht. Ein spannender, beide Arbeiten übergreifende Befund ist, dass die Küche als eine Sozialtechnologie strategisch eingesetzt werden kann, indem damit Gemeinschaft der in der Küche versammelten hergestellt wird.
Erving Goffmans Theatermetapher findet sich bei beiden Autorinnen. Essen, bzw. Essräume werden als Orte der Inszenierung sozialer Positionen beschrieben. Reimers sieht die nicht-alltägliche Mahlzeit als Ort, indem informell Kontakte geknüpft werden und „Beziehungsarbeit ‚performt‘“ (Reimers, S. 240) wird. Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu, Ausschlüsse durch (informelle) Regeln werden in diesem Zuge inszeniert. Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Reimers hier hervorhebt ist, dass Akteur:innen, die in ihrem Sample ästhetische und ethische Überzeugungen verbinden, um „ein gesellschaftliches Programm“ (Reimers, S. 270) zu verfolgen. Womit einerseits auch das Gegessene politisch wird, andererseits ein „singularistischer“ Lebensstil demonstriert wird, wie Reimers mit Bezug auf Reckwitz argumentiert (Reimers, S. 269). Implizit kommt dabei eine Kritik an den Praktiken der von ihr untersuchten Akteur:innen durch, denen Sie im Fall eines Ess-Settings mit Refugees unterstellt, ihr hedonistisches Bedürfnis zu befriedigen. Es gehe den Teilnehmer:innen darum, „einen Einblick in die Geflüchtetenarbeit zu bekommen, und sie sind dabei auf der Suche nach besonderen Erfahrungen“ (Reimers, S. 271). Die oben bereits angedeutete Inszenierung von Geschlechterkonstruktionen, die mit Essenspraktiken verbunden sind, finden sich vielfach in beiden Arbeiten. Dies ist wenig überraschend, wenn man die vergeschlechtlichte Zuweisung von Produktions- und Reproduktionsarbeit bedenkt. Ein wesentlicher Aspekt, der auch bereits vielfach in der Geschlechterforschung hervorgehoben wurde (z. B. Setzwein, 2004, S. 199), ist, dass Kochen grundsätzlich in alltägliches Kochen als Carearbeit und außeralltägliches Kochen zu differenzieren ist. Eine Teilnehmerin eines Ess-Settings bei Reimers berichtet, dass Einladungen zum Essen bei Männern immer „mit so ner Nummer, 45 Minuten“ (Reimers, S. 275) anfangen, in denen die Männer ihren Gästen von ihren vollzogenen Kochkünsten berichten würden. Männliches Kochen, so die Autorin, wird „in besonderer Runde eingenommen und von den Essenden und Kochenden offensiv gelobt und besprochen“ (Reimers, S. 276). Ähnliches kann sie auch anhand eines Radiobeitrags beschreiben: Offenes Feuer wird „als außeralltägliches Abenteuer im Sinne einer Rückbesinnung stilisiert und dabei zum Beispiel beim Grillen eher männlich konnotiert“ (Reimers, S. 170). Von Mende führt diese Geschlechterkonnotationen mit einer räumlichen Dimension zusammen. Sie führt dazu die Unterscheidung der Küche als „Lebens- oder Arbeitsraum“ (von Mende, S. 171) ein. Ihre Bemerkung, dass die Vergeschlechtlichung über die Raumzuschreibungen sichtbar wird, während andere „Rollenzuschreibungen“ und Differenzierungen nicht expliziert oder sprachlich „verdeckt“ werden. Die Küche wird „aus männlicher Perspektive ‚professionell‘ als ‚Arbeitsraum‘, aus weiblicher Perspektive selbstverständlich als ‚Lebensraum‘“ beschrieben. Die Küche als „Lebensraum“, so argumentiert von Mende, sei „ein geschützter, geschlechtlich konnotierter Rückzugsort“ (von Mende, S. 173–177). Die Autorin zeigt aber, dass die Zuschreibungen durchaus variieren und stark kontextabhängig sind. Spannend ist jedenfalls der Hinweis auf die Planungsleitfäden, die die Küche als „rationalisierten Arbeitsraum“ konzipieren würden (von Mende, S. 177). Eine tiefergehende Analyse dieser Wissensbestände erscheint als lohnendes Unterfangen. Zusammengenommen zeigen beide Arbeiten, dass die Mahlzeit als soziale Institution von vielfältigen Identitätskonstruktionen und damit verbundenen Hierarchisierungen durchzogen ist. Auch wenn es nicht das Thema der beiden Bücher ist, wären hier weiter tiefgehende Analysen interessant – wie stellen Küchen und Mahlzeiten einen Rahmen für Praktiken des ‚doing gender‘ dar? – wäre so eine spannende Weiterführung beider Arbeiten.
Welche Gewinne lassen sich also aus den beiden Arbeiten abschließend ziehen? Beide Arbeiten zeichnen sich vor allem durch ihre jeweils innovativen Methodologien aus, die in dieser Form als bereichernd für die Soziologie des Essens und der Ernährung angesehen werden können. Die isometrischen Zeichnungen bei von Mende sind ihrem Anspruch nach mehr als Illustrationen, sondern auch ein eigenständiges Forschungsergebnis. Aus soziologischer Perspektive können die Zeichnung als fruchtbare Ergänzung betrachtet werden. Durch die Zeichnungen erhalten die Ausführungen eine räumliche Erfahrbarkeit und die Küchen werden vergleichbar. Hierbei hat die Autorin das Potential dieser Methodenkombination meines Erachtens nicht zur Gänze ausgeschöpft, ich hätte hier öfter im Text eine ausführlichere Diskussion der Zeichnungen und Vergleiche zwischen diesen gewünscht. Denkbar wären hier auch weiterführend die Kombination der isometrischen, objektivierten Zeichnung und weiterer Methoden der Stadt- und Raumforschung, wie „mental maps“ (Lynch, 1960), also Zeichnungen aus der Erinnerung der Befragten, woraus subjektive Relevanzsetzungen sichtbar würden. Die Arbeit am Essen „als Methode“ von Reimers ist ein sehr gut nachvollziehbares Abtasten der Möglichkeiten, Kochen und Essen selbst als epistemische Praxis zu verstehen und dies in eine Ethnografie zu integrieren. Da die Arbeit nicht in der Soziologie verortet ist, ist auch die Beschreibung der Methode und der Analyse im Stil eines Forschungstagebuchs, das nur wenig (vor allem im Fazit) in der Methodenliteratur verankert ist, verständlich. Für eine soziologische Adaption wären hier demnach noch weitere Schritte der Methodenentwicklung zu gehen. Das Buch von Reimers gestaltet sich auch vom Aufbau her unkonventionell, an der Seite sind viele Querverweise innerhalb des Buches angegeben, denen die Leser:innen folgen können; leider leidet der rote Faden der Arbeit etwas darunter. Insgesamt zeigt sich an beiden Arbeiten eindrucksvoll die Vielschichtigkeit des Themas und wie innovative Forschungsdesigns bei dessen Erforschung helfen können. Beide Bücher können demnach als wertvoller Beitrag für die Soziologie des Essens gesehen werden.
Literatur
Barlösius, E. (2011). Soziologie des Essens: Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung (2. Aufl.). Juventa. [Erstveröffentlichung 1999].Search in Google Scholar
Brunner, K.‑M. (2000). Soziologie der Ernährung und des Essens – die Formierung eines Forschungsfeldes? Soziologische Revue, 23(2), 173–184.10.1524/srsr.2000.23.2.173Search in Google Scholar
Lynch, K. (1960). The image of the city. MIT Press. Search in Google Scholar
Mann, A., Mol, A., Satalkar, P., Savirani, A., Selim, N., Sur, M. & Yates-Duerr, E. (2011). Mixing methods, tasting fingers: Notes on an ethnographic experiment. HAU: Journal of Ethnographic Theory, 1(1), 221–243. https://doi.org/10.14318/hau1.1.00910.14318/hau1.1.009Search in Google Scholar
Mol, A. (2011). Tasting Food. In F. E. Mascia-Lees (Hrsg.), A companion to the anthropology of the body and embodiment (Bd. 21, S. 467–480). Wiley-Blackwell. https://doi.org/10.1002/9781444340488.ch2710.1002/9781444340488.ch27Search in Google Scholar
Peter, C. (2010). Soziologie des Essens. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 62(2), 355–360. https://doi.org/10.1007/s11577-010-0104-310.1007/s11577-010-0104-3Search in Google Scholar
Setzwein, M. (2004). Ernährung – Körper – Geschlecht: Zur sozialen Konstruktion von Geschlecht im kulinarischen Kontext. VS Verlag für Sozialwissenschaften.10.1007/978-3-322-80997-1Search in Google Scholar
© 2023 Martin Winter, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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