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Die Neubestimmung der sozialen Frage im Licht globaler Migration

Thomas Faist, Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2022, 400 S., gb., 32,00 €
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Published/Copyright: July 21, 2023
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Thomas Faist, Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2022, 400 S., gb., 32,00 €


Im Jahr 1781 bricht Johann Gottfried Seume sein Studium in Leipzig ab und beschließt nach Paris zu wandern. Er kommt allerdings nicht weit. Bei Eisenach wird er von den Häschern des Landgrafen Friedrich II. von Hessen-Kassel entführt und der englischen Krone verkauft, um im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu kämpfen.[1] Wäre der Schriftsteller ein Vierteljahrtausend später geboren, wäre ihm auf seiner Reise nicht nur die Verhaftung erspart geblieben, er hätte nicht einmal seinen Pass an den zahllosen Grenzen vorzeigen, geschweige denn sich Visa besorgen müssen. Weil er Europäer ist. Yonas ist 250 Jahre später geboren und kein Europäer. Auf der Flucht vor Zwangsrekrutierung zum Militär und auf dem Weg nach Europa wird er 2019 für ein halbes Jahr in Libyen, einem Kooperationspartner der EU-Migrationskontrolle, festgehalten und zu Arbeit auf dem Bau gezwungen.[2]

Die Schicksale von Johann Gottfried und Yonas illustrieren zweierlei. Zum einen hat sich in den letzten 250 Jahren Vieles in der europäischen Migrationspolitik verändert. Grenzen wurden neu gezogen und Pässe eingeführt. Das nach dem Zweiten Weltkrieg begonnene Projekt der supranationalen Integration in der Europäischen Union (EU) hat die Bewegungsfreiheit revolutioniert. Grenzkontrollen wurden durch Schengen weitgehend aufgehoben und die freie Wohnortwahl innerhalb Europas für Arbeitskräfte ermöglicht. Zum anderen geschahen diese weitreichenden Migrationserleichterungen innerhalb der EU um den Preis der Migrationserschwernis für Personen, die von außerhalb in die EU kommen möchten, sogenannte Drittstaatsangehörige. Nationale Wohlfahrtsstaaten gewähren der (arbeitenden) Wohnbevölkerung soziale Rechte. Wer die Festung Europa betreten möchte, muss aber mit Zurückweisung bereits in den Nachbarstaaten der EU rechnen, die zu Partnern der Festungssicherung gemacht wurden. Liberalisierung nach innen und Abgrenzung nach außen erscheinen also als zwei Seiten der gleichen Medaille.

In seinem Buch Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert setzt Thomas Faist sich mit den Paradoxien auseinander, die durch Öffnung und Schließung im Kontext von Migration entstehen. Migration lässt sich von den Ursachen ausgehend denken oder von den Folgen; Ursachen und Folgen lassen sich sowohl ausgehend von den Herkunftsländern als auch ausgehend von den Zielländern denken. Die Forschung zu Migration bezieht sich meist wahlweise auf einen dieser Aspekte, z. B. auf die Folgen von Migration für die wirtschaftliche Entwicklung der Herkunftsländer. Thomas Faist wagt einen umfassenden Blick auf die Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit in den Herkunftsländern, transnationaler Migration, der sozialen Frage in den Zielländern und der globalen sozialen Frage und greift dabei auch auf seine eigene weitreichende Forschung der letzten Jahrzehnte zurück. Die Literaturen in jedem einzelnen dieser Bereiche sind umfangreich und ihre Verbindung ist anspruchsvoll. Auch zeitlich spannt Faist den Bogen weit von der Industrialisierung bis in die Gegenwart mit einem Blinzeln in die Zukunft. Räumlich geht er von globaler Migration aus, beschränkt sich im Verlauf des Buches aber weitgehend auf Migration aus dem (sogenannten) Globalen Süden in europäische Wohlfahrtsstaaten.

Thomas Faist gibt dabei wichtige Impulse für wissenschaftliche und öffentliche Diskurse. Ich konzentriere mich im Folgenden auf vier zentrale Diskussionsbeiträge des Buches. Erstens analysiert Thomas Faist die potenziell perpetuierende Wechselwirkung zwischen sozialer Ungleichheit in den Herkunftsländern und Migration sowie die ökonomischen, politischen und kulturellen Konsequenzen in den Zielländern (S. 38). Zweitens beschreibt er die die Verlagerung der sozialen Frage seit dem 19. Jahrhundert. Statt um Ressourcenkonflikte innerhalb nationaler Grenzen geht es heute um die Ressourcenverteilung zwischen nationalen Wohlfahrtsstaaten in der OECD-Welt auf der einen Seite und außerhalb der Mitgliedschaft stehenden Gruppen, die sich von den Vorteilen der Globalisierung ausgeschlossen wahrnehmen auf der anderen Seite (S. 84). Drittens zeigt er Paradoxien in den Herkunfts- und Zielländern auf, die aus ihren spezifischen politischen Zielen resultieren (S. 197–271). Viertens liefert er Orientierungshilfe für Wissenschaft und Politik. Migrationsforscher:innen zeigt er verschiedene Rolleninterpretationen im Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit auf (S. 303–328). Zum politischen Diskurs macht er zehn Vorschläge, wie Migration in Zukunft fair gestaltet werden kann. Als nächstes werde ich diese vier zentralen Beiträge jeweils vorstellen und diskutieren und abschließend einige generelle Überlegungen zu Exit anstellen.

Migration und soziale Ungleichheit

Der erste Diskussionsbeitrag liefert zugleich Antworten auf die im Titel gestellte Frage nach den Gründen von Migration. Schon auf der ersten Seite erfahren wir die wesentlichen Gründe von ‚Exit‘: die Hoffnung auf verbesserte Lebensbedingungen und die Aussicht, Verfolgung und Gewalt zu entkommen (S. 9). Soziale Ungleichheit ist somit ein zentraler Grund, warum Menschen aufbrechen. Der Anteil weltweiter Migration von Entwicklungsländern in entwickelte Länder ist dabei laut Weltbank mit 32 % etwa genauso hoch wie der Anteil zwischen Entwicklungsländern (34 %) (S. 19). Ausgehend von ökonomischen und strukturalistischen Theorien der Migration und dem Konzept kumulativer Verursachung zeigt Thomas Faist, dass es durchschnittlich nicht die ärmsten Personen in den Herkunftsländern sind, die migrieren, sondern Personen die über ausreichend Ressourcen verfügen (S. 46–54). Das gilt insbesondere für interkontinentale Migration, die im Vergleich zu anderen Varianten wie staatsinterner und intraregionaler Migration besonders voraussetzungsvoll ist. Eine wichtige Implikation ergibt sich daraus für die Rücküberweisungen. Die Familien, die ohnehin schon besser ausgestattet sind, können ihre ökonomische Situation und ihren politischen Einfluss im Herkunftsland noch ausbauen (S. 62–71). Aus makroökonomischer Sicht besteht zudem die Gefahr, dass (hoch)-qualifizierte Personen dauerhaft abwandern und der Volkswirtschaft fehlen. Thomas Faist schlussfolgert daher, dass Migration zwar individuelle Verbesserungen bringt, aber kein Gleichmacher hinsichtlich grundlegender sozialer Ungleichheiten ist (S. 71).

Der erste Beitrag des Buches liefert eine sorgfältige Analyse des Zusammenspiels der ökonomischen und politischen Implikationen von Migration. Nicht nur ökonomisch ziehen die Familien Profit aus Migration, die ohnehin schon bessergestellt sind, sondern es wird auch ihr politischer Einfluss gestärkt, indem sie Investitionen tätigen können, wo öffentliche Leistungen fehlen. Demnach ist nicht-Migration nicht unbedingt ein Zeichen von Loyalität oder des politischen Kampfs für Veränderung, sondern kann ebenso gut ein Zeichen fehlender Mittel für ‚Exit‘ sein (Hirschman, 1978). Wichtig daran ist also die Feststellung, dass Migration auch wenn sie individuelle Vorteile bringt, keine kollektive Umverteilungslösung ist. Dieses weitreichende Urteil würde von einer Benennung der Reichweite profitieren. Es wird jedoch nur implizit klar, mit welchem Ausschnitt internationaler Migration sich das Buch auseinandersetzt. Die Einleitung suggeriert noch, dass es um globale Migration insgesamt, also Migration innerhalb entwickelter und weniger entwickelter Regionen, sowie zwischen ihnen gehen wird. Zunehmend wird das Argument dann aber doch auf Migration aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden, und hier insbesondere in die europäischen Wohlfahrtsstaaten, verengt. Wie die Einleitung des Buches verdeutlicht, ist „Süd-Nord“ allerdings nur ein Ausschnitt globaler Migration.

Die Frage ob internationale Migration zur Verringerung von Ungleichheiten beitragen kann, müsste ja vielleicht für Migration innerhalb entwickelter und innerhalb weniger entwickelter Regionen jeweils anders beantwortet werden als für die von Thomas Faist untersuchte „Süd-Nord“-Migration. Die Forschung zur internationalen Migration innerhalb entwickelter Staaten deutet beispielsweise auf ähnliche Tendenzen. Auch hier findet eine positive Selektion statt und die Migrant:innen profitieren ökonomisch von ihrer internationalen Mobilität (z. B. Birgier et al., 2022; Erlinghagen et al., 2021), was potenziell zur Vergrößerung sozialer Ungleichheit beiträgt. Ob sich diese ökonomischen Vorteile in politischen Einfluss übersetzen, ist allerdings nicht untersucht. Eine umfassendere Berücksichtigung der unterschiedlichen globalen Migrationskontexte jenseits von „Süd-Nord“, oder aber eine explizite Einordnung und Benennung der Reichweite, wäre daher wichtig gewesen. Positiv gesprochen eröffnen sich neue Forschungsfragen hinsichtlich der Übertragbarkeit von Faists Überlegungen auf andere Kontexte, beispielsweise auf die Migration zwischen asiatischen und arabischen Staaten.

Die transnationalisierte soziale Frage

Der zweite Beitrag von Thomas Faist ist die historische Perspektive auf die soziale Frage. Er spannt den Bogen vom Konflikt zwischen Proletariat und Bourgeoisie im 19. Jahrhundert zum Konflikt des 21. Jahrhunderts zwischen der im globalen Maßstab reichen Bevölkerung nationaler Wohlfahrtsstaaten des Globalen Nordens und der relativ armen Bevölkerung im Globalen Süden (S. 89). Die transnationalisierte soziale Frage von globaler Ressourcenverteilung und Klimaanpassung entwickelte sich dabei in drei Phasen von einer ersten Globalisierung durch Industrialisierung im 19. Jahrhundert über die relative De-Globalisierung nach dem Ersten Weltkrieg durch Expansion nationaler Wohlfahrtsstaaten zur von Marktliberalisierung geprägten zweiten Globalisierung der Moderne seit den 1970er Jahren (S. 90–97). In der ersten Phase wurden zivile und politische Rechte durch soziale Rechte ergänzt, in der zweiten Phase wurde der nationale Charakter der Wohlfahrt gestärkt und nicht-Mitglieder exkludiert und in der dritten Phase wurde multi- und supranationale Kooperation im Wirtschaftsbereich gestärkt, während der soziale Bereich national blieb.

Parallel dazu verliefen stark verkürzt drei Phasen der Migrationskontrolle, beginnend mit liberaler Immigrationskontrolle im transatlantischen Raum und europäischer Massenauswanderung zwischen den 1880er Jahren und 1914. Die zweite Phase war demgegenüber von restriktiveren Kontrollen transnationaler Migrationsbewegungen in zunehmend ausgebauten Wohlfahrtsstaaten geprägt. In der dritten Phase, seit den 1980er Jahren, steht die zunehmend selektive Regulierung von Einwanderung nach ökonomischen Kriterien. Im Wettbewerb um die besten Köpfe werden Hochqualifizierte hofiert, Niedrigqualifizierte degoutiert und vor Krieg Geflüchtete bestenfalls toleriert.

Die politische Bedeutung kultureller Verschiedenheit wandelte sich im Zeitverlauf. In der ersten Phase wurden Klassen national definiert. Faist verweist hier auf das Missverhältnis zwischen internationalistischer Rhetorik der Arbeiterbewegung und rassistisch-nationalistisch durchwirkter Praxis (S. 108). In der zweiten Phase nach dem Ersten Weltkrieg wurden nationalistische Tendenzen bei steigender sozialer Sicherung verstärkt. Seit den 19070er Jahren wurden in einer dritten Phase Klasseninteressen durch Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse geschwächt. Den Herausforderungen kultureller Vielfalt wird nicht primär vom Wohlfahrtsstaat begegnet, sondern vom regulativen Nationalstaat. Statt um Umverteilung geht es nun zunehmend um Anerkennung. Auch die Theorieentwicklung spiegelt die zunehmende Ergänzung von Klassenfragen durch kulturelle Fragen. In nationalen politischen Arenen muss Migration nicht selten als greifbares Meta-Problem für die aus der globalen ökonomischen Neuordnung entstehenden Herausforderungen herhalten. Auf zwischenstaatlicher Ebene argumentiert Faist am Beispiel Europas, dass soziale Ungleichheit ohne supranationale Sozialpolitik nicht zufriedenstellend bearbeitet werden kann.

Der zweite Beitrag liefert eine gut lesbare Einordnung von parallelen Entwicklungen in den Bereichen internationaler Migration und sozialen Ausgleichs. Die Frage, warum wir nun ins 19. Jahrhundert zurückgehen müssen, um die soziale Frage im 21. Jahrhundert zu verstehen, erschließt sich allerdings nicht unmittelbar. Angesichts der historischen Perspektive könnte man bei der Beobachtung, dass vertikale Konflikte später durch horizontale Konflikte ergänzt werden oder dass das sozialpolitische Regime der EU nicht mit dem finanzpolitischen Regime schritthält auch einige Fortschritte feststellen. So bauen horizontale Konflikte potenziell auf staatsbürgerlicher Eingliederung auf und das EU-Mobilitätsregime darf man bei aller berechtigten Kritik an mangelnder sozialpolitischer Unterfütterung dennoch als bedeutende historische Entwicklung sehen.

Abgesehen von diesen Fragen der historischen Einordnung gerät das im Titel gemachte Versprechen, die Frage zu beantworten, warum Menschen aufbrechen, bei der Beschreibung des Nexus aus sozialer Frage und Migration etwas aus dem Blick. Aus meiner Sicht ist das Warum des Exits aber auch nicht die Kernbotschaft des Buches. Vielmehr erkundet Faist inwiefern internationale Migration uns die Herausforderungen globaler sozialer Ungleichheit vor Augen führt und wie internationale Migration so gestaltet werden kann, dass globale soziale Ungleichheit verringert wird (Faist, 2019). Diese Fragen sind wichtig für ein besseres Verständnis von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen in der internationalen Migration und für Richtungsbestimmungen der Migrationspolitik. Für die Allgemeinverständlichkeit wäre es zuträglich gewesen, wenn die Kernfragen etwas klarer benannt und systematischer abgearbeitet würden. Die Antworten auf die Fragen wären dann leichter nachvollziehbar, zumal das Buch sich ja auch an die interessierte Öffentlichkeit wendet.

Politische Widersprüchlichkeiten

Der dritte Beitrag des Buches ist die Offenlegung der widersprüchlichen Interessen im Bereich Migration, sowohl von Zielländern als auch von Herkunftsländern anhand von vier Paradoxa. Beide, Zielländer und Herkunftsländer, wollen den Nutzen ohne die aus ihrer Sicht negativen Konsequenzen. Aus Sicht der Zielländer wird das durch das Wohlfahrtsparadox und das Rechtsstaatsparadox beschrieben (S. 234–271). Das Wohlfahrtsparadox beschreibt den Umstand, dass die ökonomische Öffnung nach außen mit der politischen Schließung nach Innen einhergeht. Denn der national gedachte Wohlfahrtsstaat ist ohne die politische Schließung nicht möglich. Das Rechtsstaatsparadox beschreibt das Spannungsverhältnis von einem möglichen Abschluss nach außen und dem unmöglichen Abschluss nach innen, weil allein der Aufenthalt in liberal-demokratischen Staaten ein Minimum an Rechten und Teilhabe für Migrant:innen impliziert.

Aus Sicht der Emigration aus Herkunftsländern beschreiben das Entwicklungsparadox und das nationale Paradox die Zielkonflikte. Das Entwicklungsparadox entsteht aus Weltmarktintegration auf der einen Seite und nationaler Protektion auf der anderen Seite (S. 200–233). Herkunftsstaaten profitieren zwar potenziell von Rücküberweisungen und Wissenstransfer, müssen sich aber gegen die Gefahr von „brain drain“ wappnen. Zuletzt beschreibt das nationale Paradox die Spannung zwischen gewünschter Diaspora zur sozio-kulturellen Anbindung an das Herkunftsland in transnationalen Räumen und potenziellen politischen Konflikten mit Oppositionellen im Exil. Diese vier Paradoxa zeigen, wie die Implikationen von Emigration und Immigration zusammengedacht werden können und beschreiben die inneren Widersprüche nationaler Interessen hinsichtlich internationaler Migration.

Die Paradoxa erlauben uns ein tieferes Verständnis vorgefundener und manchmal widersprüchlicher Politiken. Grundsätzlich zeigt das Buch uns viele Aspekte von transnationaler Migration, die soziale Ungleichheit vergrößern oder Konflikte verursachen und blickt seltener auf ungleichheitsvermindernde und konfliktvermeidende Folgen. Thomas Faists Schablone für faire Migration, im Abschnitt über das Entwicklungsparadox, ist daher besonders bemerkenswert: Das Triple-WinProjekt der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit berücksichtigt alle drei Seiten, also Immigrationsstaat, Emigrationsstaat und Migrant:innen (S. 204–210). Es kombiniert wettbewerbsstaatliche, entwicklungsstaatliche und Rechte-basierte Elemente. Im Kern geht es in diesem Projekt um die Anwerbung von Pflegekräften auf den Philippinen für den deutschen Arbeitsmarkt zur Behebung von Arbeitslosigkeit respektive Fachkräftemangel. Auch hier konnte der Anspruch fairer Migration jedoch nicht eingelöst werden, u. a. weil das Projekt auf den Philippinen Fachkräftemangel verursachte. Ebenfalls spannend sind Faists Gedanken zu Rücküberweisungen. So weist er auf die kontrazyklische Wirkung, beispielsweise während der Covid-19 Pandemie, hin, die als unintendierte Folge steigender Rücküberweisungen nationalen Regierungen die Möglichkeit gab, sich aus der Verantwortung für soziale Sicherung zu stehlen. Interessant wäre im Kontext der Rücküberweisungen, ob es (historische) Beispiele für gelungene Entwicklung dank solcher Transfers und anknüpfender Investitionen gibt.

Das Verhältnis von Forschung zu Politik und Öffentlichkeit

Den vierten Diskussionsbeitrag bieten Thomas Faists Orientierungshilfen im Verhältnis von Migrationsforschung und politischer Öffentlichkeit. Er definiert drei idealtypische Rollen, die Migrationsforscher:innen im Verhältnis zu Politik und Öffentlichkeit übernehmen können: Expertise, Advokatentum und öffentliches Intellektuellentum. Unter Expertise versteht er Beratung durch die Bereitstellung instrumentellen Wissens zur Problemlösung, beispielsweise durch NGOs wie den Weltklimarat oder den deutschen Sachverständigenrat für Integration und Migration. Eine Gefahr von Expertisen ist die Simplifizierung, die dann keine passenden Antworten mehr für komplexe Entwicklungen gibt. Als Advokatentum bezeichnet er die parteiische Vermittlung problemorientierten Wissens mit dem Ziel sozialen Wandels. Hier gerät allerdings der unabhängige Blick der Forschenden auf den Untersuchungsgegenstand in Gefahr. Öffentliche Intellektuelle, schließlich, stellen reflexives Wissen bereit, um zu einer informierten Debatte beizutragen. Zur Überzeugung nutzen sie ihre Reputation als Kritiker:innen und Mahner:innen. Thomas Faist bekennt sich vorsichtig zum dritten Typus, wenn er im darauffolgenden Abschnitt Mehrbedarf an reflexivem Wissen feststellt. Die Idee von fairer Migration hebt er als ein gutes Beispiel reflexiven Wissens hervor, bietet an dieser Stelle allerdings weder Referenzen noch eine klare Definition an (S. 316–317). Der früher gemachte Verweis auf ein wünschenswertes Triple-Win ist aber zumindest ein wertvoller Anhaltspunkt.

Mit seinen abschließenden zehn Thesen will Thomas Faist Denkanstöße für den politischen Diskurs um Migration geben (S. 316–328). Ich nenne im Folgenden beispielhaft fünf dieser Ideen, die mir spannend erscheinen. Erstens schlägt er die Förderung internationaler Mobilität durch bi- und multilaterale Verträge vor. Zur besseren Koordination der Verfahren zur Regulierung von Migration und der Verteilung ihrer Früchte möchte er ein Parlament der Migration und Flucht einrichten. Teil solch eines Parlaments wären nicht nur Regierungen sondern auch internationale Organisationen, Migrant:innen und von ihnen gebildete zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse. Zweitens plädiert er für eine finanzielle Kompensation von Herkunftsländern durch Zielländer. Dies gilt insbesondere für die Abwanderung von Fachkräften, da sie erhebliche Investitionen seitens der Herkunftsländer voraussetzen. Drittens empfiehlt er eine Abkehr von Fluchtursachenbekämpfung und rät zur Eröffnung legaler Migrationspfade. Viertens verweist er auf unfaire Handelspolitiken, beispielsweise bei durch Subventionen in der EU billig produzierten Agrarprodukten, die afrikanische Märkte zerstören. Fünftens, fordert Thomas Faist die Schaffung menschenwürdiger Lebensverhältnisse für Geflüchtete, die teils über Jahrzehnte in Lagern und mit unsicheren Zukunftsperspektiven leben. Angesichts versperrter Wege sowohl in Herkunftsländer als auch in potenzielle Aufnahmegesellschaften plädiert er für die Utopie einer transnationalen Polis für Geflüchtete (Cohen & Van Hear, 2020). Dieses auf der Welt gleich einem Archipel verstreute staatsähnliche Gebilde, gewährt interne Mobilitätsrechte und ist durch lokale und globale Parlamente selbstverwaltet. Refugia, so der Name dieser Utopie, finanziert sich aus Rücküberweisungen und entrichtet Steuern an die Staaten, die derartige Ansiedlungen auf ihrem Territorium erlauben. Faist weist allerdings auch auf abzusehende Schwierigkeiten insbesondere der kollektiven Identität in Refugia hin.

Die erfrischenden Thesen zu Migration sind eines der Hauptverdienste dieses Buches. Sie sind geeignet, der öffentlichen Debatte um Migration und ihre Ungleichheitsimplikationen neue Impulse zu verleihen. Mehr als eine dieser Thesen mutet utopisch an. Aber Thomas Faist hat vermutlich Recht, wenn er feststellt, dass die massiven und anhaltenden Probleme nach eben solchen Lösungen rufen. Abgesehen von der problematischen Situation in griechischen Flüchtlingslagern, bestehen Lager anderswo seit Jahrzehnten, beispielsweise in Palästina oder dem Sudan, und wieder andere haben so viele Einwohner:innen wie deutsche Großstädte, beispielsweise zwischen Myanmar und Bangladesch. Auch der Verweis auf unfaire Handelspolitiken ist wichtig und könnte aus meiner Sicht sogar mehr Beachtung bekommen. Das Beispiel ghanaischer Tomatenbauern und -bäuerinnen, die vor billigem europäischem Tomatenmark kapitulieren, und am Ende auf italienischen Tomatenfarmen ausgebeutet werden[3] illustriert allzu gut, wie eng Migration und soziale Ungleichheit in Herkunfts- und Zielländern und zwischen Herkunfts- und Zielländern zusammenhängen. Nicht zuletzt verdeutlichen die Thesen, dass eine umfassende Antwort auf die Herausforderungen um globale soziale Ungleichheit und internationale Migration politisches Handeln jenseits von Nationalstaaten erforderlich macht.

In seinem Buch Exit bildet Thomas Faist internationale Migration in ihren Ursachen und Folgen in Herkunfts- und Zielländern ab. Er verarbeitet und verbindet dabei Literaturen in beeindruckendem Umfang. Die Verbindung dieser Literaturen bietet viele wertvolle Einsichten, wirft neue Fragen auf und lässt unvermeidlich auch einige Leerstellen und unbeantwortete Fragen zurück. Vor dem Umfang der verwendeten Literatur ist es verständlich, dass einige Literaturen beispielsweise zu globaler Ungleichheit (Ho-Fung Hung et al., 2021; Weiß, 2017) oder globaler Sozialpolitik (Deacon & Stubbs, 2013; Yeates & Holden, 2022) nicht umfänglich diskutiert werden können. Wie umfangreich Faists Forschungsagenda ohnehin schon ist, zeigt nicht zuletzt der lesenswerte Exkurs zur Klimamigration, der an die Gleichzeitigkeit von menschlicher und ökologischer Ausbeutung im industriellen Kapitalismus erinnert. Die zentrale Einsicht des Buches ist aber, dass Umverteilungsprobleme auf globaler Ebene nach Lösungen jenseits nationalstaatlicher Grenzen verlangen. Globale Migration, selbst da wo sie individuell vorteilhaft ist, scheint nicht geeignet, die transnationalisierte soziale Frage zu lösen, aber könnte zumindest zu einer Lösung beitragen, wenn sie fair ausgestaltet würde.

Literatur

Birgier, D. P., Lundh, C., Haberfeld, Y., & Elldér, E. (2022). Movers and Stayers: A Study of Emigration from Sweden 1993–2014. European Journal of Population, 38(5), 1033–1064. https://doi.org/10.1007/s10680-022-09634-310.1007/s10680-022-09634-3Search in Google Scholar

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Online erschienen: 2023-07-21
Erschienen im Druck: 2023-07-31

© 2023 Nils Witte, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Die Transnationale Soziale Frage. Anmerkungen zu Thomas Faists ‚Exit‘
  6. Staatsbürgerschaft und die Transnationalisierung der sozialen Frage. Eine Reflexion über Thomas Faists Buch „Exit“
  7. Die Neubestimmung der sozialen Frage im Licht globaler Migration
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  33. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2037/html
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